Maßnahmen sinnvoll sind, wirkt Jugendhilfe bei den elternbezogenen Hilfeanlässen hauptsächlich familienergänzend: in Ersatzfunktion für eine ausgefallene oder disfunktionale elterliche Sozialisation und Erziehung. Trotzdem setzt – anders als bei der sozialpädagogischen Familienhilfe, bei der alle Beteiligten in ihrer Eigenverantwortung angesprochen werden – die ambulante Einzelbetreuung nicht auf eine direkte Einflussnahme bei den Eltern, sondern versucht eine elternunabhängige Förderung und Unterstützung des jungen Menschen unter Erhalt der familiären Strukturen. Den jungen Menschen wird die hauptsächliche Veränderungsverantwortung angelastet, ohne dass sie als Subjekte der Hilfe angemessen positioniert würden.
Neben diesem Widerspruch zwischen Veränderungsverantwortung und mangelndem Subjektstatus ist die methodische Position der ambulanten Einzelbetreuung auch deshalb unbefriedigend, weil die Problemursachen, die bei den Eltern liegen, im Konzept der Hilfe nicht ausreichend bedacht sind. Während die sozialpädagogische Familienhilfe sich methodisch eindeutig im systemischen Denken verorten konnte, alle Akteure zur Mitarbeit verpflichtet und eine vermittelnde, überparteiliche Einstellung einnimmt, bleibt die ambulante Einzelbetreuung auf den jungen Menschen fixiert.
Wenn der Veränderungsimpuls und die alleinige Verantwortung zur Problemlösung beim jungen Menschen angesiedelt ist, beinhaltet dies eine grundsätzliche Überforderung und kann als ungünstigen Nebeneffekt bewirken, dass Eltern vorschnell aus ihrer Verantwortung für die Problemlösung entlassen werden. Veränderung ist aber häufig nur als Entwicklung der ganzen Familie denkbar. Dies gilt besonders für Kinder, aber auch für [48]Jugendliche und sogar für junge Erwachsene, die meist auf ihre Herkunftsfamilien bezogen bleiben, selbst wenn der Kontakt nur selten stattfindet.
Das Kinder- und Jugendhilfegesetz gesteht Kindern und Jugendlichen eine aktive Rolle im Prozess der Hilfeplanung zu. Doch dies wird bisher nicht umfassend umgesetzt (vgl. Pluto 2007). Die übergeordnete Aufgabe der ambulanten Einzelbetreuung wie jeder Jugendhilfemaßnahme besteht in der Ermöglichung von Partizipation und gesellschaftlicher Teilhabe des jungen Menschen. Dies bedeutet:
■ Die Einzelbetreuerin und der Einzelbetreuer sind angehalten die Partizipation des betreuten jungen Menschen in der Hilfeplanung so weitgehend wie möglich zu unterstützen (§ 8 und § 36 SGB VIII). Dies geschieht, indem die dazu notwendigen sozialen und Kommunikationskompetenzen angeeignet, die Reflexion, Formulierung und angemessene Durchsetzung der eigenen Interessen geübt, gemeinsam Planungs-, Verhandlungs- und Lösungsstrategien in der Auseinandersetzung mit anderen praktiziert werden und der Umgang mit Behörden und Institutionen trainiert wird. Die Jugendhilfemaßnahme und der sie begleitende Hilfeplanungsprozess ist selbst ein wesentliches Übungsfeld für die Haltungen und Kompetenzen, die gesellschaftliche Teilhabe und die Übernahme einer aktiven und verantwortungsvollen Rolle im Gemeinwesen ermöglichen. Dies kann nicht in Form von Anordnungen geschehen, sondern der Hilfeplanungs- und Hilfegestaltungsprozess als solcher muss von den Fachkräften so entworfen und umgesetzt werden, dass dem jungen Menschen die Vorteile eines kooperativen und demokratischen Verhaltens überzeugend erscheinen.
■ Die ambulante Einzelbetreuung beinhaltet gleichfalls die Aufgabe, eine demokratische Aushandlungspraxis in den betreuten Familien ausdrücklich zu unterstützen, die dazu notwendigen Haltungen und Kompetenzen bei allen Beteiligten zu fördern, auf eine demokratisch-partizipative Erziehung zu drängen und die dazu notwendigen Methoden zu vermitteln. Dies betrifft unmittelbar das gelebte Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Über den advokatorisch-parteilichen Auftrag gegenüber dem betreuten jungen Menschen hinaus folgt aus dieser Vorgabe, dass nicht seine Interessenvertretung um jeden Preis, sondern lösungsorientierte und auf Aushandlung und Ausgleich von Interessengegensätzen ausgerichtete kooperative Kommunikationsstrategien im Vordergrund der Maßnahme stehen müssen.
■ Bildungsinstitutionen sind nicht nur Einrichtungen sozialer Auslese, sondern sie können – und sollen zunehmend – als Ermöglichungsinstitutionen für individuelle Entwicklung und die Erschließung gesellschaftlicher Teilhabe für bildungsferne und benachteiligte junge Menschen nutzbar werden. Der Auftrag der Jugendhilfe und damit auch der Einzelbetreuung besteht also nicht in der Reproduktion des Anforderungsdrucks, den Schulen und Ausbildungsinstitutionen immer noch überwiegend hervorbringen, sondern in einer Umgestaltung des Bildungssystems in einen zugänglichen Raum für Handlungsmöglichkeiten, Gemeinschaftsgefühl, das Erleben von Sinn und das Entwickeln und Ausleben persönlicher Perspektiven.
Nicht zuletzt gehört zu den übergeordneten Aufgaben der Jugendhilfe, dem jungen Menschen die menschliche Gesellschaft als Horizont zur Verwirklichung individueller Möglichkeiten zugänglich zu machen. Mobilität muss gelernt, soziale und kulturelle Schwellen müssen abgebaut, kulturelle, musische und sportliche Betätigung geübt, Interesse an der natürlichen und sozialen Umwelt gepflegt und insgesamt eine angemessene und aktive Aneignung gesellschaftlicher Wirklichkeit praktiziert werden. Die Ächtung von gewalttätigen, andere schädigenden Strategien, eine respektvolle und[49] tolerante Haltung gegenüber anders Denkenden und Fühlenden und die Anerkennung der grundsätzlichen Gleichberechtigung aller Menschen ist unverzichtbarer Teil des Jugendhilfeauftrags.
Tabelle 3: Gesetzliche Orientierungen im Überblick
Paragrafen | Orientierungen |
§ 30 SGB VIII Erziehungsbeistandschaft, Betreuungsweisung | Verselbstständigung und Autonomie fördern |
Bewältigung von Entwicklungsproblemen unterstützen | |
Lebensweltorientierung | |
Erhalt des Lebensbezugs zur Familie | |
§ 35 SGB VIII Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung | soziale Integration unterstützen |
Autonomie fördern | |
AdressatInnenorientierung (Orientierung an den individuellen Bedürfnissen des jungen Menschen) | |
§ 5 SGB VIII Wunsch- und Wahlrecht | AdressatInnenorientierung |
§ 8 SGB VIII Beteiligung des jungen Menschen | Partizipation des jungen Menschen fördern |
§ 16 SGB VIII Allgemeine Förderung der Erziehung in der Familie | Gewaltfreiheit fördern |
§ 36 GB VIII Mitwirkung, Hilfeplan | Partizipation der Eltern und des jungen Menschen fördern |
§ 6 GG, KKG | Förderung der Familie |
§ 1631 BGB | Recht auf gewaltfreie Erziehung |
§ 1666 BGB, KKG | Kinderschutz, staatliches Wächteramt |
Quelle: Eigene Darstellung
Hilfe am Limit
Als Voraussetzung für die Hilfegewährung einer Jugendhilfeleistung nennt das Kinder- und Jugendhilfegesetz unter anderem die Geeignetheit und Notwendigkeit des jeweiligen Hilfeangebots (§ 27 SGB VIII). Obwohl dieses Kriterium im KJHG prominent platziert ist, sind die Grenzen der Hilfeangebote selten Thema der Fachdiskussionen. Aufgrund der jeweils spezifischen Rahmenbedingungen und Methoden sind nicht alle Hilfearten für die Bearbeitung aller Problematiken gleichermaßen geeignet. Bei welchen Problematiken gerät eine Hilfeart an ihre Grenzen? Wann also eignet sich eine Hilfe wie die ambulante Einzelbetreuung nach fachlichem Ermessen nicht für eine [50]Problembearbeitung und wann sollte sie durch ein anderes, geeigneteres Angebot ersetzt oder ergänzt werden?
Auch wenn die ambulante Einzelbetreuung ein außerordentlich flexibles Hilfeangebot ist, das aufgrund der geringen Strukturiertheit prinzipiell an beinahe jeden lebensweltlichen Kontext angepasst werden kann, entfaltet sie ihre Wirkung doch nur innerhalb der Grenzen ihres Betreuungssettings und ihren an zugehender, lebensweltorientierter Arbeit ausgerichteten Rahmenbedingungen.
Sozialkompetenzprobleme und Verhaltensauffälligkeiten junger Menschen stellen Problematiken dar, die häufig Hilfeanlass für eine ambulante Einzelbetreuung werden. Sozialer Rückzug und Isolation, unangemessenes Verhalten gegenüber anderen bis zur Übergriffigkeit und Aggressivität, Unruhe und Opposition in der Schule und allgemeine Schwierigkeiten bei der Kommunikation mit Gleichaltrigen gehören dazu. Soziales Lernen lässt sich aber in einem Eins-zu-eins-Kontakt nur eingeschränkt einüben, vor allem, wenn sich die sozialen Probleme des jungen Menschen