zum Gelderwerb, sondern wird zum elementaren Baustein eines gesunden und glücklichen Lebens stilisiert. So soll die Vernutzung der eigenen Arbeitskraft für fremde Zwecke gesehen und gelebt werden: als Mittel zur (Wieder-)Herstellung der eigenen Gesundheit und des Wohlbefindens. Dementsprechend ist die berufliche Wiedereingliederung derer, die psychiatrisch auffällig geworden sind, ein wichtiges Ziel jeglicher psychiatrischpsychologischer Behandlung. Neben verschiedenen Bildungseinrichtungen, Trainings- und Förderungsstätten sowie Werkstätten finanziert der Staat Unterstützungsleistungen, die eine dauerhafte Eingliederung in Beruf und Arbeit zum Ziel haben. Am Anfang derartiger Maßnahmen steht die Einschätzung von Expert_innenseite, welche Belastungen den Diagnostizierten denn zuzumuten wären. Dass eine produktive Tätigkeit eine Zumutung ist und zum physischen und psychischen Verschleiß führt, ist da schon mitgedacht. Auf die Dosis der Verwertung kommt es an, gerade bis an die Grenze, ab der gar nichts mehr geht. Da schon der Tätigkeit an sich eine therapeutische Wirkung zugesprochen wird, ist deren konkreter Inhalt zweitrangig. Auch da gilt es, die eigenen Ansprüche möglichst niedrig zu halten und an sich zu arbeiten, das Angebot als Chance zu begreifen, wieder Teil dieser Gesellschaft werden zu dürfen.
3. Gesund und fit wofür?
Die Anforderungen des Lebens
Der Psychiatrie und Psychologie stellen sich die Anforderungen an Menschen innerhalb konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse als allgemeine, nicht näher spezifizierte »Anforderungen des Lebens« schlechthin dar. Die jeweiligen gesellschaftlichen, politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse, innerhalb derer Menschen leben, erscheinen als äußere Welt. Diese wird als Ort vielfältiger Erfolgs- und Bestätigungsmöglichkeiten, ein erfolgreiches, geglücktes Leben in ihr als individuelle Bewährungsprobe behauptet, und beides soll von den Menschen auch so gedacht werden. Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Verfasstheit dieser Welt wird als naturwüchsiges Ergebnis der Betätigung des menschlichen Wesens an sich und als unveränderlicher, nicht zu hinterfragender Sachzwang vorausgesetzt. Sich in dieser vorgefundenen Welt auf eine bestimmte, erlaubte und erwünschte Weise zu betätigen, zu verwirklichen, zu bewähren und sich dabei ihren Bedingungen zu unterwerfen wird als urwüchsige, natürliche, gesunde und normale Wesensäußerung eines und einer jeden unterstellt. Die Frage, um welche Verhältnisse es sich dabei eigentlich handelt, und vor allem die Frage, ob diese Verhältnisse überhaupt etwas für die Interessen und Bedürfnisse der unter ihnen lebenden Menschen taugen, wird dabei nicht gestellt.
Bei genauerem Blick auf diese Gesellschaft lässt sich feststellen, dass diese auf einer Wirtschaftsweise mit dazugehöriger Staatsgewalt beruht, die der Bedürfnisbefriedigung sehr vieler Menschen entgegensteht. Zu dieser Gesellschaft gehört materielles und viel psychisches Leid notwendig dazu. Dieses hat nicht seinen Grund im Versagen Einzelner oder darin, dass das »System« an einigen Stellen versagt hat und diese Probleme durch Nachbesserungen zu beseitigen wären, sondern in den grundsätzlichen Gegensätzen, welche in dieser Gesellschaft herrschen. Da das Wohlergehen und die Existenz der hier lebenden Menschen davon abhängig gemacht worden ist, in welchem Maße der Einzelne über das universelle Zugriffsmittel Geld verfügen kann, konkurrieren die Einzelnen mit unterschiedlichen Mitteln um diese Verfügungsmacht. Gerade durch die Verfolgung ihrer individuellen Interessen machen sich die Individuen wechselseitig die Teilnahme am Reichtum dieser Gesellschaft streitig. Dass dabei gerade diejenigen beschissen dastehen, die nichts anderes haben als ihre Arbeitskraft, die sie als Mittel zur Verwertung des Eigentums anderer verbrauchen lassen müssen, liegt auf der Hand. Sie müssen sich diesem Zweck unterordnen, nach dessen Erfordernissen ihr Leben einrichten, um wenigstens einen Bruchteil des von ihnen produzierten Reichtums zu erhalten. Und auch wenn die Leute alles dafür tun, sich diesem Zweck zu unterwerfen, ist nie garantiert, dass sie gerade oder auch morgen noch gebraucht werden.
In dieser bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft kommen die Bedürfnisse der Menschen also nicht als Zwecke, d.h. als Grundlage, auf der dann Zusammenleben und Wirtschaften einer Bedürfnisbefriedigung entsprechend organisiert würden, sondern ganz im Gegenteil nur als Mittel zum Zweck der Kapitalvermehrung vor. Bedürfnisse haben also lediglich als Mittel dieser Zwecke Aussicht auf Erfüllung, z.B. als zahlungsfähiges Bedürfnis nach Konsumtion. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass Bedürfnisse, für deren Erfüllung Leute nicht bezahlen können, in der kapitalistischen Kalkulationsweise auch schlicht nicht vorkommen – wodurch sich unter anderem erklärt, warum Menschen auf dieser Welt unnötigerweise verhungern und unter Brücken schlafen müssen. Der Zweck zur Kapitalvermehrung unterwirft sich neben den (zahlungsfähigen) Bedürfnissen der hier lebenden Menschen (unter Ausschluss der nicht zahlungsfähigen) auch deren Arbeitskraft als Mittel. Menschen werden zum Zweck der Kapitalvermehrung benutzt und dabei vernutzt und verschlissen. Als das entscheidende Mittel zur Kapitalvermehrung gilt jede menschliche Arbeitskraft vom Standpunkt des Kapitals aus als eine einzukaufende Ware, welcher es bedarf, um zu verkaufende Waren herzustellen. In der unternehmerischen Kalkulation taucht diese besondere Ware Arbeitskraft als Kostenfaktor auf, den es möglichst gering zu halten gilt und der möglichst intensiv genutzt werden sollte. Auf möglichst viel Arbeitsleistung zugreifen zu wollen, um eine möglichst große Anzahl von Waren herzustellen und dabei die Kosten möglichst gering zu halten, entspricht der Logik der Kapitalvermehrung: Das vorgeschossene Geld soll ja schließlich mehr werden.
Um sich die Schädigung und den Verbrauch durch Lohnarbeit zu vergegenwärtigen, muss man den Blick nicht einmal unbedingt auf Arbeit unter besonders katastrophalen, hochgradig gesundheitsschädigenden Bedingungen, wie z.B. in einer Diamantenmine oder in einem Sweatshop lenken, sondern kann sich bereits den physischen und psychischen Zustand, die in den westlichen Nationen »ganz normale« Erschöpfung, die Rücken- und Kopfschmerzen eines Menschen nach einem langem Arbeitstag im Büro, der Fabrik, der KiTa oder an der Supermarktkasse zum Ausgangspunkt nehmen. Wie es die Funktion von rechtlichen Verordnungen über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit ist, dieser prinzipiell bejahten Vernutzung gewisse Grenzen zu setzen (wobei selbst diese Grenzen hart umkämpft waren und sind), und es Aufgabe der Medizin ist, physisch allzu stark heruntergewirtschaftete Arbeitskraft wiederherzustellen, ist es u.a. Aufgabe der Psychologie und Psychiatrie, dies im psychischen Bereich zu leisten, damit trotz ständiger Vernutzung ausreichend verwertbares Menschenmaterial zum Zweck der Kapitalvermehrung durch Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft übrigbleibt.
Die »Anforderungen des Lebens«, die sich unter bestehenden Verhältnissen an die hier lebenden Menschen stellen, ergeben sich aus den Zwecken der Kapitalvermehrung. Die meisten Menschen sind darauf verwiesen, sich im Rahmen von Lohnarbeit als Mittel der Geldvermehrung bereitzustellen, ihre eigenen Fähigkeiten im Sinne der Erfordernisse von Kapital und Staat beständig zu erweitern, im allgegenwärtigen Konkurrenzverhältnis zu bestehen und Leistung zu erbringen. Auch die Reproduktion von Arbeitskraft, d.h. sowohl die Hervorbringung, Versorgung und Erziehung neuer tauglicher Staatsbürger_innen und Arbeitskräfte als auch Arbeit zur physischen und psychischen Aufrechterhaltung und Regeneration erwachsener Arbeitskräfte, ist eine in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft anfallende Aufgabe, die es zur kapitalistischen Vernutzung von Menschen braucht und die notwendigerweise zu dieser dazugehört. Ein Großteil der Reproduktionstätigkeit in dieser Gesellschaft findet im privaten Bereich, d.h. in der Familie und/oder in emotionalen Nahbeziehungen statt. In der Regel stellt sich diese spezifische »Anforderung des Lebens« in besonderem Maße an Frauen* – heutzutage nicht selten zusätzlich zur Anforderung, die eigene Arbeitskraft selbst ebenfalls als Lohnabhängige zu Markte zu tragen. Hieraus ergibt sich häufig eine Doppelbelastung von Frauen*, wobei die gestellten Anforderungen der verschiedenen Bereiche obendrein in Konflikt miteinander geraten und sich gelegentlich sogar widersprechen können (»fürsorglich sein« hier, »Ellbogen raus« dort). Dies kann, neben einer verstärkten Verschleißung und Verbrauchung, Quell zusätzlicher psychischer Konflikte und Leiden sein.
Als Lohn für ein engagiertes und verausgabendes Mitmachen, also das Erfüllen dieser oft schädigenden und belastenden Anforderungen, lockt das Versprechen des persönlichen Glücks durch ein »gelungenes Leben«. Dass es sich hierbei um ein Ideal handelt, welches in der Realität für die allermeisten Menschen so nicht existiert, dessen sind sich die meisten Leute sehr wohl bewusst – nichtsdestoweniger hält die überwiegende Mehrheit trotz der Härten des Lebens und nicht ausbleibender Enttäuschungen