Ute Reichmann

Handbuch Ambulante Einzelbetreuung


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day Maria received a circular from a distant city offering, through a course of lessons by mail, to give her a perfect speaking and singing voice. The fee was $ 50. She applied at once to her guardian for the loan of the money, and was told that the next time they were both in the city they could consult some one whose knowledge of music would make him a good judge of the value of the offer. A teacher of a good music school was asked to test her voice and give an opinion of the plan. When Maria heard the small, wavering sounds that she made in trying to sing to the master, even she was convinced that the correspondence course was not worth considering.“5

      Doch die Betreuerin sieht ihre Aufgabe nicht darin, ihre Adressatin zu desillusionieren. Sie hilft ihr vielmehr, eine realistische und lebenspraktisch brauchbare Vorstellung ihrer eigenen Stärken und Schwächen auszubilden. So wird an anderer Stelle geschildert,[17] dass sie einem Aufsatz ihrer Adressatin zur Veröffentlichung verhilft (Richmond 1922: 40).

      Wie es Marias Betreuerin gelang, alltägliche Herausforderungen für ihre Adressatin in Lernerfahrungen zu verwandeln, war aus Sicht Mary Richmonds der entscheidende Wirkfaktor des Hilfeerfolgs. Dabei war die Betreuerin grundsätzlich für alle Lebensbereiche zuständig: Sie achtete auf Marias körperliches Wohlbefinden und ihre Gesundheit. Sie half ihr, Hygiene und Selbstsorge zu lernen und aufrecht zu erhalten. Sie führte sie zu einem sorgsamen, ehrlichen und vorausschauenden Umgang mit Geld und Eigentum. Sie unterstützte sie bei ihrem schulischen Werdegang, bei der Suche nach Unterkünften und Ausbildungsstellen und verhalf ihr mithilfe ihrer Hintergrundorganisation zu Bildungserfolg und wirtschaftlicher Autonomie. Dank all dieser Unterstützungsaktivitäten gelang es Maria Bielowski schließlich, selbstständig die Lebensanforderungen der amerikanischen Gesellschaft zu bewältigen – trotz ungünstiger biografischer Voraussetzungen, trotz Migrationshintergrund, trotz problematischer Lebenserfahrungen und Delinquenz.

      Was Mary Richmond an diesem Fall beschreibt, eine durch eine professionelle Sozialarbeiterin niedrigschwellig, alltagsnah, über eine längere Zeit und advokatorisch durchgeführte ambulante Betreuung eines jungen Menschen, dessen Lebensweg durch familiäre Probleme, Desintegration und Delinquenz gefährdet ist, wurde als Konzept in einer Zeit wirtschaftlicher Rezession in Amerika entwickelt.

      Die COS war von den Ideen des schottischen Sozial- und Kirchenreformers Thomas Chalmers beeinflusst, der in Kilmany und Glasgow Anfang des 19. Jahrhunderts kirchliche Sozialarbeit mit einem aufsuchenden und gewissermaßen ressourcen- und netzwerkorientierten Ansatz erfolgreich durchgeführt hatte (Müller 20 064: 28, Neuffer 1990: 23), und durch das deutsche „Elberfelder Modell“, ein ab 1853 in Elberfeld praktiziertes Konzept ehrenamtlicher, individueller, dezentraler und zeitlich begrenzter Armenhilfe und Fürsorgeerziehung (Müller 20 064: 19f., Braches-Chyrek 2013: 171f.). Die COS übernahm die Aufteilung nach Bezirken bzw. Distrikten, eine über Bedürftigkeit entscheidende Diagnostik zu Fallbeginn und das Verfahren der Hausbesuche durch Familienbesucherinnen („friendly visitors“) (vgl. Richmond 1899, 1917, 1922).

      Im Amerika des beginnenden 20. Jahrhunderts waren solche unaufwändigen, kostengünstigen Modelle ideologisch anschlussfähig und boten eher eine Lösung für die sozialen Schwierigkeiten in den nordamerikanischen Industriestädten als die klassischen fürsorgerischen oder sanktionierenden Angebote der Sozialpädagogik und Armenhilfe. Die COS grenzte sich gegenüber kirchlichen Wohlfahrtsorganisationen ab und verweigerte die reine Vergabe von Almosen strikt. Richmond forderte professionelle, am Einzelfall ausgerichtete sozialpädagogische Intervention statt „relief only“6 und legte damit den Grundstein für spätere ambulante Hilfeangebote für junge Menschen und Erwachsene. Sie entwarf partnerschaftliche Maßnahmen, die direkt beim realen Lebenskontext und den eigenen Lebenszielen der Adressatinnen und Adressaten ansetzten, individuelle Möglichkeiten ausloteten und diese in der dialogischen Auseinandersetzung prozessual und pragmatisch bei der Umsetzung begleiteten. Fallarbeit musste sich aus Richmonds Sicht dynamisch zwischen den Polen Selbsthilfe und professionelle Unterstützung ausrichten und zwischen der Verwirklichung individueller Lebensziele und gesellschaftlicher Einbettung vermitteln. Die angewendete Methodik musste entsprechend flexibel und umfangreich sein und umfasste die in ihren Fallgeschichten [18] im Einzelnen nachweisbaren Handlungsmodi Beobachten, Zeigen, dialogisches Reflektieren, Begleiten und aktiv Unterstützen, mit denen spezifisch auf die Erfordernisse der Personen und ihrer Lebensumwelten reagiert werden konnte. Diese methodische Vielfalt ist typisch für Richmonds Konzept der Fallarbeit. Sie sah das Ziel ihrer Arbeit in der persönlichen Weiterentwicklung der Personen, die sie unterstützte, und stand damit in der Tradition eines aufgeklärten Bildungsbürgertums des späten 18. und des 19. Jahrhunderts. Ihr Konzept der Fallarbeit, das in seiner Tragweite und seinem Anregungspotenzial in Deutschland bis heute unterschätzt und selten direkt und genau rezipiert wurde, bietet viele Anschlüsse für die gegenwärtige Diskussion um eine Integration der Ziele und Angebote der Bereiche Sozialisation, Erziehung und Bildung.

      In Deutschland wurden im 19. Jahrhundert wesentliche Meilensteine zum späteren deutschen Sozialstaat gesetzt. So bildeten sich große Wohlfahrtsverbände aus kirchlichen und gewerkschaftlichen Einrichtungen: 1848 war die „Innere Mission“ der evangelischen Kirche gegründet worden, 1897 der Caritasverband durch die katholische Kirche. 1868 gründeten sich der deutsche Gewerkschaftsbund wie auch die Arbeiterwohlfahrt (AWO) als großer Verband der Arbeiterbewegung. Charakteristisch für die deutsche Situation war das bismarcksche System der Sozialgesetzgebung und der Sozialversicherungen, die 1878–1889 formuliert und verabschiedet wurden. Auf diese Weise wurden nebeneinander starke verbandliche Wohlfahrtsstrukturen und ein weit entwickeltes, gesetzlich verankertes Sozialversicherungssystem geschaffen. Bis 1900 hatte sich die Jugendhilfe von der reinen Waisenpflege weiterentwickelt und auf straffällig gewordene und „verwahrloste“ Jugendliche und uneheliche Kinder ausgedehnt. Jugendhilfe und Armenhilfe differenzierten sich stärker aus und wurden zunehmend als unabhängige und unterschiedliche Aufgaben wahrgenommen. Gegen 1910 entstanden Vorgängerinstitutionen der ersten Jugendämter wie die Mainzer Zentrale und die Hamburgische Behörde für öffentliche Jugendfürsorge.

      In der Weimarer Republik wurde das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) als erstes deutsches Jugendhilfegesetz 1922 verabschiedet. Es trat am 1.4.1924 in Kraft. Auf seiner Basis konnten flächendeckend in den Kommunen Jugendämter als staatliche Institutionen zur Unterstützung und Überwachung familiärer Sozialisation und des Aufwachsens junger Menschen eingerichtet werden. Damit folgte man den Forderungen der Sozialreformer nach einer Vereinheitlichung und Bündelung aller Einrichtungen und Maßnahmen der Jugendfürsorge.

      Das RJWG bezog sich auf verschiedene Aufgaben: die Amtsvormundschaft für uneheliche Kinder, die Durchführung der Fürsorgeerziehung, die Subventionierung und Organisation der Jugendpflege und der Jugendgerichtshilfe und die Koordinierung der staatlichen und privaten Leistungen. In § 1 RJWG wurde auch das Recht eines jeden deutschen Kindes „auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit“[19]aufgenommen. Der Grundsatz der Subsidiarität, der bis in das heutige Kinder- und Jugendhilfegesetz Bestand hat, wurde kodifiziert. Er legt eine Nachrangigkeit der staatlichen Hilfen und Eingriffe gegenüber der familiären Erziehung und der nichtstaatlichen, d.h. verbandlichen oder freien Unterstützungsangebote fest. Dies bedeutet, dass das Jugendamt nur bei nachweislichem und schwerwiegendem Versagen der Eltern in familiäre Erziehung eingreifen darf und dass es nur dann selbst Hilfeangebote durchführen darf, wenn es keine freien oder verbandlichen Träger gibt, die diese Hilfen durchführen könnten.

      Beide Aspekte von Subsidiarität werden immer wieder in Frage gestellt. So kollidiert auch heute bei Kindeswohlgefährdung und mangelnder Förderung von Kindern durch ihre eigenen Eltern der Wunsch nach mehr staatlicher Kontrolle und besseren Eingriffsmöglichkeiten mit dem verfassungsmäßigen Recht von Eltern, die Erziehung ihrer Kinder selbstbestimmt durchführen zu können. Die Subsidiarität der staatlichen Hilfen gegenüber den Angeboten der freien Träger wird ab und an als Interessenschutz für die starken Wohlfahrtsverbände kritisiert.

      Nach Einführung des RJWG begann eine vorsichtige Ausdifferenzierung der Fürsorgeangebote nach Klientel und Problemintensität und ab 1928 nahmen niedrigschwellige Angebote wie die Schutzaufsicht an Anzahl zu (s.u.).

      Parallel zum RJWG wurde