eine nützliche Stärkung meines Gedächtnisses eine geordnete Zusammenstellung der Hauptgedanken an und bin somit gezwungen, diese Form der Darstellung zu verwenden.
3. Es gibt nun freilich manches, was wir nicht einmal in der Erinnerung festhalten konnten (denn vielseitig war die Begabung jener seligen Männer), manches, was, obwohl unaufgezeichnet, doch erhalten geblieben war, ist jetzt infolge der langen Zeit entschwunden; all das aber, was in meinen Gedanken allmählich einzutrocknen und zu erlöschen drohte (da ja eine solche Aufgabe für die darin nicht Bewährten nicht leicht ist), will ich durch Aufschreiben wieder lebendig machen. Dabei werde ich aber sorgfältig auswählen und manches mit Absicht übergehen, indem ich vermeide, Dinge niederzuschreiben, bei denen ich mich auch davor gehütet hätte, sie in mündlicher Rede zu erwähnen, durchaus nicht, weil ich es anderen nicht gönnte (das wäre ja nicht recht), sondern weil ich fürchte, meine Leser könnten vielleicht nach der anderen Seite hin80 in die Irre gehen, und es könnte sich erweisen, daß wir es machten wie Leute, die, um den sprichwörtlichen Vergleich81 zu bringen, dem Kinde ein Schwert geben.
4. „Denn es läßt sich nicht vermeiden, daß das Geschriebene unter die Leute kommt“,82 mag es auch von mir selbst unveröffentlicht geblieben sein; wenn aber eine Schrift aufgerollt wird, so kann sie doch stets nur mit einem Wort, nämlich dem niedergeschriebenen, auf die an sie gerichteten Fragen antworten und mit nichts anderem, als was in ihr geschrieben steht. Zu weiterer Erklärung hat sie ja unbedingt eine Hilfe nötig, sei es den Verfasser selbst oder irgendeinen anderen, der die gleiche Richtung eingeschlagen hat.
15.
1. Manches wird meine Schrift auch nur andeuten, und bei dem einen Punkt wird sie länger verweilen, den anderen nur kurz erwähnen; sie wird auch versuchen, etwas verborgen zu sagen und verhüllt auszusprechen und schweigend deutlich zu machen.
2. Meine Schrift wird auch die Lehrmeinungen der hervorragendsten Sekten vortragen und wird ihnen all das entgegenhalten, was vor der durch das höchste unmittelbare83 Schauen vermittelten Erkenntnis sichergestellt sein muß. Deshalb wird sie „entsprechend der berühmten und erhabenen Richtschnur der Überlieferung“84 fortschreiten, wobei wir von der Entstehung der Welt ausgehen wollen; sie wird das vorausschicken, was vor der Naturlehre zuerst durchgenommen werden muß, und wird zuvor die Schwierigkeiten beseitigen, die der folgerichtigen Behandlung im Wege stehen, damit die Ohren für die Aufnahme der wissenschaftlichen Überlieferung bereit seien, indem gleichsam das Land in sachverständiger Weise zuvor von den Disteln und allem Unkraut für die Anlage des Weinberges gereinigt ist.
3. Denn ein Kampf ist auch die Vorübung zum Kampf, und Mysterien sind auch die vor den Mysterien vollzogenen Weihen, und unsere Aufzeichnungen werden auch keine Bedenken tragen, die schönsten Stücke der Philosophie und der übrigen Vorstufen der Bildung zu verwenden.85
4. Denn es ist nicht nur, wie der Apostel sagt, verständig, wegen der Hebräer und der unter dem Gesetz Stehenden ein Jude zu werden, sondern auch wegen der Griechen ein Grieche, auf daß wir alle gewännen.86
5. Und in dem Brief an die Kolosser schreibt er: „Ermahnend jedermann und ihn in aller Weisheit unterrichtend, um einen jeden in Christus zur Vollkommenheit zu führen.“87
16.
1. Aber auch sonst paßt für die Niederschrift unserer Denkwürdigkeiten der Schmuck der wissenschaftlichen Darstellung. So ist auch der Reichtum an ausgewählten Lesefrüchten den würzigen, der Speise eines Wettkämpfers beigemengten Zutaten zu vergleichen, der dadurch nicht Neigung zum Schwelgen, sondern die rechte Lust zum Essen88 bekommen soll. Beim Saitenspiel lassen wir doch auch die allzu starke Spannung des feierlichen Ernstes (wie zu stark gespannte Saiten) maßvoll nach.
2. Wie die, die zum Volke reden wollen, dies oft durch einen Herold tun, damit das Gesagte besser vernehmbar werde, so müssen wir es auch hier machen; denn das Wort, das wir vor der eigentlichen Lehrüberlieferung sprechen, richtet sich an viele; wir müssen ihnen also die ihnen vertrauten Worte und Anschauungen vortragen, die ihnen immer wieder das laut zurufen, wodurch die Hörer leichter dazu gebracht werden, sich zu bekehren.
3. Und um es kurz zu sagen (denn unter den vielen kleinen Perlen ist „die eine“,89 und unter der Masse der gefangenen Fische ist der „Schönfisch“),90 mit der Zeit und mit Mühe wird die Wahrheit hervorleuchten,91 wenn sich ein guter Helfer findet; denn durch Menschen werden von Gott die meisten Wohltaten dargeboten.
17.
1. Nun sehen freilich wir alle, die wir unsere Augen gebrauchen können, das, was in ihr Gesichtsfeld rückt; aber die einen achten dabei auf dies, die anderen auf jenes.92 So sieht der Metzger und der Hirte das Schaf nicht unter dem gleichen Gesichtspunkt an; denn jener kümmert sich darum, ob es fett ist, dieser achtet darauf, ob es zur Zucht geeignet ist. Einer mag die Milch des Schafes melken, wenn er Nahrung braucht, und die Wolle mag er scheren, wenn er Kleidung nötig hat.
2. So soll mir auch die Frucht aus der Verwendung griechischer Weisheit erwachsen. Ich glaube nicht, daß irgend jemand eine Schrift für so gar glücklich hält, der niemand widerspricht; aber jene Schrift muß man für vernünftig halten, der niemand mit vernünftigen Gründen widerspricht. So darf man auch nicht eine Handlung oder eine Entscheidung loben, die von niemand getadelt wird, sondern die, an der keiner etwas mit Recht auszusetzen hat.
3. Und wenn einer eine Tat nicht um ihrer selbst willen ausführt,93 so folgt noch nicht sofort, daß er sie unter dem Zwang von äußeren Umständen vollführt,94 vielmehr wird er handeln, indem er auf Grund seiner Kenntnis göttlicher Dinge eine Sache in Angriff nimmt95 und sich den Verhältnissen anpaßt; denn wer die Tugend bereits besitzt, hat den Weg zur Tugend nicht mehr nötig, und ebensowenig braucht der Starke Erholung.
4. Aber ebenso wie die Landleute zuerst den Boden bewässern und dann den Samen hineinlegen,96 so bewässern auch wir mit dem, was von den Lehren der Griechen trinkbar ist, ihr Erdreich, so daß es den darauf gestreuten geistigen Samen aufnehmen und ihn leicht zum Wachstum bringen kann.
18.
1. Die „Teppiche“ werden aber die Wahrheit stets mit den Lehren der Philosophie vermischt enthalten, vielmehr in sie verhüllt und in ihnen verborgen, wie in der Schale der eßbare Kern der Nuß steckt. Denn wie ich meine, ziemt es sich, daß die Samenkörner der Wahrheit allein für die Ackersleute des Glaubens aufbewahrt werden.
2. Ich kenne freilich ganz gut das Gerede mancher Leute, die törichterweise vor jedem Geräusch erschrecken und behaupten, man müsse sich nur mit dem Nötigsten und nur mit dem beschäftigen, was für den Glauben unentbehrlich ist, dagegen müsse man das, was darüber hinausgehe, und alles Überflüssige übergehen, da es unsere Kraft unnütz aufreibe und uns bei dem festhalte, was für das Endziel nichts beitrage.
3.Andere glauben sogar, daß die Philosophie vom Übel sei und zum Verderben der Menschen durch irgendeinen bösen Erfinder in unser Leben eingedrungen sei.
4. Ich werde aber in meinen ganzen „Teppichen“ zeigen, daß das Schlechte von Natur schlecht ist und nie irgend etwas Gutes hervorbringen kann; dabei werde ich zugleich andeuten, daß auch die Philosophie in gewisser Hinsicht ein Werk göttlicher Vorsehung ist.
II. Kapitel
19.
1 Zur Verteidigung meiner Schrift, die da, wo es notwendig war, auch die griechischen Anschauungen mitaufgenommen hat, sage ich den Tadelsüchtigen nur so viel: Zunächst auch angenommen, daß die Philosophie nutzlos ist, so ist sie doch nützlich, falls der sichere Nachweis ihrer Nutzlosigkeit nützlich ist.97
2. Ferner ist es auch nicht möglich, die Griechen zu verurteilen, wenn man nur den wörtlichen Bericht über ihre Lehrmeinungen verwendet, ohne sich in die Erklärung im einzelnen