mehr oder weniger von den meisten Leuten die meiste Zeit über halbwegs erfüllt wird, sich modifizierte funktionale und statistische Norm also in der Regel einigermaßen decken, verleiht ersterer nicht etwa die Weihe einer »neutraleren«, weil rein rechnerischen Norm, sondern gibt lediglich Auskunft darüber, dass es einem Großteil der Bevölkerung in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft in ausreichendem Maße gelingt, die ihm nahegelegten Anforderungen und Zwänge nicht nur zu erfüllen, sondern sich diese auch als persönliche Lebensaufgabe zu eigen zu machen und damit einzurichten. Die statistische Norm dient also als legitimatorische Absicherung der eigentlich entscheidenden modifizierten funktionalen Norm, was sich besonders anschaulich an Fällen ausweisen lässt, in denen statistische und modifizierte funktionale Norm auseinanderzufallen drohen: So werden etwa Intelligenztests statistisch in regelmäßigen Abständen an repräsentativen Stichproben re-normiert, damit stets eine sogenannte Normalverteilung der Intelligenz in der Bevölkerung vorzufinden ist. Intelligenztests werden so konzipiert, dass stets genau gleich wenig als unter- und als überdurchschnittlich intelligent diagnostizierte Personen sowie eine Ballung im Bereich mittlerer Intelligenz existieren. Während »Intelligenzminderung« nach ICD-10 als psychische Störung bzw. als Symptom verschiedener Störungsbilder gilt, gilt dies nicht für »überdurchschnittliche Intelligenz«, da mit dieser üblicherweise keine Funktionsbeeinträchtigung in den für die Psychodiagnostik interessierenden Bereichen einhergeht. Die modifizierte funktionale Norm liefert also den Maßstab dafür, ob eine statistische Normabweichung als eine psychische Störung oder als ein Symptom einer psychischen Störung gilt, wie »Intelligenzminderung«, oder nicht, wie »Hochintelligenz«. In anderen Fällen spielt die statistische Norm eine stärker untergeordnete oder gar keine Rolle. Die Symptomkataloge der Klassifikationssysteme und die damit korrespondierenden diagnostischen Verfahren zur Depressionsdiagnostik kommen weitestgehend ohne statistischen Vergleich aus und beziehen sich eindeutig auf die modifizierte funktionale Norm.
Psychologie und Psychiatrie sind sich der prinzipiellen Veränderlichkeit, zumindest der empirisch nicht von der Hand zu weisenden historischen Veränderung der modifizierten funktionalen Norm bewusst – »Welche Verhaltensweisen als psychische Störungen bezeichnet werden, ist abhängig von gesellschaftlichen Werten und Normen. Damit unterliegt der Begriff den Einflüssen des kulturellen und geschichtlichen Kontextes und dessen Wandels« (Bastine 1998: 151) –, allerdings hat sie ihrer Funktion für diese Gesellschaft gemäß keinen Begriff davon, um welche diffusen »Einflüsse des kulturellen und geschichtlichen Kontextes« es sich dabei handeln könnte bzw. wie und vor allem in wessen Sinne diese abstrakt bleibenden »gesellschaftlichen Werte und Normen« zustande kommen – womit sie ihrer Parteilichkeit für die jeweils herrschenden Normen entspricht.
Die tautologische Erklärung des Nicht-Funktionierens
»Psychische Gesundheit« im oben genannten Sinne meint somit nicht zu jedem Zeitpunkt und für jede Person unbedingt dasselbe, jedoch bedeutet sie immer die Anforderung und unterstellte Selbstverständlichkeit des fröhlichen Mitmachens der Menschen bei dem, was derzeit von ihnen gefordert und verlangt wird. Ist dieses fröhliche Mitmachen bei einer Person nicht (mehr) in ausreichendem Maße der Fall, bekommt sie eine entsprechende Diagnose verpasst, die in einem griffigen Terminus die konkret beobachtete, spezifische Art des Nicht-Reibungslos-Funktionierens auf objektiver und/oder subjektiver Ebene zusammenfassend beschreibt. Im Moment der Diagnosestellung spielen dabei die mutmaßlichen Ursachen für die so diagnostizierte Störung, wie sie in der Ätiologie verhandelt werden, keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle (z.B. als persönliche »Krankheitsgeschichte« in der Anamnese). Insbesondere aber kommen die tatsächlichen individuellen Gründe für das Nicht-Funktionieren bzw. Nicht-Mitmachen(-Wollen) und die damit verbundenen subjektiven Bewusstseinsinhalte der diagnostizierten Person im diagnostischen Prozess kaum vor: Nicht der Inhalt eines als depressiv eingestuften Gedankens ist der primäre Gegenstand der Untersuchung, sondern die akut festgestellte Abweichung von der Norm.
In diesem Moment kommt es zur eigentlichen diagnostischen Tautologie: Wie eben gezeigt werden konnte, handelt es sich bei einer beliebigen, anhand der jeweiligen akut beobachteten Normabweichung diagnostizierten Störung um nichts anderes als um eine Ein-Wort-Beschreibung der beobachteten Normabweichung. Diese Ein-Wort-Beschreibung (»Depression«) wird dann entweder vom psychiatrisch-psychologischen Personal oder vom betroffenen Subjekt und seinem sozialen Umfeld selbst als Ursache für ebenjenes Nicht-Mitmachen(-Wollen) hypostasiert, welche sie eigentlich ja nur in einem Wort beschreibt. Eine Depression wird also daran festgemacht, dass eine Person morgens nicht aus dem Bett kommt, der Job plötzlich und unerwartet keinen Spaß mehr macht und sie sich »grundlos« traurig fühlt, und all diese Gefühle, Gedanken und Handlungen, die die Depression sind, werden im Anschluss als durch ebendiese Depression verursacht erklärt. Dann heißt es, die Depression als im Kopf oder in der Seele hausende Störung halte einen ursächlich davon ab, morgens früh aufzustehen, zu arbeiten und das Leben einfach zu genießen. Erklärungsbedürftig erscheint nicht das freiwillige und fröhliche Funktionieren im kapitalistischen Normalbetrieb, welches die modifizierte funktionale Norm und in den meisten Fällen deskriptiv auch die statistische Norm in der Bevölkerung darstellt, sondern das Nicht-Funktionieren(-Wollen), welches als dermaßen unbegründet und absurd erscheint (und erscheinen muss), dass es sich dabei in dieser Logik folgerichtig nur um einen Defekt in der betroffenen Person handeln kann. Paradoxerweise wird aber nun dieses als erklärungsbedürftig markierte Verhalten gerade eben nicht erklärt, sondern lediglich zusammenfassend beschrieben (klassifiziert) und anschließend als seine eigene Ursache verkauft.
2. … mit Aussicht auf Heilung
Über die Ursachen für die Ursache
Diese Vorstellung über die Entstehung von psychiatrisch relevanten Symptomen orientiert sich an der medizinischen Erklärungsweise für die Entstehung von körperlichen Erkrankungen, unterscheidet sich von dieser jedoch erheblich.7 In der Medizin werden die vorhandenen Symptome als Ausdruck einer nachweisbaren Ursache begriffen, beispielsweise einer Virus- oder bakteriellen Infektion, deren Vorliegen und Schädlichkeit für den menschlichen Organismus unter Zuhilfenahme naturwissenschaftlicher Methoden und Erkenntnisse bestätigt werden (kann), um dann durch die entsprechende Behandlung beseitigt zu werden. Der Zusammenhang zwischen den festgestellten Symptomen und den sie verursachenden Bakterien/Viren lässt sich wissenschaftlich beweisen. Die heutige Medizin ist trotz vieler Unklarheiten in der Lage, einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen einer Ursache und ihren Folgen zu beschreiben. Die Zerstörung von Helfer-Zellen beispielsweise durch das HI-Virus im Blut führt zur einer Schwächung des Immunsystems, was den Körper anfälliger macht für andere Erreger. Die Diagnose heißt dann Humanem-Immundefizienz-Viruskrankheit, und diese Krankheit verursacht verschiedene Symptome. Die Diagnose HIV kann demnach durch den Nachweis der Viren im menschlichen Körper abgesichert werden.
Der Unterschied zwischen der psychiatrischen und der medizinischen Diagnose besteht darin, dass die Psychiatrie ein den psychiatrischen Symptomen äußerliches Kriterium anführt, welches den inneren Zusammenhang zwischen den Symptomen herstellen soll. Ob es wirklich die Depression ist, welche die Symptome hervorbringt, oder etwas anderes, ist nicht überprüfbar. Die Psychiatrie hält hingegen fest: Die psychische Störung ist die Instanz, die dafür sorgt, dass die Menschen nicht so sein können, wie sie sollen. Der Ätiopathologie fällt nun die Aufgabe zu, zu erklären, was die diagnostizierte Ursache hervorgebracht haben könnte – bislang jedoch ohne wissenschaftlich haltbares Ergebnis. Um dem Nicht-Mitmachen auf die Sprünge zu helfen, kommen verschiedene Behandlungsmethoden zum Einsatz. Je nach gewähltem Verfahren sieht die Behandlung der diagnostizierten Störung verschiedene Handlungsschritte vor, die wiederum auf verschiedenen Erklärungsmodellen ihrer Entstehung beruhen. Obwohl die jeweiligen Modelle höchst unterschiedliche und sich widersprechende Vorstellungen über die Ursachen beinhalten, ist ihnen eins gemeinsam: Alles, was ein Mensch so tut und denkt, muss von inneren oder äußeren Ursachen hervorgebracht worden sein. Die Auswahl, welches der vorhandenen Verfahren zum Zuge kommt, hängt von der jeweiligen Fachrichtung der behandelnden Expert_innen ab. Durch verschiedene Studien versuchen die jeweiligen Behandlungsrichtungen die Wirksamkeit ihres Verfahrens und die Richtigkeit ihrer Annahmen damit zu beweisen, wie erfolgreich diese die klinischen Symptome