Ute Reichmann

Handbuch Ambulante Einzelbetreuung


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Einzelbetreuer sollten sich zum Sachwalter von Klarheit, Transparenz und Zuverlässigkeit der Maßnahme machen vor einem Lebenshintergrund, der diese Merkmale oft vermissen lässt.

      Respekt, Höflichkeit

      Von Herzen kommendes respektvolles und höfliches Verhalten ist nicht nur ein unübertroffener Türöffner, es ist ebenfalls Garant eines partizipativen, gewaltfreien Umgangs miteinander und wirkt auch in extrem hoch gekochten Situationen deeskalierend bzw. die Eskalationen verlangsamend, wenn nicht gar sie verhindernd. Darüber hinaus regt respektvolles Verhalten zur Nachahmung an.

      [45]Interesse

      Rogers (19813) Begriff der Empathie setzt sich aus einem echten Interesse am Gegenüber, dem Wunsch sie oder ihn zu verstehen, und der Fähigkeit der Perspektivenübernahme zusammen (s.u.). Interesse am anderen mobilisiert in der professionellen Fachkraft Engagement und Energie. Dadurch wird sie in die Lage versetzt, dem widerständigsten Problem länger auf der Spur zu bleiben als die Adressatin oder der Adressat selbst, die oder der zwar das Problem hat, aber vorzeitig an der Lösungsarbeit ermüdet. Ambulante Einzelbetreuerinnen und Einzelbetreuer brauchen Durchhaltevermögen, Geduld und ausreichend Energie, den Dingen auf den Grund zu gehen. Diese Energie wirkt auf die betreuten jungen Menschen ermutigend. Interesse und Neugier sind starke und nachhaltige Impulsgeber für die Betreuungsbeziehung, weil das Suchen nach Lösungen – beinahe mehr als das Finden von Lösungen – von Entdeckerfreude und Glück begleitet ist.

      Einfühlungsvermögen, Perspektivenübernahme

      Sich in die Perspektive eines anderen zu versetzen, sich wortwörtlich in die Schuhe einer anderen Person zu stellen – to put yourself in somebody’s shoes – ist eine anspruchsvolle kognitive Leistung, die nicht allen Menschen gleichermaßen gegeben ist, aber systematisch geübt werden kann. Ein Schritt dabei ist, nichts, was man verstanden zu haben meint, für sicher zu halten und alles, was gehört und beobachtet wird, zu überprüfen. Das Bemühen darum, sich die Perspektive des anderen zu erarbeiten und deshalb im Zweifel immer wieder nachzufragen, wie etwas gemeint war, wirkt glaubwürdig und vertrauensbildend, weil die Adressatinnen und Adressaten damit die Deutungshoheit darüber behalten, wie sie wirken und wahrgenommen werden.

      Drei authentische Beispielfälle für ambulante Einzelbetreuungen zeigten unterschiedliche Ausgangslagen:

      Die 17- jährigen Zwillinge Dennis und Christian schwänzten seit einiger Zeit die Schule und verbrachten ihre Zeit ausschließlich mit Computerspielen. Julia war in der Schule durch ihr stilles Verhalten im letzten halben Jahr aufgefallen. Dies stand möglicherweise mit einer Ehekrise von Julias Eltern in Zusammenhang. Rina war sehr dünn und wegen ihres starken Untergewichts schon mehrmals in der Klinik gewesen. Sie nahm dort zu, aber ihr erreichtes Gewicht ließ sich jeweils nicht halten, nachdem sie nach Hause zurück gekehrt war. Aus Sicht der meldenden Ärztin hatte Rinas Untergewicht inzwischen lebensbedrohliche Züge angenommen.

      Bei allen drei Fällen war der Zugang zum Jugendamt unterschiedlich gewesen: Bei den Zwillingen hatten die Eltern um Beratung gebeten, bei Julia hatte die Lehrerin angerufen und bei Rina ihre Ärztin. In keinem Fall war es der junge Mensch selbst, der beim Jugendamt um Beratung ersucht hatten. Bisher – dies hat sich auch nach der Umformulierung des § 8 SGB VIII durch das Bundeskinderschutzgesetz (BKiSchG) im Januar [46]2012 nicht geändert22 – haben Minderjährige nur im Ausnahmefall das Recht, eine Beratung durch das Jugendamt ohne ihre Eltern in Anspruch zu nehmen.

      Unabhängig vom Zugang und der Ausgangsproblematik werden die Hilfeangebote des Jugendamts durch das Verfahren der Hilfeplanung gesteuert, das alle Betroffenen, auch die jungen Menschen, an der Beratung, der Festlegung der Hilfe und der Interventionsplanung beteiligen soll. In der Praxis der Beratungs- und Erstgespräche tragen in der Regel die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialdienstes des Jugendamtes (ASD) zusammen mit den jungen Menschen und ihren Eltern die vorläufigen Ziele und Aufgaben für die zukünftige Jugendhilfemaßnahme zusammen.

      In den Gesprächsprotokollen der oben genannten drei Fälle wurde unter der Überschrift „Was braucht der junge Mensch (notwendige Veränderungen)? Welche Ziele sollen mit der Hilfe erreicht werden?“ unter anderem Folgendes protokolliert:

      „Christian und Dennis brauchen Stabilität und Konsequenz in der Erziehungshaltung. Es soll ein regelmäßiger Schulbesuch erreicht werden. Voraussetzung dazu ist die Erarbeitung einer Alltagsstruktur und ein Wiedererlangen des normalen Tag- Nacht- Rhythmus. Der ambulante Einzelbetreuer sollte den Zwillingen sinnvolle Möglichkeiten der Freizeitgestaltung vorstellen und sie ermutigen, sich sportlich zu betätigen, Kontakte zu knüpfen und sich ggf. in einem Verein zu engagieren.“

      „Julia braucht eine ruhige und verlässliche Kommunikationspartnerin, der sie sich anvertrauen kann und an deren Seite sie mittelfristig lernt, sich zu öffnen und auf andere zuzugehen. Zunächst sollte die Einzelbetreuung hauptsächlich im Eins- zu- eins- Kontakt stattfinden. Da Julia in der Schule in ihren Leistungen zurückgefallen ist, sollte die Begleitung der Hausaufgaben mit zu den Aufgaben der Einzelbetreuerin gehören. Julia möchte gerne reiten lernen und wünscht sich, dass die Einzelbetreuerin ihr hilft, einen Verein zu finden, und sie anfänglich dorthin begleitet.“

      „Rina soll vor allen Dingen an Gewicht zunehmen und in der Schule wieder Anschluss gewinnen. Die Einzelbetreuerin soll mit ihr eine gesunde Ernährung erarbeiten und mit ihr darauf achten, dass sie sie umsetzt. Die Jugendhilfemaßnahme soll darüber hinaus Rinas Eltern bei der Gesundheitsfürsorge unterstützen, nach Bedarf Rina zum Arzt begleiten und den Eltern vermitteln, was für Rinas Entwicklung und Förderung notwendig ist. Eine ständige Gewichtskontrolle Rinas ist erforderlich. Zu diesem Zweck soll engmaschig mit ihrer Ärztin kooperiert werden. Rina braucht Zuhause die Möglichkeit sich zurück zu ziehen und zum Beispiel in Ruhe ihre Hausaufgaben zu machen. Hierfür sollte die ambulante Einzelbetreuerin in Kooperation mit der Familie die Bedingungen schaffen.“

      Auffällig an diesen Protokolltexten ist, dass sie einen starken Erwartungsgestus und zahlreiche Soll-Formulierungen in Bezug auf den jungen Menschen zeigen. Dessen Perspektive scheint gegenüber den Perspektiven der anderen Akteure nachgeordnet zu sein.

      Es kommt leider nicht selten vor, dass in Hilfeplanprotokollen, Aufträgen und Zielformulierungen der ambulanten Einzelbetreuung und anderer Jugendhilfeangebote die betreuten jungen Menschen nicht als Subjekte betrachtet und angesprochen, sondern mit Forderungen der Eltern, Anpassungswünschen des Bildungssystems und gesellschaftlichen Ansprüchen auf Normerfüllung konfrontiert werden, hinter denen ihre eigenen [47]Vorstellungen, Planungen und Ziele unformuliert bleiben. Weder im Protokolltext zu den Zwillingen noch in dem zu Rina wird die Perspektive der jungen Menschen berücksichtigt. Auch wenn in Rinas Text anscheinend ihre Interessen formuliert werden, wird doch nur der gesellschaftliche Standard eines eigenen für die Anfertigung von Hausaufgaben angemessen ausgestatteten Zimmers mit ihren Bedürfnissen gleich gesetzt. Nur im Text, der sich auf die kleine Julia bezieht, kommen deren Wünsche als eigenständiger Auftrag an die Einzelbetreuung vor.

      Wird die ambulante Einzelbetreuung zum Agenten der Interessen und Aufträge anderer Personen und Institutionen, kann dies die Möglichkeit verstellen, Ansatzpunkte, Motivation und Ziele beim jungen Menschen und seiner Perspektive zu finden. Einzelbetreuerinnen und Einzelbetreuer werden zum reinen Transporteur der Anforderungen Dritter an ein als passiv aufgefasstes Erziehungsobjekt.

      Dies ist dann besonders heikel, wenn die Problemursache gar nicht beim jungen Menschen liegt. Nach den empirischen Daten der Kinder- und Jugendhilfestatistik werden nur etwa bei einem Drittel aller Jugendhilfemaßnahmen und bei weniger als der Hälfte der ambulanten Einzelbetreuungen die Gründe für die Beantragung der Hilfe in den Problemen des jungen Menschen gesehen. Dies können Verhaltensauffälligkeiten, eine von der Norm abweichende Entwicklung, schulische Schwierigkeiten oder Probleme bei der Ausbildung sein. Bei den übrigen zwei Dritteln aller Jugendhilfemaßnahmen und mehr als der Hälfte aller Einzelbetreuungen kommen elternbezogene Defizite als Hilfeanlass in Betracht: Junge Menschen werden durch die konfliktbeladene häusliche Situation, durch die Sucht der Eltern oder deren psychische Erkrankung, durch Erziehungsdefizite oder durch den Ausfall von Bezugspersonen infolge von Krankheit, Tod oder unbegleitete