Ute Reichmann

Handbuch Ambulante Einzelbetreuung


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angepasste Konzepte können auch nach § 35a als Eingliederungshilfen für seelische behinderte junge Menschen installiert werden und nach § 41 als Hilfen für junge Erwachsene.

      Der Reihung im KJHG entsprach ursprünglich der Gedanke einer zunehmenden Intensivierung der Hilfeangebote. Dementsprechend gilt die Erziehungsberatung nach § 28 als die niedrigschwelligste und die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung nach § 35 als die intensivste Hilfeform.

      Alternativ zur Heimerziehung als familienersetzende Maßnahme stehen verschiedene beratende, ambulante und teilstationäre Angebote zur Verfügung, die familienunterstützend und -ergänzend eingesetzt werden können und dazu dienen sollen, Eltern in [25] ihrer Erziehungskompetenz zu stärken und junge Menschen in ihrer Entwicklung zu fördern. Die Hilfearten gelten grundsätzlich als gleichrangig und nach § 27 sind auch individuell zugeschnittene Maßnahmen, die im Katalog des KJHG nicht vorkommen, oder Kombinationen von Hilfen zur Erziehung möglich.

      Voraussetzung für die Durchführung eines Hilfeangebots nach dem KJHG ist das Vorliegen eines erzieherischen Bedarfs, der Nachweis der Geeignetheit und Notwendigkeit der Hilfe und ein Jugendhilfeantrag durch die Erziehungsberechtigten. Der Rechtsanspruch auf Jugendhilfe besteht also nur für Erziehungsberechtigte und nicht für Minderjährige. Erziehungsberechtigt sind in der Regel die Eltern (Urban 2004: 30) Jedoch besitzen Minderjährige das unabhängige Recht, sich beim Jugendamt beraten und in Obhut nehmen zu lassen (nach § 42 SGB VIII). Soll Jugendhilfe gegen den Willen der Eltern installiert werden, so bedarf es der Ersetzung des elterlichen Antragsrechts über das Familiengericht. Dies wird bei ambulanten Hilfen nur selten der Fall sein, weil die erwartbar stark ablehnende Haltung der Eltern nach dem gerichtlichen Eingriff die ambulante Jugendhilfemaßnahme konterkarieren würde.

      Junge Erwachsene ab 18 Jahren besitzen ein eigenes Recht, Jugendhilfe zu beantragen (Hilfen für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII). Viele Jugendhilfemaßnahmen, wie z.B. stationäre Erziehungshilfe, werden aber in diesem fortgeschrittenen Alter in der Regel nicht mehr für sinnvoll gehalten.

      Jugendhilfeleistungen sind kostenlos. Allerdings werden bei stationären Maßnahmen, bei denen der junge Mensch vollständig anderweitig untergebracht ist, das Kindergeld und gegebenenfalls weitere Unterhaltsleistungen der Eltern innerhalb der Leistungsgrenzen einbehalten bzw. zurückgefordert.

      Mit der Ablösung der Schutzaufsicht durch die Erziehungsbeistandschaft erfolgte rein begrifflich eine zweimalige Schwerpunktverschiebung: von der staatlichen Beaufsichtigung zur Erziehungshilfe und vom jungen Menschen auf die erziehenden Eltern als direkte Adressaten der Hilfe. Die Erziehungsbeistandschaft wurde als Unterstützungsangebot konzipiert, um die erziehungsberechtigten Eltern zu entlasten und in ihrer Erziehungsverantwortung zu stärken.

      Der Einsatz einer Erziehungsbeistandschaft beinhaltet die Unterstützung eines jungen Menschen durch einen ihm zugeordneten Erwachsenen, der ihm hilft, soziale Probleme zu lösen und Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Damit ähnelt diese Form der Einzelfallarbeit dem Case-Work-Konzept von Mary Richmond (s.o.). Die Arbeit ist niedrigschwellig, basiert auf einer persönlichen Beziehung, wird aufsuchend geleistet und bezieht das Umfeld und seine Ressourcen in die Arbeit ein. Ziel ist die Kompensation von Erziehungsdefiziten, individuelle Förderung, Persönlichkeitsentwicklung und soziale Integration bzw. Resozialisierung (bei gerichtlicher Weisung). Die Erziehungsbeistandschaft kann wie die Schutzaufsicht durch gerichtliche Anordnung alternativ zu einer strafrechtlichen Sanktion angeordnet wie auch freiwillig auf Antrag der Eltern bei den Jugendämtern gewährt werden.

      Zum Ende des 20. Jahrhunderts nahm der Anteil der Betreuungsweisungen an den Erziehungsbeistandschaften deutlich ab. So stellten die Betreuungsweisungen 1970 knapp die Hälfte der Erziehungsbeistandschaften, aber 1990 nur noch 5,8 %. Dies[26] zeigt schon vor der Einführung des KJHG einen Trend der Jugendhilfe weg vom staatlichen Eingriffshandeln und hin zu freiwilligen Unterstützungsangeboten.

      Die Rechte und Pflichten der Erziehungsbeistände im JWG unterschieden sich unwesentlich von denen der früheren Schutzaufseher. Um 1960 arbeiteten Erziehungsbeistände nach wie vor weitgehend ehrenamtlich. Diese Praxis kritisierte der 3. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung 1972 und regte die Einstellung hauptamtlicher professionell gebildeter Erziehungsbeistände an. Hinzu kam eine Berichtspflicht auf Anforderung der Jugendämter und Vormundschaftsgerichte (vgl. Münder 2006).

      In der Formulierung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes von 1990/91 wurde die Bezeichnung Erziehungsbeistandschaft für die Hilfe nach § 30 SGB VIII beibehalten, aber als primärer Adressat des Angebots steht eindeutig der junge Mensch im Mittelpunkt:

      „Der Erziehungsbeistand und der Betreuungshelfer sollen das Kind oder den Jugendlichen bei der Bewältigung von Entwicklungsproblemen möglichst unter Einbeziehung des sozialen Umfelds unterstützen und unter Erhaltung des Lebensbezugs zur Familie seine Verselbstständigung fördern.“

      Die Erziehungsbeistandschaft ist ein unspezifisches Jugendhilfeangebot und wird methodisch wie auch hinsichtlich der Rahmenbedingungen örtlich sehr unterschiedlich umgesetzt (vgl. Fröhlich-Gildhoff 2003). Die Abgrenzung gegenüber den Flexiblen Hilfen nach § 27, die nach Einführung des KJHG außerhalb des vorgegebenen Hilfekatalogs möglich wurden, und der intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung (ISE) nach § 35 SGB VIII ist nicht trennscharf und auch die Indikation ist uneindeutig (s.u.). Anders als die ISE ist die Erziehungsbeistandschaft auf die Integration junger Menschen in das jeweils bestehende Sozialisationsumfeld gerichtet.

      Die „Ambulantisierung der Jugendhilfe“ (vgl. Krüger 1985, Fröhlich-Gildhoff 2002: 25) nach der Einführung des KJHG hat bis heute zu einer starken Zunahme der Erziehungsbeistandschaften geführt (s.u.).

      Die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung nach § 35 SGB VIII (ISE) ist seit der Verabschiedung des KJHG Teil der Erziehungshilfen. Das Konzept beruht u.a. auf den Ergebnissen eines Modellversuchs zur „Heilpädagogischen Intensivbetreuung“ in den 1980er Jahren in Hessen, in dem als Alternative zur geschlossenen Unterbringung schwieriger Jugendlicher mit Eins-zu-eins-Betreuung experimentiert wurde (Fröhlich-Gildhoff 2003).

      Im KJHG werden Inhalte und Aufgaben des Angebots folgendermaßen beschrieben:

      „Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung soll Jugendlichen gewährt werden, die einer intensiven Unterstützung zur sozialen Integration und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung bedürfen. Die Hilfe ist in der Regel auf längere Zeit angelegt und soll den individuellen Bedürfnissen des Jugendlichen Rechnung tragen.“

      Von der Erziehungsbeistandschaft unterscheidet sich die ISE ursprünglich durch eine wesentlich höhere Betreuungsintensität. Die Zielgruppe dieser Hilfeform sind Jugendliche,[27] die eine Jugendhilfekarriere – häufig mehrere Pflegefamilien und Heimaufenthalte – hinter sich haben und durch herkömmliche Angebote nicht mehr erreicht werden können. Die angebotenen Unterstützungsmöglichkeiten sollen möglichst individuell auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten werden. Der Betreuungsschlüssel kann sehr hoch sein – bis zur Eins-zu-eins-Betreuung. Diese Form intensivster persönlicher Betreuung und Begleitung wurde und wird nur selten umgesetzt.

      Anders als die Erziehungsbeistandschaft entstammt die ISE einer durch Psychologie, Tiefenpsychologie und Therapie beeinflussten methodischen Richtung Sozialer Arbeit. Ihr liegt die Idee zugrunde, dass junge Menschen, die unter stark belastenden Sozialisationsbedingungen aufgewachsen sind, durch eine nachsorgende, persönliche, enge Beziehung zu einer einzelnen Betreuungsperson konstruktive Bindungsmuster und Beziehungsformen lernen können. Ihr Grundmisstrauen, das sie in früheren defizitären Beziehungen erworben haben, soll durch die Erfahrung einer Vertrauensbeziehung grundsätzlich korrigiert werden. Das auf eine enge und ausschließliche Betreuungsbeziehung angelegte Setting der ISE ist inzwischen gerade für traumatisierte und/oder bindungsgestörte junge Menschen umstritten. Die hohe persönliche Intensität begünstigt emotionale Eskalationen und unabgegrenzte und damit belastende Arbeitsbeziehungen zwischen Betreuungsperson und betreutem jungen Menschen. Daher werden diese im KJHG intendierten sehr intensiven Hilfen inzwischen kaum noch realisiert. Fröhlich-Gildhoff (2003) stellt in seiner Studie