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Gegendiagnose


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Begründung, »Erniedrigung, Demütigung und Willkür [waren] die Regel« (Basaglia 1971: 146). Ein Drittel der psychiatrischen Betten war von sogenannten chronisch psychisch Kranken länger als zehn Jahre belegt, ein weiteres Viertel länger als zwei Jahre (vgl. Deutscher Bundestag 1975: 7). Oft war die Psychiatrie für sie der einzige Lebensort, dem noch dazu jeglicher persönlicher Freiraum abging – in Schlafräumen waren häufig mehr als zehn Betten aufgestellt. Innerhalb des Klinikpersonals herrschte eine sehr rigide, arztzentrierte Hierarchie. Neben den Kliniken bestanden noch sogenannte Heime und Anstalten für geistig Behinderte und chronisch psychisch Kranke. Ambulant praktizierten etwa 1.000 niedergelassene Nervenärzt_innen. Erst ab Mitte der 1960er Jahre wurden die Zustände in einzelnen Kliniken skandalisiert und erste psychiatriekritische Positionen in der Öffentlichkeit artikuliert. In der Folge der 68er-Bewegung wurden schließlich bisher weitgehend unhinterfragte Institutionen des Fordismus – Fabrik, Schule, Heim, Kleinfamilie – kritisiert und Gegenmodelle wie Kollektivbetriebe, Kinderläden etc. entwickelt. In diesem Zuge wurden auch die antipsychiatrischen Theorien von u.a. Ronald D. Laing, David Cooper und Michel Foucault vermehrt rezipiert.

      Im April 1970 fand in der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf der von Klaus Dörner initiierte Kongress »Rückkehr der psychisch Kranken in die Gesellschaft?« statt, der als Geburtsstunde der sozialpsychiatrischen Bewegung in Deutschland gilt. Der Kongress kam laut Dörner zu einem Zeitpunkt, »an dem die rein antiautoritäre Phase der Studentenbewegung ihrem Ende zuging bzw. überging in ein größeres Fachengagement der Studenten« (Dörner 1972: 83). Im Anschluss an den von der Pharma-Firma Thomae finanzierten, an psychiatrische Professionelle und den akademischen Nachwuchs gerichtete Kongress bildete sich der Mannheimer Kreis, aus dem die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) hervorging. Die häufig von der Studierendenbewegung beeinflussten oder ihr entstammenden Professionellen trafen auf ein politisches Klima, das offen für humanistisch inspirierte Veränderungen war, wie etwa die 1969 verabschiedete Strafrechtsreform anzeigt, in deren Zuge u.a. die Zuchthausstrafe abgeschafft wurde.

      Auf Antrag der CDU-Bundestagsfraktion wurde eine Expert_innenkommission eingesetzt, die 1975 den 430-seitigen »Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland« und damit die sogenannte Psychiatrie-Enquête ablieferte. Mitglieder der Enquête-Kommission waren ausschließlich Professionelle, vor allem Psychiater_innen und Vertreter_innen von Landesministerien. Einer der Vordenker_innen der Psychiatriereform, Karl Peter Kisker, sah das wesentliche sozialpsychiatrische Moment darin, »der Möglichkeit menschlichen Verirrens mit der Möglichkeit menschlichen Einspannens [zu begegnen], dem Aussatz mit dem Einsatz« (Kisker 1966/67, zit. n. Hoffmann-Richter 1995: 19). Dieses sozialpsychiatrische Konzept der Integration und Aktivierung wurde mit der Enquête politisch-administrativ ausformuliert, die Enthospitalisierung und Integration in die Kommune erschien als neue Perspektive im Umgang mit den psychiatrisierten Subjekten. Bereits im Zwischenbericht der Kommission wurde konstatiert, »daß eine sehr große Anzahl psychisch Kranker und Behinderter in den stationären Einrichtungen unter elenden, zum Teil als menschenunwürdig zu bezeichnenden Umständen leben müssen« (Deutscher Bundestag 1973: 23). Die Kommission plädierte dafür, die Sonderstellung der Psychiatrie aufzulösen, da

      die psychiatrische Krankenversorgung grundsätzlich ein Teil der allgemeinen Medizin ist. Demgemäß muß das System der psychiatrischen Versorgung in das bestehende System der allgemeinen Gesundheitsvorsorge und -fürsorge integriert werden. Dem seelisch Kranken muß prinzipiell mit dem gleichen Wege wie dem körperlich Kranken optimale Hilfe unter Anwendung aller Möglichkeiten ärztlichen, psychologischen und sozialen Wissens gewährleistet werden (Deutscher Bundestag 1973: 12).

      Die Psychiatrie sollte aus dem gesellschaftlichen Off in die Gemeinde getragen werden. Ziel war es, eine ambulante und gemeindenahe Versorgung aufzubauen, um die Nutzer_innen möglichst nicht aus ihrem sozialen Umfeld auszugliedern. Der in der Kommunalverwaltung gebräuchliche, aber auch utopisch-religiös aufgeladene, Begriff der Gemeinde wurde von der Enquête pragmatisch-technizistisch als in ›Standardversorgungsgebiete‹ aufgeteilter ›Versorgungsraum‹ ausbuchstabiert (vgl. Zurek 1991: 236ff.). Konkrete Forderungen waren dementsprechend die bundesweite Installation einheitlicher Planungsregionen für die psychiatrische Versorgung, die Verkleinerung und Umstrukturierung der großen psychiatrischen Krankenhäuser, die Etablierung von sozialpsychiatrischen Beratungsdiensten, Tageskliniken und Werkstätten zur beruflichen Eingliederung, die Förderung von Selbsthilfegruppen, die Differenzierung des psychiatrischen Fachgebietes (Kinder- und Jugendpsychiatrie, Gerontopsychiatrie etc.) und die Koordination aller Versorgungsdienste, um sogenannte Fehlplatzierungen als »verhängnisvolle Folge des planlosen Nebeneinanderher-Arbeitens nahezu aller Dienste« (Deutscher Bundestag 1975: 11) zu vermeiden. Laut Enquête würden zudem mindestens ein Drittel aller Bürger_innen einmal in ihrem Leben ›psychisch krank‹, weshalb Aufklärung und Prävention gefördert werden sollten. Familien-, Erziehungs- und weitere Beratungsstellen sollten als Vorfeld der psychiatrischen Dienste fungieren. In den Jahren und Jahrzehnten nach der Enquête kam es zu einem Umbau des psychiatrischen Systems in der Bundesrepublik, zunächst in Form von Modellprogrammen und weiter ausgreifend im Anschluss an das 1986 verabschiedete »Gesetz zur Verbesserung der ambulanten und teilstationären Versorgung psychisch Kranker«. Eine effektive Umstrukturierung des Systems zugunsten vermehrter außerklinischer Lösungen fand in vielen Gegenden und in den östlichen Bundesländern erst in den 1990er Jahren statt. Seitdem überwiegt die Darstellung, dass durch die initiierte Psychiatrie-Enquête bereits vieles erreicht worden sei, wenn es auch noch einiges zur Verbesserung der psychiatrischen Versorgung zu tun gäbe. Exemplarisch dafür steht eine Aussage der ehemaligen Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer (Bündnis 90/Die Grünen), die 2001 zwar feststellte, »dass wir von einem flächendeckend hohen Niveau in der Versorgung noch weit entfernt sind«, aber unterstrich: »Die Psychiatrie-Enquête vor nunmehr 25 Jahren war ein Meilenstein in der Geschichte der Reformbewegung der psychiatrischen Versorgung. Seither hat die Psychiatrie durchgreifende Veränderungen erlebt. […] Wir haben allen Grund, auf das bisher Erreichte stolz zu sein.« (Fischer 2001: 18ff.) Durch die Reform sei es zu einer Emanzipation der Psychiatrie-Betroffenen vom Objektstatus zum selbstbestimmten Subjekt gekommen, Empowerment sei an die Stelle von Entmündigung getreten.

      Ein positiver Bezug auf die Psychiatrie-Enquête ist heutzutage Konsens in Fachkreisen und der allgemeinen Öffentlichkeit. Sowohl konservative Psychiater_innen als auch kritisch-reformerisch auftretende Betroffene und Angehörige können sich auf die Ziele der Enquête einigen. Ein latentes Unbehagen an der Psychiatrie zeigt sich in der Skandalisierung von Einzelfällen3 und einer Angst vor der Ausweitung der Diagnosen, wie sie etwa anlässlich der Veröffentlichung des DSM-V zu beobachten war. Jenseits dieses sich mitunter verschwörungstheoretisch artikulierenden Unbehagens4 ist in Deutschland kaum noch öffentliche Kritik an den psychiatrischen Strukturen wahrnehmbar. In den Jahren nach Veröffentlichung des Enquête-Berichts war eine radikale Kritik an der Psychiatrie noch weit stärker artikuliert worden. Darauf werde ich später zurückkommen. Zunächst sollen die Grundstrukturen des psychiatrischen Systems dargestellt werden, die sich infolge der Psychiatriereform bis heute herausgebildet haben.

      Klinik, Heim, Maßregelvollzug: in der Psychiatrie

      Die vor der Psychiatriereform dominierenden, mehr oder weniger isoliert arbeitenden Großanstalten wurden in den letzten Jahrzehnten bautechnisch modernisiert und verkleinert; zahlreiche psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern entstanden. In jeder Region ist mittlerweile eine Klinik beauftragt, den gesetzlichen Versorgungsauftrag – die Pflichtversorgung – sicherzustellen. Derzeit existieren in Deutschland etwa 219 psychiatrische Kliniken und 232 psychiatrische Fachabteilungen an Allgemeinkrankenhäusern. Dazu kommen noch 199 psychosomatische und 174 kinder- und jugendpsychiatrische Kliniken bzw. Fachabteilungen. Insgesamt umfassen diese Einrichtungen mehr als 79.000 Betten – in den 1970er Jahren waren es etwa 99.000 psychiatrische Betten in Westdeutschland (vgl. Arbeitsgruppe Psychiatrie der Obersten Landesgesundheitsbehörden 2012: 3ff., Deutscher Bundestag 1975: 2). Anders als früher sind die Kliniken heutzutage vorwiegend für die Akutbehandlung zuständig, längerfristige Aufenthalte sollen vermieden werden. Da parallel zur moderat gesunkenen Bettenzahl die durchschnittliche Liegezeit von etwa 180 auf 20 bis 40 Tage stark reduziert wurde, ist die Gesamtzahl der ›Fälle‹ – also der in den Kliniken