geprägt, so steigt zum Beispiel die Zahl der Zwangseinweisungen seit Jahren kontinuierlich an. Mit dem Erscheinen des DSM-V als neue Ausgabe eines der einflussreichsten Diagnosemanuale wurden viele Diagnosen insofern ausgeweitet, als sie nun sehr viel schneller als bisher vergeben werden können. Dafür wurden die Kriterien, welche erfüllt werden müssen, um bestimmte Diagnosen vergeben zu können, in vielen Fällen herabgesetzt. Mit der Kritik daran ist Diagnosenkritik im weitesten Sinne auch in der Tagespresse angekommen. Doch die Diskussion ist von psychiatrischen Sichtweisen geprägt und macht einen Bogen um grundlegende kritische Fragen. Die Beiträge im Sammelband setzen genau hier an und stellen eine Gegendiagnose, indem sie die grundlegenden Wahrheitsannahmen der Psychiatrie hinterfragen und deren gesellschaftliche Verortung offenlegen. Die Diagnosenkritik, welche hier geübt wird, ist eine Kritik an der psychiatrischen Sprache, an Praxen der Einordnung von Menschen in psychiatrische Schubladen und sie ist Teil einer grundlegenden Kritik am psychiatrischen System. Um die Grundlagen dieser Kritik zu begreifen, ist es zunächst wichtig zu betrachten, was psychiatrische Diagnosen sind und von welcher formalen Grundlage aus sie wirken. Diagnosen sind zunächst Klassifikationseinheiten. Sie sind Kategorien, die festlegen, welches Verhalten und Erleben als gestört und damit psychisch krank gilt. Die diagnostische Praxis ist eine Praxis der Normierung und sie hat weitreichende reale Konsequenzen, die von der Finanzierung psychiatrischer Leistungen über Stigmatisierungserfahrungen bis hin zu Zwangspsychiatrisierungen reichen.
Zunächst zeigt sich die Wirkmächtigkeit psychiatrischer Diagnosen auf der trockenen Ebene von Gesetzen, also durch ihre gesetzliche Verankerung. Wenn Menschen in der BRD in psychischen Krisen_Zuständen1 mit dem Gesundheitssystem und im Speziellen mit dem sozialpsychiatrischen System in Berührung kommen, also Leistungen aus dem psychosozialen Versorgungssystem beziehen, sind Diagnosen die Voraussetzung für eine Finanzierung. Denn die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen nur dann die Behandlungskosten, wenn von professioneller Seite psychiatrische Diagnosen vergeben werden. Dies bedeutet: psychologische und ärztliche Psychotherapeut_innen sowie Psychiater_innen weisen Personen psychiatrische Kategorien sprich Diagnosen zu. Im fünften Teil des Sozialgesetzbuches wird in §295 die »Abrechnung ärztlicher Leistungen« geregelt (vgl. Bundesministerium der Justiz 1988). Die Vergabe von Diagnosen entsprechend des Diagnosenkatalogs ICD-10 wird darin als verpflichtend für die Abrechnung mit den gesetzlichen Krankenkassen sowie für die Ausstellung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen festgelegt. Es fällt auf, dass in der gesetzlichen Grundlage nicht im Besonderen auf psychiatrische Diagnosen eingegangen wird. Körperliche Krankheiten wie auch psychische Krisen_Zustände werden hier gemeinsam abgehandelt. Dies hat seine Verankerung im 1998 in Kraft getretenen Psychotherapeutengesetz, in welchem psychische Krisen_Zustände in ihrer Einordnung entsprechend den diagnostischen Kategorien des ICD-Klassifikationssystems als »Störungen mit Krankheitswert« gefasst werden (vgl. Bundesministerium der Justiz 1998). Angesichts eines Systems, in welchem Nicht-Funktionieren nur dann legitim ist, wenn Personen als krank gelten, scheint dies in sich logisch. Aber das bedeutet nicht, dass dieses System richtig und hinzunehmen ist. Die Sprache psychiatrischer Diagnosen ist eine medizinische und die Medizin beschäftigt sich vornehmlich mit dem isolierten Körper, nicht mit der Gesellschaft. Hierdurch werden vermeintliche Fakten geschaffen, welche weitreichend und wirkmächtig sind und Vorstellungen sowie Diskurse bestimmen: psychische Krisen_Zustände sind so Sache der Medizin und damit der Heilkunde. Darin steckt zum einen die grundlegende Annahme der Notwendigkeit einer Änderung dieser Zustände durch Behandlung von außen, zum anderen eine Versperrung des Blicks auf die gesellschaftliche Eingebundenheit dieser Krisen_Zustände. Diese Verschleierung der Gesellschaftlichkeit psychischer Krisen_Zustände findet außerdem auf der Ebene der konkreten Formulierung diagnostischer Kategorien statt. Moderne Diagnosekataloge sind deskriptiv2 formuliert. Es werden detaillierte, beschreibende Symptomlisten formuliert, wobei eine festgelegte Anzahl der Symptome erfüllt sein müssen, um die jeweilige Diagnose vergeben zu können. Dadurch entfallen formal ätiologische Annahmen,3 also Annahmen bezüglich der Ursachen. Jedoch wird durch die kategoriale Formulierung und dem Fokus auf die dekontextualisierte Person das Individuum die einzig verfügbare Einheit für Zuschreibungen bezüglich der Ursachen von psychischen Krisen_Zuständen. Individuelle biografische Bezüge spielen keine Rolle und auch verschiedene gesellschaftliche Diskriminierungserfahrungen wie Sexismus- und/oder Rassismuserfahrungen finden keine Beachtung. Was als alleiniger Referenzpunkt bleibt, ist der Körper. Es entsteht der Anschein, als würden psychische Krisen_Zustände gleich Infektionskrankheiten ausbrechen. Psychische Symptome seien Ausdruck einer körperlichen Krankheit, einer Krankheit des Gehirns, und könnten mit diagnostischen Mitteln bloßgelegt werden. Damit wird ein Bild klar abgrenzbarer psychischer Krankheiten/Krankheitsbilder geschaffen. Dies verleugnet jedoch den Konstruktcharakter psychiatrischer Diagnosen. Denn psychiatrische Diagnosen sind Konstrukte, Festlegungen, die keine raum-zeitliche Stabilität aufweisen und auch auf die jeweils kategorisierten Personen nur mehr oder weniger passen und niemals deren gesamtes Erleben erfassen. Auch wenn dieser Konstruktcharakter in der psychiatrischen Literatur teils eingeräumt wird (vgl. Hoff 2005), die Formulierung und der Aufbau diagnostischer Manuale sprechen eine andere Sprache und wirken in die sozialpsychiatrische Praxis sowie in den Alltagsdiskurs hinein. Infolgedessen wird beispielsweise von den »Depressiven« gesprochen, wie von einer scheinbar einheitlichen Personengruppe. Personen werden in ihrer Gesamtheit einer Kategorie zugeordnet, scheinen in ihrem Sein in der jeweiligen Schublade aufzugehen, Hintergründe und Kontext werden abgeschnitten, unsichtbar.
Eine linke Perspektive, die Gesellschaft und damit Kapitalismus, Sexismus, Rassismus und andere gesellschaftliche Machtverhältnisse verändern möchte, kann mit der Wirkmacht psychiatrischer Diagnosen, deren Eindringen in die Alltagssprache und der Referenz auf den Körper als ursächliche Einheit für psychische Krisen_Zustände nicht einverstanden sein. Linke Kritik an psychiatrischen Diagnosen muss neben dem Aufdecken der grundsätzlichen Gesellschaftlichkeit psychischer Krisen_Zustände weitere Bezüge aufzeigen. Diagnostische Kategorien als Konstrukte enthalten gesellschaftliche Normen und sind in ihrer Formulierung sowie Vergabepraxis auch Ausdruck von Machtverhältnissen. Diagnosen wie beispielsweise die der »Geschlechtsidentitätsstörung«4 reproduzieren und naturalisieren die bestehende binäre Geschlechterlogik und sind aus einer linken, emanzipatorischen Perspektive nicht hinnehmbar. Das psychiatrische System in der BRD wie auch in den USA ist weiß und männlich dominiert. Autor_innen aus dem US-amerikanischen Raum kritisieren den Rassismus in der diagnostischen Praxis. Beispielsweise werden schwarze und weiße US-Amerikaner_innen häufig sehr unterschiedlich diagnostiziert. Schwarze männlich sozialisierte Personen bekommen zum Beispiel sehr viel häufiger die Diagnose Schizophrenie zugewiesen (vgl. Whaley 1998, Williams/ Neighbors/Jackson 2003), welche gesellschaftlich in besonderem Ausmaß Stigmatisierungen nach sich zieht und im Sprachgebrauch fast synonym mit Bedrohlichkeit gesetzt wird (vgl. Finzen/Benz/Hoffmann-Richter 2001). All diese Kritikpunkte sind seit Jahren bekannt und die Tatsache, wie wenig Öffentlichkeit es für diese Themen gibt, spricht Bände.
Mit dem Erscheinen des DSM-V im Mai 2013 brach nun eine Welle der Kritik los, die sowohl in psychiatrischer Literatur als auch der Tagespresse weite Kreise zog. Diagnosenkritik war plötzlich mainstream und wurde von bekannten Psychiater_innen wie Allen Frances, bekannt durch seine Mitarbeit an der Vorgängerversion des DSM-V, angeführt. Die Debatten ziehen sich bis heute hin und werden zwischen psychiatrischen und psychiatriekritischen Kritiker_innen vehement geführt (vgl. West 2014, Frances 2014). Das DSM-V ist neben dem ICD das meistverwendete Diagnosemanual für Praxis und Wissenschaft. Es wird von der Amerikanischen Gesellschaft für Psychiatrie herausgegeben und beeinflusst auch die Weiterentwicklung des ICD-Manuals, welches stets einige Jahre nach dem DSM in neuer Fassung erscheint. Um eine Diagnose vergeben zu können, muss jeweils eine bestimmte Mindestanzahl von Symptomen einer die »Störung« beschreibenden Symptomliste als erfüllt angesehen werden. Im neuen DSM sind nun bei vielen Diagnosen diese Kriterien herabgesetzt worden. Diese Diagnosen können nun also sehr viel schneller vergeben werden. Beispielsweise ist bei der Diagnose ADHS5 das Erstmanifestationsalter, also das Alter bis zu welchem die Symptome erstmals aufgetreten sein müssen, um die Diagnose vergeben zu können, von sieben auf zwölf Jahre heraufgesetzt. Ähnlich verhält es sich bei der Diagnose der Major Depression, also einer depressiven Episode. Dass nun bereits zwei Wochen nach dem Tod einer nahestehenden Person Trauer als Depression eingestuft werden kann, hat zu einem Aufschrei auch in der psychiatrischen Presse geführt. Dieses