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Gegendiagnose


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mehrfacher Klinikaufenthalte pro Person: hier zeigt sich der vielbeklagte ›Drehtüreffekt‹ (vgl. Schneider/Falkai/ Maier 2011: 3ff.). Die Zahl der Zwangseinweisungen ist zwischen 2000 und 2011 von jährlich über 90.000 auf über 130.000, nach anderen Quellen sogar auf über 230.000 gestiegen – in anderen europäischen Ländern werden relativ zur Bevölkerung weitaus weniger Menschen eingewiesen.5 Anträge auf Einweisungen werden von den Gerichten in 99% der Fälle positiv beschieden. Überdurchschnittlich häufig eingewiesen werden Menschen aus niedrigen sozialen Schichten, alte Menschen und Personen mit einer sogenannten Behinderung (vgl. Joeres 2011) – auch Migrant_innen werden häufiger eingewiesen (vgl. Machleidt et al. 2007, Hoffmann 2009).

      Im Zuge der Psychiatriereform wurden die Kliniken infrastrukturell und fachlich modernisiert und nach Bevölkerungsgruppen und Diagnosen ausdifferenzierte Behandlungsformen geschaffen. Multidisziplinäre Teams entstanden, vermehrt wurden sozialarbeiterische und psychologisch-therapeutische Techniken in den klinischen Prozess einbezogen. Zudem wurden Gesetze und Fachstandards zur Regulierung der Zwangsbehandlung geschaffen, weiterhin wurde jedoch häufig Zwang angewandt. Neben zahlreichen Fixierungen, erzwungenen Begutachtungen, vermitteltem oder direktem Zwang zur Einnahme von Psychopharmaka existieren weitere offen gewaltförmige Therapieformen fort. Dazu zählt etwa die Elektrokrampftherapie, die in den letzten Jahren wieder rehabilitiert wurde und auch von Sozialpsychiater_innen, wie z.B. Klaus Dörner, nicht generell abgelehnt wird (vgl. Wagner-Nagy 2012, Lehmann 1988).

      Jenseits der stationären Psychiatrien, die über die Krankenversicherungsbeiträge finanziert werden, werden Psychiatrisierte auch in eigenen Heimen für ›seelische Behinderte‹ stationär untergebracht. 2010 waren davon ca. 49.000 Menschen (2000: ca. 37.000, 1972: ca. 36.000) betroffen (vgl. Arbeitsgruppe Psychiatrie der Obersten Landesgesundheitsbehörden 2012: 30). Zudem werden immer mehr Menschen, die unter gesetzlicher Betreuung stehen, in Obdachlosen- oder Pflegeheime abgeschoben, wo kein therapeutisches Angebot bereitsteht, sondern eine reine Medikamentierung und Verwahrung betrieben wird. Meist haben diese Menschen bereits mehrfache Klinikaufenthalte hinter sich, werden als ›austherapiert‹ oder ›systemsprengend‹ abgestempelt und für Jahre oder Jahrzehnte ohne weitergehende Perspektive im Heim untergebracht. Allein für Berlin werden mehr als 5.000 Heimverwahrte mit einer psychiatrischen Diagnose geschätzt (vgl. Vock et al. 2007: 84). In einem Zeitungsbericht konstatierte ein Berliner Chefarzt 2013: »Inzwischen leben in diesen Heimen mehr Menschen als damals [vor der Psychiatrieform, S.W.] in den großen Anstalten …« (Tramitz 2013)

      Zudem findet eine Psychiatrisierung der Delinquenz statt: immer mehr Menschen, die Straftaten begangen haben, aber vor Gericht aufgrund einer ›psychischen Krankheit‹ für schuldunfähig erklärt wurden, werden in den sogenannten Maßregelvollzug eingewiesen. Dort werden sie oft für viele Jahre unter widrigsten Bedingungen eingesperrt und müssen sich einem besonders autoritären psychiatrischen Regime mit sehr hohem Psychopharmaka-Zwang, häufigen Zwangsfixierungen und starken sozialen Reglementierungen unterwerfen. Selbst leichtere Delikte wie Diebstahl oder Fahren ohne Führerschein können mittlerweile zu einer Einweisung in den Maßregelvollzug führen – entsprechend hat sich die Zahl der dort Untergebrachten in den letzten 20 Jahren beinahe verdreifacht.6

      Wohnen – Leben – Arbeiten: die Psychiatrie in der Gemeinde

      Ein großes Anliegen der Psychiatriereform war, wie beschrieben, die sogenannte Wiedereingliederung der Psychiatrisierten nach dem Klinikaufenthalt – entsprechend wurden Versorgungsstrukturen geschaffen, die als Brücke zwischen dem Klinikaufenthalt und einer Existenz als als autonomer, möglichst lohnarbeitender Bürger_in dienen sollen. Direkt an die Kliniken angebunden wurden die Tageskliniken, die der Anschlussbehandlung oder der Vermeidung eines stationären Aufenthaltes dienen. Ihre Zahl ist so sehr angestiegen, dass mittlerweile auf vier psychiatrisch-stationäre Betten ein Platz in der teil-stationären Tagesklinik entfällt (vgl. Arbeitsgruppe Psychiatrie der Obersten Landesgesundheitsbehörden 2007: 37).

      Neu geschaffen wurde infolge der Psychiatriereform ein großer gemeindepsychiatrischer Bereich, der im Vergleich zu den Tageskliniken weniger medizinisch-therapeutisch, mehr betreuend und sozialarbeiterisch ausgerichtet ist. Die Angebote werden meist von gemeinnützigen, in Wohlfahrtsverbänden organisierten Vereinen, zum Teil aber auch von privatwirtschaftlich orientierten Trägern, durchgeführt. Diese Form der sogenannten Eingliederungshilfe wird größtenteils über die Sozialhilfe finanziert, insofern die betreffende Person kein eigenes Vermögen aufbringen kann. Eine zentrale Säule ist hier der Bereich ›Hilfe zum Wohnen‹. In Berlin etwa wurden zwischen 1993 und 2001 2.500 Klinikbetten abgebaut und gleichzeitig 2.800 Plätze im Wohnbereich etabliert – mittlerweile wurden noch zahlreiche weitere Wohnplätze geschaffen (vgl. Vock et al. 2007: 16, 41). Neben dem Wohnbereich wurden Angebote im Bereich Hilfen bei der Tagesstrukturierung, Beratung und Kontaktstiftung etabliert. Entsprechend bieten Kontakt- und Beratungsstellen (KBSen) und Tagesstätten Gruppen- und Sportangebote, Ausflüge, Selbsthilfegruppen und beratende Einzelgespräche an. Die KBSen stehen prinzipiell allen Interessierten offen und sollen entsprechend des gemeindepsychiatrischen Konzeptes auch den Dialog und die Kontaktfindung mit Nicht-Psychiatrisierten ermöglichen – in der Regel finden sich dort dennoch vorwiegend oder ausschließlich Psychiatriebetroffene ein. Die KBS-Klient_innen werden oft auch gezielt an weitere Einrichtungen wie Sucht-, Schuldner- oder Familienberatungsstellen weitervermittelt.

      Laut Studien nehmen mindestens 75% der befragten gemeindepsychiatrischen Klient_innen Psychopharmaka ein (vgl. Russo 2012: 126). Oft ist die Medikamenteneinnahme Voraussetzung, um das entsprechende Angebot zu erhalten. Klient_innen, die sich verweigern, wird mit Rauswurf gedroht. Auch jenseits des Drucks Psychopharmaka einzunehmen, werden die Betroffenen mehr oder weniger eng sozialarbeiterisch kontrolliert und, vermittelt durch Rehabilitationspläne, Hausordnungen und Einzelkontakte, starken normativen Anforderungen hinsichtlich Tagesstruktur, Habitus und Hygiene unterworfen. Wichtiges Ziel ist dabei die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit, die durch Gutachten verschiedener Institutionen, darunter Jobcenter, Krankenkassen und Rentenversicherungen, geprüft werden kann. Je nach Diagnose stehen den Betroffenen verschiedene Arbeitsmöglichkeiten zur Auswahl: von Beschäftigungstagesstätten über stundenweisen Zuverdienst und Werkstätten für behinderte Menschen hin zu Integrationsfirmen. Allein die Zahl der Personen, die mit einer psychiatrischen Diagnose in Werkstätten tätig sind, ist zwischen 2005 und 2010 von ca. 32.000 auf ca. 43.000 gestiegen (vgl. Arbeitsgruppe Psychiatrie der Obersten Landesgesundheitsbehörden 2012: 40). Mit dem Integrationsfachdienst besteht eine eigene Einrichtung, welche gezielt die sogenannte Teilhabe von Menschen mit ›körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderungen‹ am Arbeitsmarkt unterstützen soll. Auch die Politik fordert verstärkt die berufliche Integration, exemplarisch etwa die Landesgesundheitsministerien in einem gemeinsamen Statement: »Das Prinzip Rehabilitation vor Rente wird bei psychisch kranken Menschen eindeutig nicht umgesetzt. […] Ziel muss es sein, die Frühverrentungen zu vermindern.« (Arbeitsgruppe Psychiatrie der Obersten Landesgesundheitsbehörden 2007: 48) Dennoch schaffen viele nicht mehr die Rückkehr auf den ersten Arbeitsmarkt oder beantragen nach einer längeren Phase der Krankschreibung Erwerbsunfähigkeitsrente – häufig massiv gedrängt von den Krankenkassen oder den Jobcentern, welche die aus ihrer Sicht kostenintensive Klientel an die Rentenversicherung weiterreichen. Im Jahr 2011 waren 41% der frühzeitigen Verrentungen durch eine psychiatrische Diagnose begründet (24% im Jahr 2000). Damit gelten psychische Ursachen derzeit als Hauptgrund für Frühverrentung (vgl. Deutsches Ärzteblatt 2013).

      Gesetzliche Betreuung und ambulante Versorgung: die Psychiatrie zu Hause

      Viele der Personen, die im gemeindepsychiatrischen Bereich eingetaktet oder in Heimen untergebracht sind, stehen unter einer gesetzlichen Betreuung. Dieses juristische Instrument wurde 1992 eingeführt und hat das bis dahin bestehende Vormundschaftsmodell abgelöst – laut Bundesregierung wurde dadurch Entmündigung zugunsten von Schutz, Fürsorge und größtmöglicher Selbstbestimmung überwunden (vgl. Bundesministerium der Justiz 2013: 4). De facto steigt die Zahl der Betreuungen seit Jahren stark an; von 1995 bis 2008 hat sie sich in etwa verdoppelt, sodass heute etwa 1,3 Millionen Betreuungen eingerichtet sind.7 Nach meiner Schätzung stehen davon mindestens 300.000 Menschen aufgrund einer psychiatrischen Diagnose unter Betreuung und müssen massive