der Realität selten gerecht werden und Betroffene schnell paternalistisch in die Unmündigkeit delegieren? Kann überhaupt von der Gruppe der Betroffenen gesprochen werden, oder reproduziert dies nicht altbekannte, weiße Androzentrismen und verdeckt die Verwobenheit psychiatrisch-psychologischer Konzepte mit dem gegebenen Herrschaftsstrukturen? Dies waren einige der Fragen, welche uns dazu veranlassten, im Frühjahr 2013 dieses Projekt ins Leben zu rufen.
Ausgehend von diesen Fragen soll der vorliegende Sammelband zum einen – und in Abgrenzung zum bürgerlichen Mainstreamdiskurs à la Allen Frances – eine grundsätzliche Kritik an psychiatrischen Diagnosen aktualisieren, die nicht erst die derzeitigen Auswüchse in Form der Neuauflage des DSM als kritikwürdig begreift, und die gesellschaftlichen Voraussetzungen psychiatrischer Diagnosen adäquat hinterfragen. Zum anderen soll er für ein Thema sensibilisieren, das von der linken Gesellschaftskritik in der jüngeren Vergangenheit aus dem Blick geraten ist, gleichsam aber auch die psychiatriekritische Bewegung einer Kritik unterziehen.
Gezielt gesucht haben wir unter anderem nach Beiträgen, welche sich mit dem Rassismus im psychiatrisch-psychologischen System befassen, einem Aspekt, den sowohl die klassische wie auch die kritische feministische Psychiatriekritik zumeist übersehen. Auch für uns war es schwierig hierzu Beiträge zu erhalten, weshalb wir (potentielle) Autor_innen zu diesem Thema besonders ermutigen möchten, sich bezüglich der von einigen von uns geplanten Buchreihe Get well soon. Reihe zu Psycho_Gesundheitspolitik im Kapitalismus gern bei uns zu melden. Denn der vorliegende Band soll der Auftakt einer Verlagsreihe sein: Im Laufe der Arbeit entstand die Idee, eine kontinuierliche Reihe zum Thema im Programm der edition assemblage zu etablieren, um es nicht bei einem einmaligen Input zu belassen, sondern ein stetiges Forum zur Weiterentwicklung der Debatte zu etablieren.
Aufbau dieses Bandes
Durch die gemeinsame bewegungspolitische Zusammenarbeit in der Vergangenheit in losem Kontakt miteinander stehend, haben wir uns nach und nach als Herausgeber_innengruppe zusammengefunden. Während der Arbeit hat sich dann herauskristallisiert, dass wir über eine ähnliche Stoßrichtung der institutionellen und disziplinären Kritik hinaus inhaltlich keine gemeinsame programmatische Linie vertreten. Dieser Pluralismus, den wir innerhalb unserer Herausgeber_innengruppe repräsentieren, hat sich nicht zuletzt in der Auswahl der hier veröffentlichten Beiträge niedergeschlagen und dazu geführt, dass die gewählten Ansätze und politischen Konsequenzen der Beiträge teils im Widerspruch zueinander stehen. Was der Band damit zumindest in seiner Gesamtheit abzubilden vermag, ist ein Schlaglicht auf den Stand der derzeitigen linksradikalen antipsychiatrischen Theoriebildung zu werfen.
Dieses Mosaik in thematische Blöcke einzuteilen, ist uns deshalb nicht leicht gefallen und stellt für uns einen Akt der Pauschalisierung dar, der zwar publikationstechnisch notwendig ist, jedoch oft der Spannweite der Beiträge nicht in Gänze gerecht wird. Wir haben uns schließlich für eine Dreiteilung entschieden, welche die Beiträge danach sortiert, wogegen sich die jeweilige Kritik primär richtet: (I.) gegen die Institution und Disziplin Psychiatrie und Psychologie und deren gesamtgesellschaftliche Funktion, (II.) gegen konkrete Diagnosen, Konzepte und Praxisformen sowie (III.) gegen die Psychiatrie- und Psychologiekritik als solche.
Den Auftakt im ersten Block der Analysen zur Funktion der psychiatrischen Institution bildet Stephan Weigands Aufsatz »Inklusiv und repressiv. Zur Herrschaftsförmigkeit der reformierten Psychiatrie«. Er macht darin eine empirisch orientierte Bestandsaufnahme der heutigen psychiatrischen Versorgungsstruktur und stellt sie in den Kontext der dafür verantwortlichen bundesrepublikanischen Psychiatriereform der 1970er Jahre. Hierbei arbeitet er die Unterschiede zur vor der Reform existierenden Anstaltspsychiatrie heraus und geht besonders auf den flexibilisierten, an die neoliberale Gesellschaft angepassten Herrschaftscharakter der heutigen Psychiatrie ein. Vor diesem Hintergrund erklärt sich schließlich auch das Paradox, warum das alte Anstaltssystem zwar abgeschafft wurde, die heutigen Einrichtungen jedoch zahlenmäßig dominieren, oder warum trotz Inklusion die Zahl der Zwangseinweisungen kontinuierlich ansteigt.
In »Diagnose: Gesellschaftlich unbrauchbar mit Aussicht auf Heilung« entwickeln Sohvi Nurinkurinen und Lukaš Lulu – wie ihr Untertitel anzeigt – eine »Analyse und Kritik der heutigen Psychiatrie in ihrer Parteilichkeit für die herrschenden bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse«. Dafür erläutern sie, wie die im DSM oder in der ICD gelisteten psychiatrischen Diagnosen grundsätzlich zustande kommen, kritisieren sie, auf welchen theoretischen Annahmen die zwei am weitesten verbreiteten Behandlungsmethoden der Pharmako- und Verhaltenstherapie fußen, und verwerfen sie die Vorstellung von Lohnarbeit als Garantin eines glücklichen und psychisch gesunden Lebens. Welches staatliche Interesse in der Wiederherstellung dieser Form von ›Gesundheit‹ steckt, zeigen die Autor_innen im letzten Teil ihres Beitrags.
Esther Mader gibt in »Psychopathologisierung und Rassismus in Deutschland. Eine feministische Perspektive« einen Überblick über die historische und funktionale Verwobenheit der psychiatrischen Disziplin mit Kolonialismus und Rassismus und wirft einen rassismus-kritischen Blick auf die aktuelle Versorgungslandschaft in Deutschland. Sie plädiert dafür, sich kritisch mit der Dominanz des weißen Diagnosesystems in Forschung und Praxis auseinanderzusetzen und verschiedene, auf Rassismus basierende Diskriminierungserfahrungen anzuerkennen, wie das abschließende Interview mit zwei Women of Color verdeutlicht, die von ihren beruflichen Erfahrungen in der psychosozialen Beratung berichten.
Dass die Diskussionen um das DSM in viele Bereiche der Gesellschaft hineinreichen und nicht ohne Wirkungen bleiben, veranschaulicht Anne Allex ´ Beitrag »›Wenn es denn der Wahrheitsfindung dient …‹ Zu rechtswidrigen Gründen und Verfahren bei ›psychologischen Gutachten‹ bei Erwerbslosen«. Der juristisch informierte Text beschreibt anhand von Fallbeispielen die seit einigen Jahren übliche Praxis von Jobcentern, die Erwerbslosigkeit von ALG II-Bezieher_innen mittels psychologischer Gutachten feststellen zu lassen. Die Autorin macht deutlich, dass es sich hierbei um ein stigmatisierendes Instrument handelt, das nicht zuletzt das widerständige Verhalten von Erwerbslosen pathologisiert, und gibt praktische Ratschläge zur Selbsthilfe.
Der zweite Block zur Kritik an konkreten Diagnosen und Konzepten wird eröffnet von Daniel Sanins Analyse der »Entstehung und Funktion der Diagnose ›Abhängigkeitssyndrom‹ im Kapitalismus aus kritisch-psychologischer Sicht«, in der er den ›Sucht‹-Diskurs historisch entlang der Entstehung der kapitalistischen Moderne nachvollzieht und verdeutlicht, dass die Diagnose – eingespannt in ein Dispositiv der Selbst- und Fremdkontrolle – heutzutage auf alle Verhaltensweisen ausgedehnt werden kann und damit potentiell über allen Menschen schwebt. Angesichts einer rigiden staatlichen Drogenpolitik wäre ein sachlicherer Umgang mit ›Sucht‹ nötig, weil diese nur innerhalb ihres gesellschaftlichen Kontextes verstanden werden kann.
Welche persönliche und gesellschaftliche Dimension die nationalsozialistische Vernichtung psychiatrisierter Menschen noch heute hat, beschreibt Andreas Hechler in seinem Beitrag »Diagnosen von Gewicht. Innerfamiliäre Folgen der Ermordung meiner als ›lebensunwert‹ diagnostizierten Urgroßmutter«, in dem er einen Einblick in die Krankengeschichte seiner im Zuge der ›Aktion T4‹ in Hadamar getöteten Urgroßmutter gewährt und den (für bundesdeutsche Verhältnisse eher untypischen) Umgang mit ihrer Ermordung innerhalb seiner Familie rekonstruiert. Er zieht eine Linie von den Spuren des Gestern zum Heute und erklärt, dass das Tabuisieren der NS-›Euthanasie‹-Opfer im engen Zusammenhang mit einem gesamtgesellschaftlichen Ableismus steht, diskutiert Gründe, die die Identifizierung mit dieser Opfergruppe erschweren, und plädiert für Empathie mit den Opfern und ein Engagement gegen Ableismus heutzutage.
In »Trauma-Konzepte im Spannungsfeld zwischen psychischer Störung und gesellschaftspolitischer Anerkennung« stellt Catalina Körner »Einige Gedanken zur Problematik von ›Opferschaft‹ am Beispiel des Diskurses um ›Kollektive Deutsche Kriegstraumata‹« an. Sie verfolgt dabei die Entstehung der Diagnose der ›Posttraumatischen Belastungsstörung‹, die erst im Zuge der Rückkehr von US-amerikanischen Vietnamkriegssoldaten im DSM anerkannt wurde, und diskutiert sie im aktuellen Kontext der geschichtsrevisionistischen Umdeutung der deutschen Kriegsschuld. Nicht allein an diesem Beispiel wird deutlich, dass eine individualisierte