Umweltreize und gestörte Kognitionen, die wiederum durch die Umwelt hervorgebracht wurden, mit in die Ursachenerklärung einzubeziehen. Alles ist irgendwie komplexer, bedingt und verstärkt sich gegenseitig, und die angenommenen Ursachen tragen mit unterschiedlicher Gewichtung zur Entstehung der Depression bei. Die Suche nach den begleitenden Umständen und der Mangel jeder einzelnen Bedingung, nicht hinreichend die erklärungsbedürftige Erscheinung begründen zu können, führte dazu, dass von dem ehemaligen linearen Ursache-Wirkungsmodell vermehrt abgesehen wurde, und an dessen Stelle das biopsychosoziale Rahmenmodell trat. Das Faktorenkarussell dreht und dreht sich immer weiter um die Determiniertheits-Achse, bis es vollständig mit der Multikausalitäts-Annahme abhebt.
Mit der allgemeinen Behauptung, die natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen seien die Ursache für das menschliche Denken und Handeln, wird die zu erklärende psychische Erscheinung auf etwas anderes zurückgeführt. Anzugeben, dass für die Depression das menschliche Gehirn vorhanden sein muss oder dass sie von Umständen abhängt, unter denen sie sich entfaltet, ist erstens banal und zweitens heißt das noch lange nicht, sich die Depression inhaltlich erklärt zu haben. Stattdessen verfolgen diese Erklärungsansätze die niemals zu beendende Aufgabe, erst alle Bedingungen zu finden, um dann zu erklären, warum ein Mensch dieses oder jenes tut. Damit gehen diese wissenschaftlichen Richtungen aber an ihrem Gegenstand – der subjektiven Geistesleistung – vorbei. Jeder Mensch kann sich zu den jeweiligen Bedingungen verhalten. Er kann diese akzeptieren, sie zur Grundlage seines Denken und Handelns machen, sie verwerfen oder schlicht nicht beachten. Warum er dieses oder jenes denkt oder tut, wird nicht von Bedingungen hervorgebracht, sondern beruht auf der eigenständigen Leistung des jeweiligen Menschen. Insgesamt betrachtet wurde sich von dieser eigenständigen Leistung weit entfernt. Schon während der Diagnoseerhebung kommen nur diejenigen subjektiven Äußerungen in Betracht, die der Zuordnung zu einem Störungsbild dienlich sind. Mit der anschließenden Behauptung, die Störung sei gegenüber den festgehaltenen subjektiven Äußerungen etwas Selbstständiges und bringe diese hervor, ist bereits die erste Ursachen-Instanz in der Welt: Die Depression gilt als Ursache, dass der Mensch nicht mehr die Fähigkeit besitzt, sich den Anforderungen dieser Gesellschaft zu stellen und dabei mit einem Lächeln durch die Welt zu laufen. Als etwas Selbständiges bedarf es aber wiederum der Erklärung, wie die Störung in die Welt – oder besser: in den Menschen – gekommen ist. An deren Entstehung sollen »sowohl soziale als auch psychologische und biologische Faktoren« (Birbaumer/Schmidt 1999: 658) irgendwie beteiligt sein. Der Mensch wird damit zur abhängigen Variable von etwas anderem erklärt.
Fremd- und Selbststeuerung
Im vorherigen Abschnitt wurden die elementaren Fehlannahmen zweier psychiatrisch-psychologischer Deutungen bezüglich ihres Gegenstands der psychischen Tätigkeit des Menschen benannt. Ihnen ist gemein, dass sie das als Abweichung vom Norm-Verhalten klassifizierte Denken und Handeln eines Menschen als Wirkung mehrerer innerer oder äußerer Ursachen beschreiben. Diese würden das Individuum daran hindern, sich in dieser Welt zu bewähren, produktiven Tätigkeiten nachzugehen und den Anforderungen der Gesellschaft, in der es lebt, bei persönlicher Zufriedenheit nachkommen zu können. Das als gestört klassifizierte Individuum ist nicht mehr in der Lage sich diesen Anforderungen zu stellen, es wurde sich selbst ein Hindernis bei dem Versuch des Zurechtkommens in der Welt. Dieses Hindernis gilt es zu überwinden, damit das allgemein ausgegebene Ziel »Teilhabe an der Gesellschaft« erreicht werden kann. Mit der Beeinflussung der behaupteten Wirkungszusammenhänge soll es gelingen, das Individuum zu seiner gesunden Betätigung in dieser Gesellschaft zu befähigen. Gedacht wird der Mensch somit als ein manipulierbares Wesen, dessen Verhalten gesteuert werden kann, damit es sich selbst wieder in der bürgerlichen Gesellschaft zurechtfindet und seinem angeblich natürlichen Auftrag nachkommt. Die Suche nach diesen Steuerungsmechanismen offenbart den eigentlichen Zweck dieser Forschungsrichtungen: Es sind die Mittel ausfindig zu machen, mit denen das menschliche Denken und Handeln so verändert werden kann, dass es zu den Anforderungen dieser Gesellschaft passt. Welchen Zwecken diese Anforderungen folgen, braucht da gar nicht weiter zu interessieren. Diesen mit einem fröhlichen Lachen nachzukommen ist bereits als das Erstrebenswerte festgelegt. Dementsprechend setzen diejenigen Fachrichtungen, welche diesem Zwecke folgen, ständig neue Handlungsanleitungen in die Welt, welche Praktiker_innen dazu befähigen sollen, nützlichen Einfluss auf das auffällig gewordene Individuum nehmen zu können, im Namen des jeweiligen Individuums selbst. Da das Ziel, also die Herrichtung des Individuums dahingehend, dass dieses kann und will, was es muss und soll, schon festgelegt wurde, geht es nur noch um die Frage des Wie. Um die Beantwortung dieser sich selbst auferlegten Frage konkurrieren die verschiedenen Fachrichtungen miteinander.
Neben der Steuerung des Menschen durch die Veränderung äußerer Reize und den Eingriff in den biologischen Stoffwechsel kommt eine weitere Steuerungstechnik hinzu, die den Willen selbst als Produktivkraft zur Herrichtung des gesellschaftlich erwünschten Verhaltens begreift. Die Selbststeuerung zur »gesunden« gedanklichen Stellung zu sich und dieser Welt gilt als ein weiteres brauchbares Mittel. Das Individuum soll verstehen, dass bestimmte Inhalte seiner Gedanken es angeblich daran hindern, im Einklang mit sich und der Welt zu leben. In der kognitiven Verhaltenstherapie12 werden derartige das Individuum behindernde Gedanken als gestörte kognitive Schemata begriffen, die es unter Anleitung von erfahrenen Psychotherapeut_innen zu verändern gilt. Dem Individuum werden Werkzeuge an die Hand, besser: in den Kopf, gegeben, damit es bei sich selbst die angenommen Ursachen ausfindig machen kann, die es darin hindern würden, ein glückliches Leben zu führen. Es soll sich zu seinen eigenen negativen und dysfunktionalen Gedanken als zu manipulierende Bedingungen stellen, damit es selbst wieder das erwünschte Verhalten hervorbringt.13 Nicht verwunderlich ist es dann, dass überzogene Erwartungen seitens des Individuums an die Welt als entscheidendes Hindernis auf dem Weg zum Glücklichsein ausgemacht werden. Um dieses Hindernis aus dem Weg zu räumen, sollen die jeweiligen Ansprüche an die Anforderungen dieser Welt angepasst werden, sich die Wünsche und Ziele an der vorgegebenen Realität orientieren und sich dieser somit unterordnen. Die eigenen Bedürfnisse und Interessen an der vorgefundenen gesellschaftlichen Realität zu relativieren, ist eine Form der Selbstzurichtung des Individuums, die es zur Herbeiführung eines gelungenen Verhältnisses zur Welt ständig neu an sich ausführen soll, um die eigene Zufriedenheit herzustellen: Nimm auf dich selbst so Einfluss, dass du dir im Sinne des fröhlichen Mitmachens nicht mehr selbst im Wege stehst!
Behandlungsziel: Arbeit!
In der Festlegung dessen, was als psychisch gesund bewertet wird, gilt das Nachkommen einer produktiven Tätigkeit als Ausdruck gelungener gesellschaftlicher Integration. Psychische Gesundheit misst sich vor allem an der Fähigkeit, die eigene Arbeitskraft zur Verfügung stellen zu können, und somit gilt die Wiederaufnahme einer produktiven Tätigkeit als anzustrebendes Resultat geglückter Fremd- und Selbststeuerung. Mit der Formulierung »produktive Tätigkeit« wird von den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen abstrahiert, in denen eine produktive Tätigkeit stattfinden muss. Die Rückkehr an einen Arbeitsplatz wird nicht als Notwendigkeit verstanden, damit das Individuum an die Geldmittel herankommt, von denen seine Existenz abhängig gemacht worden ist, sondern als Ausdruck geglückter Wiederherstellung psychischer Gesundheit überhaupt. Damit wird die allgemeine Setzung, sich erst fremden Zwecken unterwerfen zu müssen, um die eigene Existenz wenigstens halbwegs zu sichern, als Mittel ausgegeben, welches das Individuum zu seiner psychischen Gesundung benötigt. Die »Teilhabe an der Gesellschaft« ist für die meisten Menschen nur über Arbeit zu haben und als gesund gelten nur diejenigen, die erfolgreich die eigene Arbeitskraft für die Vermehrung des Eigentums anderer zur Verfügung stellen. Tatsächlich sind diejenigen, die nicht über ausreichend Geldmittel verfügen, von vielen Dingen, die sie benötigen, ausgeschlossen. Dies verweist jedoch auf die Verfasstheit dieser Gesellschaft, in der nur diejenigen Individuen etwas zählen, die fremden Erfordernissen genügen. Die Wiedereingliederung in das Regime der Arbeit im Namen der Wiederherstellung von psychischer Gesundheit verweist auf den allgemeinen Zweck dieser Gesellschaft, welcher der gesunden Menschennatur entsprechen soll. Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen wird so nicht als das ausgegeben, was sie ist, sondern wird zum individuellen Mittel zur Wiederherstellung von psychischer Gesundheit. Hierzu wird die Aufnahme einer produktiven Tätigkeit mit allerlei für das Individuum wichtigen Eigenschaften