zur Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf die Betreuer_innen – also des juristischen Wegs, über den Betreuer_innen klinische Zwangseinweisungen und -behandlungen einleiten können. Die Berufsbetreuer_innen haben dabei sehr selten direkten Kontakt mit den Betreuten, im Durchschnitt einmal pro Quartal. In dringenden Situationen sind sie oft nicht erreichbar. Zudem besteht ein doppeltes Jedermensch-Recht: jede_r Bürger_in kann Gesetzliche_r Betreuer_in werden, da eine besondere berufliche Ausbildung nicht verlangt wird. Zugleich kann jede_r Bürger_in für jede_n andere_n eine Betreuung bei Gericht anregen. Letzteres wird neben Ämtern vor allem von Angehörigen, Nachbar_innen und Wohnungsbaugesellschaften genutzt.
Die Zahl der niedergelassenen Psychiater_innen hat sich seit den 1970er Jahren verfünffacht auf mehr als 5.000, die etwa zwei Millionen ›Fälle‹ pro Quartal behandeln (vgl. Schneider/Falkai/Maier 2011: 42f.). Die Psychiater_innen sind – neben den Hausärzt_innen – eine wichtige Anlaufstelle für den Eintritt in das psychiatrische System, sie übernehmen quasi eine Filterrolle und sind oft auch für Einweisungen in die Klinik verantwortlich. Psychiater_innen werden aus ihrer Sicht mit einer relativ geringen Pauschale pro Person vergütet, sodass sie kaum Zeit für Gespräche einräumen, sondern sich vorwiegend auf die Vergabe der Psychopharmaka konzentrieren. Das entspricht ihrer Qualifikation: nach dem Medizinstudium absolvieren Psychiater_innen eine Facharztausbildung und sind auch organisatorisch in die ärztlichen Berufsverbände eingebunden. Medikamente werden von ihnen in der Regel als unverzichtbar und als unbedingte Voraussetzung für einen weiteren Behandlungsprozess legitimiert, viele Psychiater_innen machen sie sogar für eine ›Humanisierung der Psychiatrie‹ verantwortlich: »Die sozialpsychiatrischen Fortschritte der letzten Jahrzehnte basieren auf der Wirksamkeit der Psychopharmaka.« (Möller/Laux/Kapfhammer 2005: 468) Die Erfindung der Depotspritze, über die Psychopharmaka einige Wochen im Körper verbleiben, machte die quasi lückenlose Kontrolle der Medikamenteneinnahme auch bei Menschen möglich, die sich außerhalb stationärer Settings bewegen. Entsprechend stark ist die Anzahl der verordneten Medikamente gestiegen; Matthias Seibt spricht von einer Vervierfachung der Verschreibungen seit der Psychiatrie-Enquête (vgl. Seibt 2000). Insbesondere der Anstieg der Neuroleptika-Vergabe bei Kindern und Jugendlichen mit Steigerungsraten von 40% innerhalb der letzten Jahre ist auffällig und hat auch für Schlagzeilen in der bürgerlichen Presse gesorgt.8
Neben den Psychiater_innen behandeln ca. 15.000 bis 20.000 ambulante Psychotherapeut_innen etwa 500.000 Personen pro Quartal – 1975 waren es noch ca. 1.500 Therapeut_innen. Menschen mit sogenannten ›schweren psychischen Störungen‹ werden allerdings meist von den Therapeut_innen abgelehnt und Angehörige der Unterschichten haben kaum Zugang zur ambulanten Psychotherapie, sodass es sich vorwiegend um ein mittelschichtsorientiertes Angebot handelt (vgl. Bühring 2001, Deutscher Bundestag 1975: 6).
Psychiatrische Gremien und Sozialpsychiatrischer Dienst: die Psychiatrie wird gemanagt
Angestoßen durch die Psychiatrie-Enquête wurden von den Kommunen flächendeckend Sozialpsychiatrische Dienste eingerichtet, die bei den Gesundheitsämtern angesiedelt sind. Zu ihren Aufgaben gehören die aufsuchende Krisenintervention,9 die auf den Einzelfall bezogene Steuerung der jeweiligen Maßnahmen und die Begutachtung, auch im Auftrag weiterer Ämter, wie etwa der JobCenter und der Rentenversicherung. Zudem reguliert der Sozialpsychiatrische Dienst (SpD) gemeinsam mit dem Sozialamt im Rahmen des sogenannten Fallmanagements die Vergabe von Leistungen im Anschluss an Klinikaufenthalte, koordiniert also die Zuweisungen der Betroffenen im gemeindepsychiatrischen Bereich und kontrolliert deren Entwicklung anhand eines zeitlich durchgetakteten Behandlungsplans. Ursprünglich war der SpD als niedrigschwellige, primär beratende Anlaufstelle für die gesamte Bevölkerung gedacht. Tatsächlich hat er sich jedoch zu einer staatlichen Agentur10 entwickelt, die einerseits die ›Klient_innen‹ durch das (gemeinde-)psychiatrische System delegiert, andererseits abweichendes Verhalten außerhalb der psychiatrischen Versorgung registriert und umfassend dokumentiert. Meist reagiert der SpD hierauf mit Kontrolle und Repression. Nicht umsonst gehört zu seinen Befugnissen die Veranlassung von Zwangseinweisungen. Gerade in Zeiten niedrigen Personalstands bei der öffentlichen Verwaltung und damit verringerter Ressourcen der Ämter sich beratend dem ›Einzelfall‹ zuzuwenden, wird von dieser Option rege Gebrauch gemacht.
Immer wieder wird von reformorientierten Versorgungsforscher_innen die Sektorierung des deutschen Systems beklagt, die aufgrund der zahlreichen Akteure und der zersplitterten Finanzierung durch verschiedene Kostenträger, von Krankenkassen über die Rentenversicherung hin zum Jugend- und Sozialamt, besonders hohe Abstimmung erfordere. Jenseits der individuellen Behandlungsplanung existieren daher zahlreiche Strukturen zur Planung der administrativen und der Angebotsebene. Die hochverdichtete Gremienlandschaft zeigt die Dimensionen des psychiatrischen Feldes mitsamt seiner ausdifferenzierten Teilbereiche und angrenzenden Gebiete an – aber auch die politischen und fachlichen Koordinierungsleistungen, die zu erbringen sind in einer Gesellschaft, in der zunächst jede Einrichtung konkurrenzförmig nur für sich selbst arbeitet. Allein in Berlin arbeiten mehr als 200 psychiatrische Gremien. Die Spannbreite reicht von den Psychiatriekoordinator_innen der Bezirke, welche die gemeindepsychiatrische Versorgung steuern, über Psychosoziale Arbeitsgemeinschaften, in denen alle Versorgungsakteure zusammenarbeiten sollen, hin zu den Psychiatriebeiräten der Bezirke und des Landes, welche die jeweiligen gesundheitspolitischen Entscheidungsträger_innen beraten. Die Gremien überwachen sowohl die Inanspruchnahme und Finanzierung der Angebote als auch die Frage, ob Bedarf an weiteren Angeboten besteht und gegebenenfalls neuartige Angebotstypen für bestimmte identifizierte Bevölkerungsgruppen (etwa Migrant_innen, Wohnungslose, Schwangere in Krisensituationen) geschaffen werden sollten. In die Gremien sind mittlerweile häufig im Sinne des sogenannten Trialogs einzelne ›politikfähige‹ Vertreter_innen von Betroffenen- und Angehörigenverbänden einbezogen; sie stehen allerdings einer Überzahl an Professionellen gegenüber und müssen sich zudem der Eigenlogik von planerisch-gestaltenden Institutionen im bestehenden System fügen.
Kontrolle – Zwang – Bürokratie: gegen die neue Psychiatrie
Dem sozialpsychiatrischen Reformprojekt wurde vor allem in den 1980ern mit grundsätzlicher Kritik begegnet. Psychiatriekritiker_innen zeigten sich teils enttäuscht, dass statt eines gesellschaftlichen ein medizinischer Krankheitsbegriff fortgeschrieben und anstelle von Selbstorganisation der Betroffenen die Professionellen-Herrschaft prolongiert worden sei. Die Gemeindenähe sei lediglich technokratisch – anhand statistischer Kennzahlen zur durchschnittlichen Entfernung von Wohnsitz und Einrichtung – umgesetzt worden. Die von der Psychiatriereform ventilierte Fiktion der Gemeinde als heilendem sozialen Netzwerk und autonomem Lebensraum widerspreche der tatsächlich stattfindenden Vereinzelung und dem Zerfall der nachbarschaftlichen Beziehungen (vgl. Zurek 1991: 244f.). Betont wurde insbesondere der Kontrollaspekt der reformierten Psychiatrie. So schrieb die Blaue Karawane Bremen, die seit 1985 mit künstlerischen Aktionen für die Auflösung der Kliniken eintrat:
Die sogenannte gemeindenahe Psychiatrie mit ihrem komplexen Versorgungssystem mit Heimen und sozialpsychiatrischen Diensten hatte nicht den mündigen psychisch kranken Bürger geschaffen und auch nicht die Strukturen, die dazu verhelfen könnten; sie hatte eher weitergreifende Instrumente der Reglementierung geschaffen im Sinne des alten Auftrags der Psychiatrie – aber jetzt moderner, eleganter, nutzbarer. (Die Blaue Karawane o.J.)
Auch das Forum Anti-Psychiatrischer Initiativen hielt fest: »Gemeindenahe Psychiatrie führt zur totalen Kontrolle der Betroffenen, zur Psychiatrisierung der Gesellschaft und erwiesenermaßen zum Anstieg von Zwangsunterbringungen.« (Forum Anti-Psychiatrischer Initiativen 1990) Heiner Keupp, damals noch kritischer Sozialpsychologe, führte die ausgeweiteten Kontrolltendenzen auf eine falsche Prioritätensetzung der Psychiatriereform in Deutschland zurück, die im Gegensatz zu Italien nie auf eine Überwindung der Anstalt hingewirkt hätte. Lag in Deutschland der Akzent auf der Installation einer gemeindebezogenen Versorgung von oben, wurde in Italien ein prinzipieller Reformansatz umgesetzt, der sich die Auflösung aller psychiatrischen Kliniken zum Ziel setzte und »verhindern sollte, die Logik der Anstalt ins Territorium zu transportieren« (Battiston/Bonn/Borghi 1983: 243). Die hiesige Bewegung hat sich laut Keupp nur für eine bessere Versorgung, nicht aber für die Befreiung der Betroffenen eingesetzt:
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