vorgelagerten Beratungsstellen – Kampagnen unter dem Motto ›Vorbeugen statt heilen‹ aufgelegt. Tatsächlich geht es weniger um eine vorbeugende Verbesserung der Lebensumstände, sondern mehr um das Registrieren einer Prä-Devianz. Schon ›Anzeichen einer Störung‹ können zu sozialpsychiatrischen Begutachtungen und weiteren Eingriffen führen, die von einer Antragsstellung der Betroffenen unabhängig sind: Prävention erhält damit den Status einer »Zuführungsfunktion zum vorhandenen Versorgungssystem« (Reichel 1983: 99). Diagnosenspezifische Kompetenznetze schulen Hausärzt_innen, Altenpfleger_innen, Lehrer_innen und Betriebsräte und animieren sie, Auffällige in Früherkennungszentren zu überweisen. Durch Hirnforschung und Humangenetik weitet sich Prävention auf Potentialitäten aus, die angeblich im Körper jeder Einzelnen schlummern können. Die Psychiatrie ist damit aus dem gesellschaftlichen Schattendasein der alten Anstalt getreten, zu Teilen enttabuisiert und weit in die soziale und geografische Mitte gerückt, und zwar »vom Paradigma der Internierung zum allgemeinen Interventionismus« (Castel 1983: 308). Anstatt einer Minderheit von ›Verrückten‹ steht die ganze Bevölkerung, segregiert in einzelne Risikopopulationen, im Fokus. Zusätzlich zu dem ärztlich dominierten Panoptikum der Klinik und des Heims hat sich ein multiinstitutionelles und interdisziplinäres Kontrollregime entwickelt, das in den gemeindepsychiatrisch durchdrungenen Sozialraum – den Stadtteil, die Nachbarschaft, den Betrieb und die Familie – ausgreift. Wenn es auch vorwiegend Sozialarbeiter_innen, (Haus-)Ärzt_innen und Pädagog_innen sind, die für die Frühregistrierung und die Nachsorge zuständig sind, so kann doch jede_r Bürger_in zur potentiellen psychiatrischen Zuträger_in werden – sei es durch eine Mail an den Sozialpsychiatrischen Dienst, durch die Anregung einer Betreuung oder einen Anruf bei der Polizei.
Auch auf der Ebene der psychiatrischen Strukturen selbst hat eine scheinbare Öffnung stattgefunden: unter den Schlagwörtern des Trialogs und der Partizipation werden Betroffene und Angehörige in Gremien einbezogen, sogenannte Patientenorientierung gilt als »zentraler Unternehmenswert« (Kohler 2013) und Inklusion wird »große volkswirtschaftliche Bedeutung« (Wagner 2013) beigemessen. Betroffene werden als Genesungsbegleiter_innen in manchen Kliniken angestellt als Vorbild für jene, die krisenbedingt von der Norm abfallen und, wie es eine Sozialpsychiaterin formuliert, zum »tieferen Verständnis für […] psychische Krankheit« (Amering 2013). Sie dienen damit lediglich als kostengünstiges Add-On, an den psychiatrischen Strukturen und Zielen ändert sich nichts Grundlegendes. Eine Opposition gegen ein solchermaßen integratives System, das sich sogar kompatible Teile des Wissens und der Erfahrungen Betroffener zu eigen macht, fällt offenbar schwer. So stellt sich die früher mitunter radikale Selbsthilfe-Bewegung stark entpolitisiert dar, weite Teile sind – gefördert durch die Reformpsychiatrie und die Pharma-Industrie – in nach Diagnosen spezifizierten und professionell angeleiteten Gruppen geendet.
Der massiv erweiterte Anspruch der reformierten Psychiatrie ›abgestimmte Versorgungspfade‹ zu bahnen und ›Versorgungslücken‹ zu vermeiden, bildet sich nirgends so deutlich ab wie in der häufig gebrauchten Metapher des psychiatrischen Netzes, durch das niemand fallen soll. Gerhard Mutz schreibt dazu: »[D]ie Kontrollinstanzen werden verlängert und das Netz der sozialen Kontrolle erweist sich als engmaschiger, da es bereits in alltäglichen Lebensbereichen wirksam wird, die bisher durch die Ideologie der Normalität vor staatlichen Kontrollmaßnahmen relativ geschützt waren.« (Mutz 1983: 263f.) Die Kontrollfunktionen wurden so verfeinert, dass die geschmeidigen psychiatrischen Strukturen eine »enge Verbindung mit dem sozialen Leben der Devianten« (Hellerich 1985: 161, zit. n. Balz/Bräunling/Walther 2002: 4) eingehen. Die Konsequenzen für Betroffene in der Gemeindepsychiatrie beschreibt Hannelore Klafki: »Einmal im psychosozialen Netz gefangen, gibt es so für die meisten Menschen kein Entkommen mehr. Was ursprünglich ein Netz von Hilfeangeboten sein sollte, erweist sich auf Dauer als ein Netz, in dem Betroffene hängen bleiben.« (Klafki 2003) Das psychiatrische Netz umfasst gerade durch seine Sektorierung vielschichtige, aufeinander abgestimmte Komponenten, ganze Behandlungsketten, die je nach Subjekt und Lebenslage auf Freiwilligkeit oder Zwang, ambulante oder stationäre Settings, kurze oder lange Verweildauer angelegt sind. Integrative Maßnahmen der Gemeindepsychiatrie, die sogenannte Teilhabe ermöglichen sollen und damit auch den Verbleib auf dem ersten Arbeitsmarkt, stehen neben exkludierenden Komponenten wie Einweisung, Heimaufnahme oder starker medikamentöser Sedierung. Nicht zuletzt für das Gelingen der rehabilitativen Maßnahmen ist das System darauf angewiesen, eine Binnendifferenzierung vorzunehmen und sogenannte schwierige Fälle von der Re-Integration auszuschließen. Beide Facetten verbinden sich somit zu einem flexiblen, tendenziell niedrigschwelligen und proaktiven System, das fallbezogen auf Einschluss oder Ausgrenzung steuern kann. Gesprächsangebot und Fixierung, Trialog und Autorität, offenes Setting und straffe Sanktionierung bilden eine mitunter widersprüchliche, aber funktionale Einheit. Gerhard Mutz sieht die Stärke des psychiatrisch-psychosozialen Systems darin,
dass beide Pole – Integrations- und Desintegrationsprozesse – ein einheitliches Ganzes bilden, in dem die einzelnen Elemente ineinander verschachtelt sind, sich ergänzen, überlagern und selbst wenn sie miteinander rivalisieren, wie beispielsweise Sozialpsychiatrische Dienste und Anstalten, innerhalb dieses Gesamtkomplexes gleichzeitig funktionieren, indem sie als Normalisierungsinstanzen das Feld zwischen Norm und Abweichung regulieren und kontrollieren (Mutz 1983: 328).
Balz/Bräunling/Walther (2002: 4) verorten in der »Pharmakolisierung das Bindeglied dieses Transformationsprozesses«: die Psychopharmaka sind demnach die konstitutive Bedingung für den Wandel von der unipolar-internierenden zur multipolaren Einschluss-Ausschluss-Psychiatrie.
Von der Anstalt zur Vielfalt: Psychiatrie im Postfordismus
Die Transformation der Psychiatrie in Deutschland ist nicht zu verstehen ohne die gesellschaftlichen Veränderungen seit den 1970er Jahren. Mit dem Übergang vom fordistischen zum postfordistischen Akkumulationsregime haben sich wesentliche Parameter der Produktion und Reproduktion verschoben. Die Fabrik als zentrales Paradigma des Fordismus war der Massenproduktion von standardisierten Konsumgütern verpflichtet. Entsprechend zeichnete sich die Produktionssphäre in weiten Teilen durch monotone Tätigkeiten, eine stark hierarchische Strukturierung und evidente Fremdbestimmung aus. Salopp gesagt: das Gehirn musste am Fabriktor abgegeben werden, das Fließband übernahm das ›Denken‹, eine entfaltete Subjektivität war für den Produktionsprozess nicht vonnöten, oftmals sogar störend. Wo das Band stockte, griff der Vorarbeiter oder Meister ein. Dem entsprachen tradierte autoritäre Strukturen im öffentlichen Leben – in der Politik, Schule, Kirche, im Verein und Dorf – und eine patriarchal organisierte Familie mit einer stark vergeschlechtlichten Rollenaufteilung. Zugleich wurde von der sozialen Marktwirtschaft unter der Losung ›Wohlstand für Alle‹ ein Glücksversprechen ausgegeben, das in der Beteiligung der Mehrheit am Massenkonsum ein materielles Substrat hatte. Als soziales und politisches Subjekt agierte im Wesentlichen jedoch der ›deutsche‹, nichtjüdische und heterosexuelle Mann – Frauen, Homosexuellen, Migrant_innen, Menschen mit Behinderung wurde lediglich ein eingeschränkter Subjektstatus zugesprochen, in der bürgerlichen Öffentlichkeit waren sie nur mit Abstrichen oder gar nicht präsent. So wurden beispielsweise sogenannte Gastarbeiter_innen in den 1960er Jahren nach Deutschland geholt – eine politische oder betriebliche Mitbestimmung war für sie aber undenkbar, sie waren reines Objekt der Ausbeutung im Niedriglohnsektor. Entsprechend dieser normativexkludierenden Leitkultur wurden Menschen mit psychiatrischen Diagnosen als eigene besondere Gruppe konstituiert, die weit jenseits der Normalität angesiedelt war. Als ›Verrückte‹ oder ›Geisteskranke‹ radikal ausgegrenzt, wurden sie in die Anstalt und damit quasi in das Außen der Gesellschaft, verwiesen – maximal der ›Dorftrottel‹ konnte im sozialen Raum verbleiben. Da kein gesamtgesellschaftliches Interesse an ihrer Verwertung bestand, mussten für sie auch keine aufwändigen Settings und Angebotsstrukturen zur Rehabilitation geschaffen werden. Wie abgeschottet die damalige Psychiatrie funktionierte, zeigt sich auch daran, dass die meist unbezahlte, überausgebeutete Arbeitskraft ihrer Insass_innen – etwa als Küchenhilfen oder Landarbeiter_innen auf den klinikeigenen Ackerflächen – wesentlich den Anstalten selbst zugutekam und nicht in die reguläre Marktökonomie eingespeist wurde.
Zwischen dieser Form der Anstalt, die noch in den 1960er Jahren starke kloster- und gefängnisartige Züge trug, und der heutigen reformierten Psychiatrie mit ihren Mischformen aus ambulanten und