Ute Reichmann

Handbuch Ambulante Einzelbetreuung


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% und bei den am 31.12.2015 laufenden ambulanten Hilfen nach §§ 30 und 35 SGB VIII lag der Anteil mit 61,3 % leicht darüber.

      Der deutliche und anhaltende Überhang männlicher junger Menschen in der Jugendhilfe ist eine viel diskutierte Tatsache, die sich bislang kaum in die eine oder andere Richtung verändert. Heranwachsende Jungen zeigen mehr Verhaltensauffälligkeiten und sind häufiger delinquent. Bei den psychischen Störungen zeigen Jungen mehr Aggression und mehr Verhaltensauffälligkeiten, wogegen Mädchen unauffälliger bleiben. Das Leistungsversagen vieler Jungen in der Schule und ihre Schwierigkeiten sich sozial zu integrieren ist häufig Thema der Medien, wobei unterschiedliche Ursachen kontrovers diskutiert werden. Betrachtet man die geschlechtsspezifische schulische Leistungsfähigkeit im Verhältnis zu den anschließenden beruflichen Karrierechancen, zeigen Mädchen und Jungen dauerhaft stabile Diskrepanzen: Mädchen zeigen traditionell bessere Schulleistungen und kommen durchschnittlich mit den schulischen Verhaltensanforderungen besser zurecht. Dagegen sind weiterhin trotz durchschnittlich deutlich [34] größerer Anpassungsprobleme in der Schule die meisten Jungen bei der Durchsetzung beruflicher Karrieren im Vorteil. Gleichzeitig ist unter den Jugendlichen ohne Schulabschluss die Gruppe der männlichen Jugendlichen wesentlich größer. Die Situation dieser Gruppe lässt sich nur schwer durch außerschulische Hilfen im Übergangssystem verbessern.

      In der Jugendhilfe werden nicht nur deutlich mehr Hilfen bei Jungen und männlichen jungen Erwachsenen eingesetzt, diese sind auch intensiver und dauern länger. Ähnlich wie in der Schulpädagogik ergibt sich die Situation, dass der höhere Förderbedarf der Jungen überwiegend durch weibliches Personal umgesetzt wird. Diese „Feminisierung“ der Pädagogik wird im öffentlichen Diskurs zum Teil für die diskrepanten geschlechtsspezifischen Ergebnisse verantwortlich gemacht. Doch alle statistischen Hinweise zeigen zumindest bezogen auf die Schulpädagogik das Gegenteil: In der Grundschule, wo der Anteil von Frauen am größten ist, ist das Gender-Gap in der Leistungsbeurteilung am geringsten, am Gymnasium mit dem größten Anteil männlicher Lehrer am größten. Lehrer bewerten Jungen durchschnittlich schlechter und männliche Lehrkräfte sind bei Jungen weniger beliebt. Vor allem im kritischen Diskurs um Jungenarbeit (beispielhaft Cremers 2011) wird die Konstruktion und Kritik von Geschlechtsstereotypen und die Rolle der Pädagogik dabei diskutiert. Während auf der einen Seite jungenbezogene Angebote durch männliche Pädagogen gefordert werden, macht die andere Seite auf Problematiken der Verfestigung traditioneller und wenig hilfreicher Männlichkeitsnormen in Jungengruppen aufmerksam.

      Betrachtet man die Alterszusammensetzung, liegt bei allen ambulanten Einzelbetreuungen die Hauptzielgruppe bei den 15–18-Jährigen gefolgt von den 18–21-Jährigen bei den intensiven ambulanten Einzelbetreuungen (§ 35 SGB VIII) mit knapp 29 % und den 12–15-Jährigen bei den Erziehungsbeistandschaften und Betreuungsweisungen (§ 30 SGB VIII). Unter 9-Jährige werden selten betreut.

      Etwa 83 % aller ambulanten Einzelbetreuungen werden mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter zwischen 12 und 21 Jahren durchgeführt. Davon etwa die Hälfte sind im Alter zwischen 15 und 18 Jahren.

      Die Themen dieser Hilfeart werden durch die Entwicklungsaufgaben der brisanten Lebensphase Jugend bestimmt: Die langsame Ablösung aus der Familie und zunehmende Verselbstständigung, der Übergang zwischen Schule und Beruf bei der Bildungslaufbahn und die sexuelle und soziale Entwicklung. Ambulante Einzelbetreuung wird in vielen Fällen als Maßnahme zur Begleitung dieser Übergänge eingesetzt.

      In den letzten Jahren ließ sich häufig feststellen, dass Migrantinnen und Migranten an den wohlfahrtsstaatlichen Unterstützungsangeboten nicht entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil partizipierten. Dies galt auch für die Hilfen zur Erziehung. Für die Ambulanten Einzelbetreuungen lässt sich das nicht nachweisen. Mit einem Anteil von 31 % an den Ambulanten Einzelbetreuungen zum Jahresende 2015 und einem Zuwachs von 29 % gegenüber den Daten des statistischen Bundesamtes von 2008 sind migrantische Jugendliche in den ambulanten einzelfallbezogenen Hilfen teilweise sogar überrepräsentiert.

      Es gibt einen ausgeprägten Zusammenhang zwischen Sozialleistungsbezug und der Nutzung der Hilfen zur Erziehung. Der Anteil der Sozialleistungsempfänger bei den Hilfen zur Erziehung insgesamt liegt bei 43 % (2009).

      Der Alleinerziehendenstatus, der ein erhebliches Armutsrisiko beinhaltet, erhöht die Wahrscheinlichkeit, Hilfen zur Erziehung in Anspruch zu nehmen, ebenfalls. 2007 hatten Alleinerziehende gegenüber nicht Alleinerziehenden eine fünffach erhöhte Erziehungshilfequote. Für diese Bevölkerungsgruppe lag der Anteil der Sozialleistungsempfänger[35] bei 70 %. Dabei waren es vor allem die familienergänzenden Hilfen, darunter die ambulante Einzelbetreuung und die Familienhilfe, die von diesem Klientel in Anspruch genommen wurde, weniger die Erziehungsberatung und die Hilfen bei seelischer Behinderung (§ 35a SBG VIII).

      Nicht nur die Hilfen zur Erziehung insgesamt werden sozial selektiv genutzt, sondern bei den ambulanten Erziehungshilfeangeboten ist die soziale Selektivität noch einmal erhöht. Deren Klientel ist in weiten Teilen durch eine ungünstige finanzielle Lage verbunden mit großen sozialen Problemen gekennzeichnet. Beim Jugendamt des Landkreises Göttingen zeigte ein Vergleich von 383 Maßnahmen der ambulanten Einzelbetreuung mit 444 Maßnahmen der Sozialpädagogischen Familienhilfe aus den Jahren 2004–2008, dass die ökonomische Lage bei der ambulanten Einzelbetreuung sogar noch bedrückender war als in der sozialpädagogischen Familienhilfe. Ökonomische Probleme wurden um die Hälfte häufiger genannt, Delinquenz und Inhaftierung von Eltern war häufiger Hilfeanlass und die Beziehungen der jungen Menschen zum sozialen Umfeld waren deutlich schlechter.

      Ambulante Einzelbetreuung setzt also als Hilfeangebot am unteren sozialen Spektrum an. Es werden oft mehrfach benachteiligte junge Menschen betreut, bei denen kaum finanzielle, soziale und bildungsbezogene Ressourcen vorhanden sind. Sozialpolitisch besonders problematisch ist der Umstand, dass ausgerechnet bei einem extrem benachteiligten Klientel die Qualitätsstandards nicht gesichert sind und die Kostenaspekte eine große Rolle spielen.

      Die ambulanten Jugendhilfeangebote Erziehungsbeistandschaft und Sozialpädagogische Familienhilfe verzeichneten nach der Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes gleichermaßen hohe Zuwachsraten. Dabei galt vor allem die sozialpädagogische Familienhilfe als Hoffnungsträger für diejenigen, die vom KJHG einen Paradigmenwechsel erwartet hatten. Alltagsorientierte und unterstützende Angebote sollten die bisherige Eingriffsorientierung ablösen, die Erziehungskompetenz der Familien stärken und damit für Kinder und Jugendliche die Bedingungen des Aufwachsens innerhalb der Herkunftsfamilie nachhaltig verbessern. Die sozialpädagogische Familienhilfe schien all diesen Erwartungen ideal zu entsprechen. Ihr Ausbau war von einem intensiven Professionalisierungsschub getragen. In öffentlich geförderten Expertisen wurde eine elaborierte arbeitsfeldspezifische Methodik erarbeitet und Qualitätsstandards festgelegt (beispielhaft: Helming, Schattner, Blüml 19993). Dies blieb nicht ohne Auswirkungen auf das Qualifizierungsniveau der Fachkräfte. Träger bildeten hilfeartspezifische Angebotsstrukturen aus. Als Ergebnis entwickelte sich die Sozialpädagogische Familienhilfe von einem in früheren Jahren überwiegend ehrenamtlichen Tätigkeitsfeld zu einem professionalisierten, strukturierten und anerkannten Bereich der Jugendhilfe. Die Hilfeart ist als Arbeitsschwerpunkt auf Hochschulebene präsent und wird regelmäßig durch empirische Studien begleitet und evaluiert.19 Sozialpädagogische Familienhilfe [36] ist zu einem mindestens gleichberechtigten Standardangebot der Hilfen zur Erziehung geworden.

      Für die Erziehungsbeistandschaften, den weitaus größten Anteil der ambulanten Einzelbetreuungen, ist eine vergleichbare Entwicklung ausgeblieben. Obwohl sie zahlenmäßig ebenfalls sehr stark zunahmen, entwickelte sich weder ein nennenswertes wissenschaftliches noch ein erkennbares methodisches Interesse. Bis auf eine Studie von Fröhlich-Gildhoff (2003) gibt es kaum empirische Literatur zu dieser Hilfeart, keine Forschung zu methodischen Weiterentwicklungen und keine wissenschaftlichen Evaluationen. Die verbreiteten niedrigschwelligen Betreuungsangebote mit geringen wöchentlichen Stundenzahlen blieben vom fachlich-methodischen Diskurs und von der strukturellen und wissenschaftlichen Weiterentwicklung weitgehend ausgeschlossen, obwohl die Betreuungszahlen weiterhin ansteigen.

      Der geringen Aufmerksamkeit der Fachwelt entspricht eine heterogene und fast zufällig scheinende Umsetzung der Maßnahmen. Dabei