und Tobias Esch
Zusammenfassung
Trotz enormer Erfolge der konventionellen Medizin, insbesondere bei der Bekämpfung vieler Infektionskrankheiten sowie in der Akutmedizin, sind in den letzten Jahrzehnten die Limitationen dieses v.a. auf einem pathogenetischen Gesundheitsverständnis basierenden Medizinsatzes offensichtlich geworden. Die konventionelle Medizin wird heute zunehmend durch die Integration von präventivmedizinischen Aspekten und solchen der Gesundheitsförderung, die insbesondere auf der Salutogenese und Stärkung von Resilienzfaktoren basieren, maßgeblich erweitert. Evidenzinformierte bzw. -basierte Verfahren der Naturheilkunde sowie der komplementären bzw. traditionellen Medizin und der Selbstfürsorge/Gesundheitsförderung werden die Medizin sinnvoll ergänzen, wobei dem selbstverantwortlichen und aktiven Patienten sowie dem empathischen und an einem partizipativen Dialog interessierten Arzt besondere Bedeutung zukommt. Besonders wichtig ist die intensive wissenschaftliche Untersuchung von Naturheilkunde und komplementärer Medizin insbesondere durch eine Fokussierung auf die Komplexität der zu untersuchenden Verfahren im Sinne einer „Whole Medicine Research“, die durch die öffentliche Hand gefördert werden sollte. Die komplementäre Medizin wird in diesem Kontext zukünftig vermehrt als Teil einer ganzheitlich ausgerichteten Integrativen Medizin gesehen werden, wie es in den USA bereits der Fall ist. Zentraler Bestandteil der Integrativen Medizin ist neben der Aktivierung des Patienten die interdisziplinäre Vernetzung aller an der medizinischen Versorgung und der Gesundheitsförderung beteiligten Gesundheitsprofessionen, wobei der Unterstützung gesellschaftlicher Partner bei der Förderung dieser Entwicklung ein zentraler Faktor ist. Soziale, politische und ökologische Grundbedingungen von Gesundheit und ihre Erhaltung sollten in Zukunft stärker Berücksichtigung finden, hierzu tragen Mitarbeiter aller Gesundheitsprofessionen besondere Verantwortung. Nur wenn es gelingt, die Medizin in Richtung Integrativer Medizin zu modernisieren, wird sie den gesundheitspolitischen Herausforderungen der Zukunft bewältigen können.
Summary
Despite the enormous success of conventional medicine, especially in combating infectious diseasesas well as in intensive care, the limitations of such medicine, which is based primarily on a pathogenetic understanding of health, have become evident. Today, conventional medicine is being employed increasingly in the integration of preventive medical practices and those of health promotion, which are based, in particular, on salutogenesis and the strengthening of resilience factors.
Evidence-informed or evidence-based methods of naturopathy as well as complementary or traditional medicine and self-care/health promotion will complement medicine in a meaningful way, with special emphasis on encouraging self-responsible, active patients as well as empathetic physicians who are genuinely interested in a participative dialogue.
Of central importance in this development is the thorough scientific investigation of naturopathy and complementary medicine, especially by focusing on the complexity of its procedures to be investigated in the sense of ‘Whole Medicine Research’, which should also be funded by public authorities.
In this context, complementary medicine will increasingly be part of future comprehensive and holistic – supposedly integrative – medicine, as is already the case in the USA.
In addition to patient activation, a central component of future Integrative Medicine is the interdisciplinary networking of all health care professions involved in medical care and health promotion, with the support of social partners being a key factor in promoting this development. In addition, the social, political and ecological conditions surrounding health should be given greater consideration in the future. Only if we succeed in modernizing medicine in the direction of Integrative Medicine, will we be able to meet the health policy challenges of the future.
1.1 Einleitung
Trotz enormer Erfolge der konventionellen Medizin insbesondere bei der Bekämpfung vieler Infektionskrankheiten und in der Akutmedizin sind in den letzten Jahrzehnten die Limitationen dieses v.a. auf einem pathogenetischen Gesundheitsverständnis basierenden Ansatzes offensichtlich geworden. Folge ist, dass den aktuellen Herausforderungen der globalen Medizin bei der Versorgung von einer zunehmenden Weltbevölkerung sowie die Zunahme an chronischen Erkrankungen insbesondere in den Industrienationen nicht mehr allein durch die kostenaufwendige konventionelle Medizin begegnet werden kann. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Medizin zunehmend in Richtung einer Integrativen Medizin entwickelt. In dem vorliegenden Artikel wird diese Entwicklung ausgehend von den Konzepten von Gesundheit und Krankheit, von den Konzepten der komplementären naturheilkundlichen bzw. traditionellen Medizin bis hin zu den verschiedenen Definitionen von Integrativer Medizin nachgezeichnet. Des Weiteren werden Konkretisierung wichtiger Aspekte in Form vom Berlin Agreement, das im Rahmen des 1. Weltkongresses für Integrative Medizin entwickelt wurde, vorgestellt.
1.2 Konzepte von Gesundheit und Krankheit
Die Integrative Medizin ist unter anderem das Ergebnis der durch die gesellschaftlichen Bedingungen sich wandelnden Konzepte von Gesundheit und Krankheit insbesondere im 20. Jahrhundert.
Der WHO-Gesundheitsbegriff von 1947 „Gesundheit ist der Zustand des völligen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen“ (WHO 2006) ist zwar mehrdimensional und positiv, deutet aber auch auf einen Idealzustand hin, der unerreichbar erscheint und somit realitätsfern ist. Insbesondere das der konventionellen Medizin zugrunde liegende biomedizinische Krankheitsbild mit der Grundannahme, dass jeder Krankheit eine Veränderung des organischen Substrats durch innere Bedingungen (z.B. genetische Codes) oder äußere Einwirkungen (z.B. Infektionen oder chemische-physikalische Einflüsse) zugrunde liegt, hat die Medizin seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts maßgeblich geprägt und insbesondere bei der Bekämpfung von Infektionserkrankungen zu unübersehbaren Erfolgen geführt. Allerdings hat dieser Ansatz auch nicht zu übersehende Schwächen, so haben Befindlichkeitsstörungen und funktionelle Erkrankungen kaum einen Platz in diesem System, bei dem der menschliche Körper eher wie eine Maschine interpretiert wird, die Krankheit als Betriebsschaden aufgefasst und der Körper wird bei technischen Störungen repariert wird. Auch die diesem System entsprechenden äußeren Bedingungen haben mit einer zunehmenden Technisierung der Medizin die Grenzen des biomedizinischen Krankheitsbilds aufgezeigt. Darüber hinaus ist bei der pathogenetischen Betrachtungsweise die Festlegung der Grenze zwischen „normalen“ und „pathologischen Werten“ problematisch, da die sich daraus ergebende Dichotomisierung zwischen „sicher gesund“ und „sicher krank“ zu einem Reduktionismus des menschlichen Lebens führt. Auch gilt nicht immer das Normale (entlang der Verteilung von Merkmalen in der Normalbevölkerung) als gesund, heute werden zunehmend Referenzwerte für gesunde Merkmale (vgl. systolische Blutdruckwerte, Plasma-Lipidwerte etc.) weit außerhalb ihrer Normalverteilung definiert, was große Gruppen der Bevölkerung automatisch – per definitionem – zu „Kranken“ macht.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich aber auch Gesundheitsmodelle entwickelt, die primär den Begriff der Gesundheit und nicht der Krankheit in den Mittelpunkt stellen (Franke 2012). Diese Modelle werden häufig als salutogenetische Modelle bezeichnet, die für die Entwicklung der Integrativen Medizin von größter Bedeutung sind (Franke 2012): Vom Begründer der Salutogenese, dem Medizinsoziologen Aaron Antonovsky, wird die Salutogenese, die Lehre bzw. Erforschung von Faktoren und Prozessen, die die Gesundheit erhalten und fördern, bewusst dem Begriff der Pathogenese, der Lehre bzw. Erforschung von Faktoren und Prozessen, die die Krankheit erzeugen oder verlängern, gegenüber gestellt. Antonovsky weist darauf hin, dass die Pathogenese und die Salutogenese eine komplementäre Beziehung bei der Betrachtung von Gesundheits- und Krankheitsprozessen eingehen (s. Abb. 1).
Abb. 1 Integration von