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Gegendiagnose


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hegemonial durchgesetzt, welche sich nicht mehr explizit auf Ursachen und Entstehungsbedingungen als Grundlage der Klassifikation beziehen. Stattdessen werden Bündel von einzelnen Symptomen zusammengefasst und dieses Symptombündel im Anschluss als die Störung selbst definiert. Der Umstand, dass es sich bei der Bestimmung der jeweils entscheidenden, in den Diagnosekatalog aufzunehmenden Symptomkomplexe um einen Meinungsstreit, d.h. um einen Aushandlungsprozess und Machtkampf zwischen »Expert_innen« handelt, welche sich nach Bedarf auf die jeweils von ihnen bevorzugten, einander teilweise auch widersprechenden Ergebnisse der Ätiopathologie beziehen, verweist gleichsam auf die Unklarheit und Uneindeutigkeit der theoretischen Grundlagen der operationalisierten Klassifikations- und Diagnosemanuale. Die diagnostischen Kriterien einer »depressiven Episode« (und damit gleichzeitig die psychologisch-psychiatrische Definition dessen, was eine Depression selbst ist) lesen sich ausschnitthaft nach ICD-10 beispielsweise wie folgt:

      – Depressive Stimmung

      – Interessen- oder Freudeverlust an Aktivitäten

      – Verminderter Antrieb oder gesteigerte Ermüdbarkeit

      – Verlust des Selbstvertrauens oder des Selbstwertgefühls

      – Selbstvorwürfe oder ausgeprägte, unangemessene Schuldgefühle

      – Wiederkehrende Gedanken an den Tod oder an Suizid, suizidales Verhalten

      – Klagen oder Nachweis eines verminderten Denk- oder Konzentrationsvermögens, Unschlüssigkeit oder Unentschlossenheit

      – Psychomotorische Agitiertheit oder Hemmung (subjektiv oder objektiv)

      – Schlafstörungen jeder Art

      – Appetitverlust oder gesteigerter Appetit mit entsprechender Gewichtsänderung

      (Schneider/Frister/Olzen 2010: 35)

      Die Abkehr vom ätiopathologischen Modell der Klassifikation und die Etablierung der operationalisierten Klassifikations- und Diagnosemanuale bedeutet für den Moment der Diagnosestellung eine Verschiebung der Psychodiagnostik ebenso wie deren Kernkategorie der psychischen Störung auf die Erscheinungsebene, d.h. die Ebene beobachteten Verhaltens. Dabei fungiert die Ätiopathologie vermittelt über die sich in den Symptomkatalogen niederschlagenden »Expert_innenmeinungen« als Stichwortgeberin. Der Fokus auf die Erscheinungsebene beobachteten Verhaltens und die damit einhergehende Ineinssetzung beobachteter Verhaltensweisen und psychischer Störung zeigt sich sowohl in den jeweiligen Symptomkatalogen der spezifischen Störungsbilder als auch in der aktuell vorherrschenden allgemeinen Definition psychischer Störung:

      In der Klassifikation psychischer Störungen nach Kap. V ICD-10 wird psychische Störung definiert als ›klinisch erkennbarer Komplex von Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten‹, die sowohl individuell als auch im sozialen Bereich mit Behinderungen und Beeinträchtigungen verbunden sind. (Payk 2007: 53)

      »Klinisch erkennbar« bedeutet nichts anderes, als dass für die Diagnostik relevante, d.h. in einem der Diagnosemanuale beschriebene »Symptome oder Verhaltensauffälligkeiten« durch das diagnostizierende psychiatrische Personal per Augenschein, Befragung oder anderer etablierter diagnostischer Verfahren registriert werden können. Dabei wird zunächst einerseits von vermeintlichen Ursachen und Entstehungsbedingungen ebenjener »Verhaltensauffälligkeiten« abgesehen, andererseits wird insbesondere von einem Großteil der konkreten Inhalte und subjektiven Gründe des beobachteten Verhaltens abstrahiert. Das diagnostische Verfahren fungiert als Schablone, welche nur ganz bestimmte, vorab festgelegte Verhaltensweisen, Absichten, Gedanken, Schlüsse, Bedürfnisse und Interessen der untersuchten Person, d.h. nur einzelne, ausgesuchte Ausschnitte der Wirklichkeit auf eine ebenfalls vorab festgelegte Weise sichtbar macht. Diese Ausschnitte der Wirklichkeit, welche im diagnostischen Raster hängenbleiben, werden gemessen, also quantifiziert und vergleichbar gemacht. Sie interessieren in der Diagnostik nur in Hinblick auf ihre Kategorisierung als Symptom oder Nicht-Symptom, d.h. als auffällig oder unauffällig markiertes Verhalten. Dabei werden alle Inhalte, die in der angelegten diagnostischen Schablone nicht vorgesehen sind, zum Verschwinden gebracht. Zudem wird durch die hergestellte Vergleichbarkeit der erhobenen Daten von den jeweils potentiell unterschiedlichen objektiven Positionen und Lagen untersuchter Personen in der Welt, z.B. deren materieller Lebenssituation, abgesehen. Da die Unterscheidung, was ein Symptom ist und was nicht, sich nicht aus dem Gegenstand dessen, was als psychische Störung gilt, selbst ergibt, verlangt die Entscheidung, welche Lebensäußerungen eines Menschen in der Diagnostik vorkommen und welche systematisch ausgeblendet werden, nach einem äußeren Kriterium. Dieses ist in der psychologisch-psychiatrischen Diagnostik die Normabweichung.

      Norm und Normabweichung

      Neben dem Aspekt der klinischen Erkennbarkeit kennzeichnet die oben genannte Definition psychischer Störung, dass die ihr zugehörigen Symptome »sowohl individuell als auch im sozialen Bereich mit Behinderungen und Beeinträchtigungen verbunden« seien. Was an dieser Stelle recht vage als individuelle und soziale »Behinderung und Beeinträchtigung« erscheint, lässt sich an der folgenden Vier-Punkte-Definition psychischer Störung deutlicher aufzeigen:

      Unter einer Störung werden Symptome oder Symptommuster im Denken, Erleben und/oder Handeln einer Person verstanden, die von der Norm abweichen, zu einer Beeinträchtigung der beruflichen Leistungsfähigkeit und/ oder sozialen Aktivitäten führen, durch ausgeprägtes Leiden gekennzeichnet sind und die bei den Betroffenen ein Änderungsbedürfnis hervorrufen. (Renneberg/Heidenreich/Noyon 2008: 21, Hervorh. i.O.)5

      Entscheidend dafür, ob ein beobachteter Symptomkomplex als psychische Störung behandelt wird, ist also – neben subjektivem Leiden und Änderungsbedürfnis – die Normabweichung und eine Beeinträchtigung, hier genauer spezifiziert als »Beeinträchtigung der beruflichen Leistungsfähigkeit und/oder sozialen Aktivitäten«. Als relevante Normen, von denen ein Verhalten in klinisch relevanter Weise abweichen kann, gelten in der psychiatrischen Diagnostik einerseits die statistische Norm, d.h. der Durchschnitt einer Vergleichsgruppe, meist einer »repräsentativen Eichstichprobe« der Gesamtbevölkerung, und/oder die sogenannte »modifizierte funktionale Norm«, welche »subjektive[s] Wohlbefinden einerseits wie auch […] objektivierbare Leistungsfähigkeit andererseits« (Payk 2007: 51, Hervorh. i.O.) berücksichtigt.6 Normalität in diesem Sinne kennzeichnet psychische Gesundheit als Gegensatz zu psychischer Gestörtheit wie folgt: 1. Die betreffende Person weist eine objektivierbare Leistungsfähigkeit (z.B. im Bereich der Veräußerung ihrer Arbeitskraft) auf, welche sich aus den Anforderungen der kapitalistischen Gesellschaft ergibt. 2. Bei der Anwendung ihrer Leistungsfähigkeit fühlt sich die Person subjektiv wohl. Eine Abweichung von der modifizierten funktionalen Norm bezeichnet also selbst nichts anderes als eine Beeinträchtigung in den als relevant markierten Leistungsbereichen und/oder einen Mangel an subjektivem Wohlbefinden. Die als Kriterium verwendete Norm, nach der entschieden wird, ob eine psychische Störung vorliegt oder nicht, kennzeichnet (zunächst einmal unabhängig vom empirischen Durchschnitt der Gesamtbevölkerung) den Idealtypus des fröhlich funktionierenden bürgerlichen Subjekts in der kapitalistischen Gesellschaft:

      Zusammenfassend entspräche psychische Gesundheit am ehesten der individuellen Fähigkeit, sich realistisch den Anforderungen des Lebens ohne erschöpfendes Beanspruchtwerden stellen und ihnen innerhalb der zugehörigen Gesellschaft mit Selbstachtung und Durchhaltevermögen bei persönlicher Zufriedenheit nachkommen zu können. (Payk 2007: 51, Hervorh. i.O.)

      Die genannten und nicht weiter ausgeführten »Anforderungen des Lebens«, welche je nach Gesellschaft und innerhalb dieser je nach Personengruppe, sozialer Position, Geschlecht usw. stark variieren können, werden als gegeben und unveränderlich gesetzt. Diesen nachzukommen gilt als vernünftiger und nicht weiter erklärungsbedürftiger Lebensinhalt eines und einer jeden. Egal welchen Platz man in dieser Gesellschaft zugewiesen bekommen hat, man soll sich dessen »Anforderungen« (bzw. Zumutungen) nicht nur stellen können (was zu einer »individuellen Fähigkeit« erklärt wird) und wollen, sondern soll sich dabei »persönlich zufrieden« fühlen. Dabei wird dieses »Sollen« nicht als der Imperativ ausgesprochen, der es ist, sondern als im Grunde selbstverständliche