wie generell in den kapitalistischen Zentren der Dienstleistungssektor seinen Siegeszug antrat. Harte körperliche Lohnarbeit wurde zurück-, wenn auch nicht komplett verdrängt. Stattdessen haben sich Formen der immateriellen Lohnarbeit verbreitet, bei denen kommunikative und subjektive Kompetenzen gefragt sind. Das widersprüchliche Leitbild der hoch engagierten, lebenslang lernenden und selbstverantwortlichen Teamplayer_innen korrespondiert mit realiter flacheren Hierarchien, erhöhtem Arbeitsdruck, zum Teil sinkenden Löhnen und einem abgebauten Sozialstaat. Von einer Burnout-Kritik in der Folge von Alain Ehrenbergs »Das erschöpfte Selbst« (Ehrenberg 2004), die von der Gouvernementalitätstheorie12 inspiriert ist, wird auf die zunehmende Überforderung der Subjekte hingewiesen. In Arbeitswelt wie im Privatleben seien sie zu andauernder Selbstinitiative, -management und -kontrolle angehalten, als »Arbeitskraftunternehmer_innen« (vgl. Voß/Pongratz 1998) seien die Subjekte der »ruhelosen Gehetzheit moderner Arbeitsverhältnisse« (Neckel/Wagner 2013: 16) ausgesetzt und müssten sich im Wettbewerb andauernd neu inszenieren und positionieren. Zum einen würden ihre Subjektivität und Sozialkompetenz betrieblich vernutzt, zum anderen müssten sie sich stärker als aktiv handelnde, den Arbeitsprozess steuernde Subjekte einbringen. Die räumlich-zeitliche Entgrenzung, Flexibilisierung und Prekarisierung des Arbeitslebens gehe mit einer Ausweitung von Diagnosen(-stellung), des psychotherapeutischen Marktes und der Psychopharmakaverabreichung einher. Betroffen seien vorwiegend Angestellte in Dienstleistungs- und Verwaltungsberufen und dem sozialen Sektor. Deren ›Störung‹ drückt sich nach Alain Ehrenberg nicht wie noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Ergebnis eines Widerspruchs zwischen Individuum und repressiver Disziplinargesellschaft in Form der ›Neurose‹ aus. Stattdessen herrsche ›Erschöpfung‹ und ›Burnout‹ als Selbstleiden ohne Bezugnahme auf einen evidenten Konflikt. Diese eher akademisch daherkommende Kritik fokussiert meines Erachtens wesentlich auf die ›Depression‹ der Mittelschicht und blendet weite Teile des psychiatrischen Systems und den unmittelbaren Zwang der Kliniken und Heime aus. Dennoch verweist die Burnout-Kritik auf einen wichtigen Punkt, indem sie einen Zusammenhang zwischen psychologischpsychiatrischem Diskurs, dem postfordistischen Wandel der Produktionsverhältnisse und der sozialen Beziehungen herstellt.
Mit der zunehmenden Auflösung der Grenze zwischen Produktion und Reproduktion geht tatsächlich ein immer direkterer Zugriff auf die vorher privatisierten Facetten der Subjekte einher: das Subjektive und Emotionale wird weitestgehend in Verwertungsprozesse einbezogen. Die Flexibilisierung der Produktion – ›just in time‹, ob in Büro, Agentur oder Verwaltung – geht mit einer Flexibilisierung der sozialen Beziehungen einher: trotz einer ideologischen Retraditionalisierung und Refamilialisierung steht de facto vermehrten lockeren Kontakten die Abnahme lebenslanger Bindungen entgegen. Die klassische Kleinfamilie hat an Einfluss verloren, in einer Stadt wie Berlin etwa besteht heute die Mehrzahl der Haushalte aus einer Person.13 Patriarchale Arbeitsteilung existiert dennoch in gewandelter Form fort und hat sich für viele Frauen durch die Doppelbelastung aus Beruf und Familie teilweise noch verschärft. Mit der Atomisierung und Individualisierung geht auch eine Ausdifferenzierung von Milieus und Subkulturen einher. Ideologisch und teilweise de facto fand in den letzten Jahrzehnten ein auch durch soziale Bewegungen erkämpfter integrativer Prozess statt: Migrant_innen, Homosexuellen und Menschen mit Behinderungen wurden vermehrt nicht nur juristisch, sondern auch politisch und sozial als Subjekte anerkannt. Damit gingen teils verbesserte Rechtsansprüche und partiell erleichterter Zugang zu sozialen Ressourcen und zum Arbeitsmarkt einher. Dieser Integrationsprozess steht im Zeichen des Kapitals, das durch die vollzogene globale Expansion an seine äußeren Grenzen gestoßen ist und daher eine intensivierte innere Kapitalisierung vorantreibt. Die kapitalistische Zentrifuge scheint immer schneller zu rotieren: jeder Winkel der Gesellschaft wird auf seine Verwertbarkeit beforscht, keine Person oder Fraktion kann mehr per se von der Verwertung ausgenommen werden. Die Integration bringt so neben individuellen Chancen vor allem einen vermehrten Anpassungs- und Leistungsdruck mit sich: der Schwule darf zwar Bürgermeister werden, aber keine Tunte sein; die Autistin ist am besten eine logisch begabte IT-Spezialistin; die Blinden müssen GEZ-Fernsehgebühren zahlen; die Langzeitarbeitslosen – früher rein passive Empfänger_innen von Transferleistungen – werden in einem dauernden Hamsterrad gefördert und gefordert und auch die Lohnarbeitenden müssen sich dem Diktum lebenslangen Lernens unterwerfen. Wo diese Anpassung dennoch scheitert, wird menschlicher ›Ausschuss‹ produziert, der nicht verwertet werden kann.
Mit dem beinahe unbeschränkten Siegeszug des Kapitals, das zunehmend vehementer auf die und in den Subjekten wirkt, erklärt sich auch die massive Ausweitung und der Formwandel der reformierten Psychiatrie. Die krisenhaft verfasste Gesellschaft des Postfordismus, die im Zeichen eines hohl gewordenen Integrations- und Partizipationsversprechens steht, ermöglicht es nicht einmal mehr der Mittelschicht, ihr Leben auf einer nachhaltigen Subjektebene zu planen. Die für die bürgerliche Selbstdisziplinierung so wichtige Zukunftsperspektive bröckelt. Institutionen wie die Familie oder die Nachbarschaft entfalten ungeachtet der sozialpsychiatrischen Romantisierung der Gemeinde nur noch bedingt kompensatorische Kräfte. Benötigt werden daher weit ausgreifende Kompensations-, Korrektur- und Kontrollmechanismen, um die Funktionalität der Subjekte zu erhalten. Gerhard Mutz beschreibt den Wandel von der privaten zur öffentlich psychiatrisch-psychosozialen Reproduktion wie folgt:
Indem die Familie, nun auch zunehmend für die bürgerlichen Schichten wahrnehmbar, nicht in der Lage ist, psychosoziale Grundqualifikationen zu vermitteln und zu sichern, d.h. eine stabile Identitätsstruktur zu entwickeln, die es ermöglicht, den gesellschaftlichen Alltag in der Produktions- und Reproduktionssphäre zugleich anpassend und gestaltend zu bewältigen […], verlagert sich der Schwerpunkt der Sozialisations- und Kontrollprozesse; […] öffentliche Reproduktionssysteme müssen in der Lage sein, Techniken der Identitätsfindung zu vermitteln. Dies hat zur Folge, dass bestehende Sozialisationsinstanzen (z.B. Schule) ›psychologisiert‹ werden und dass ›neue‹ […] Institutionen der psychosozialen Versorgung entstehen. (Mutz 1983: 285)
Affirmativ formuliert wurde dieser Zusammenhang von Karl Peter Kisker, dem erwähnten Vordenker der Psychiatriereform, bereits 1967: »Die Psychiatrie […] hat in diese Lücken […] einzuspringen, Ersatz für die versagende Primär-Gruppen zu leisten und hier ihr Bestes zu tun.« (Kisker 1967: 40) Der Psychiatrie kommt so immer mehr eine zentrale Filterfunktion zu, um subjektive Krisen zu registrieren und die fluide gewordenen Grenzen zwischen Normalität und Abweichung zu regulieren – wobei Normalität die klaglose Unterordnung unter den stummen Zwang der Verhältnisse meint:
Je zentraler diese Funktion der Unterscheidung zwischen systemerhaltendem und systemstörendem Verhalten im totalen Kapitalismus wird, desto wichtiger wird die Psychiatrie, die […] das Funktionieren der Subjekte (scheinbar) unterstützt und steuert und Probleme mit […] unerwünschten Verhaltensweisen aufzeigt und der Behandlungssphäre zuführt. (Sanin 2012)
Die Psychiatrie versteht sich als Lotsin, die den schwachen und dysfunktionalen Subjekten die passende Behandlung zuweist. Seit jeher zeichnet sich die Psychiatrie allerdings durch einen Doppelcharakter aus: sie ist sowohl für die öffentliche Ordnung als auch für das ›verrückte‹ Subjekt, für Sicherheit und Heilung zuständig, ist ergo Polizei und Medizin in einem. Dieser widersprüchliche Doppelcharakter wurde durch die Psychiatriereform nicht aufgehoben, jedoch wird seitdem die Seite des Subjekts betont. Die alte objektivierende Verwahrpsychiatrie, in welcher das Staatsinteresse und die Staatsgewalt unmittelbar im Arzt personalisiert waren, wurde durch die Reformpsychiatrie umgeformt und ergänzt. Die neue Psychiatrie entspricht den oben beschriebenen postfordistischen Integrationstendenzen: keine Bürger_in aus ideologischen Gründen a priori ausschließen, alle aktivieren und fordern, nicht einmal eine längere psychiatrische Absenz gönnen, solange noch die Option der Verwertbarkeit besteht. Bei der Gemeindepsychiatrie handelt es sich dabei um einen Sektor, der ähnlich dem JobCenter-Regime die Betroffenen in seine Obhut nimmt und sie – trotz häufig geringer Erfolgsaussichten und entsprechend hoher ›Verweildauern‹ im Betreuten Einzelwohnen und Arbeitslosengeld – andauernd sozialarbeiterisch schein-aktiviert. Durch die Ausweitung der Werkstätten, die meist auf stupider unqualifizierter Arbeit beruhen und zum Teil profitabel von großen Unternehmen betrieben werden, wurde ein irregulärer Niedrigstlohnsektor geschaffen. Dem stehen gemeindepsychiatrische Versuche zur Seite, die angeblich besonderen Ressourcen von Psychiatrie-Erfahrenen, wie Kreativität und Sensibilität, arbeitsmarkttechnisch