werden die informellen Interaktionen der Case Work teilweise durch formelle, bürokratische und standardisierte Verfahren, zum Beispiel in Form von Verpflichtungspraktiken in Vertragsform, ersetzt (Kontraktmanagement). Der Case Management-Ansatz passt zu einer Vorstellung von Sozialer Arbeit als sozialstaatlich organisierter Humandienstleistung. Adressatinnen und Adressaten werden als freiwillige, selbstbestimmte und kompetente Nutzerinnen und Nutzer des zur Verfügung stehenden Dienstleistungsangebots angesprochen. Diese Auffassung ignoriert allerdings die real sehr große Spannbreite der Zugangsmöglichkeiten und Kompetenzen. Die Gefahr besteht, dass beim Case Management der Anspruch auf Partizipation und das Recht auf Teilhabe nur noch im Sinne formal-bürokratischer Strukturen umgesetzt wird, nicht im Sinne eines Prozesses realer Handlungsermächtigung. Der Case Management-Ansatz setzt bei den Adressatinnen und Adressaten das Vorhandensein weitreichender Kompetenzen voraus: Interaktionskompetenzen, verbale und schriftliche Kommunikationskompetenzen, Fähigkeiten zum aktiven Umgang mit Institutionen und deren bürokratischem Schriftgut, Verhandlungskompetenzen. Dagegen setzt der Case Work-Ansatz bei den tatsächlich individuell vorhandenen Kompetenzen und Zugangsmöglichkeiten an und strebt die reale Mündigkeit der Adressatinnen und Adressaten als Ziel an. Er betrachtet sie nicht als Eingangsvoraussetzung für ein Hilfeangebot.
Die starke Ausrichtung von Case Management auf messbare Wirkungen macht die Methode anschlussfähig für betriebswirtschaftliche Steuerungsansätze. Die begrenzte Außensteuerbarkeit und mangelnde Berechenbarkeit menschlichen Handelns gerät hier leicht aus dem Blick und wird einem funktionalen Steuerungsdogma unterworfen. Dass die Ziele von Hilfeangeboten zu Beginn der jeweiligen Maßnahme durch Fachkräfte wie durch Adressatinnen und Adressaten kaum antizipierbar sind und sich im Verlauf der Hilfe erst offenbaren bzw. sich mit der persönlichen Weiterentwicklung ebenfalls verändern, setzt dem „informed consent“ zu Beginn Grenzen. Hilfe- und Maßnahmeplanung beinhaltet immer einen guten Teil Unsicherheit und Risiko und die Aushandlung der Hilfegestaltung muss dieses Risiko immer offen legen, anstatt vollständige Berechenbarkeit zukünftiger Abläufe zu suggerieren. Unter diesem Aspekt betrachtet erscheint Case Work mit ihren nicht-operationalisierbaren, unberechenbaren Beziehungsanteilen plötzlich deutlich wahrhaftiger als Case Management mit seinem impliziten Versprechen universaler Steuerbarkeit.
Alltags-, Lebenswelt- und Adressatenorientierung
Als wesentliche Bedingung für den Erfolg Sozialer Arbeit gilt die gelingende Anpassung eines Hilfeangebots an die individuelle Lebenslage der Adressatin oder des Adressaten.[57] In der Mitte der 70er Jahre wurde von Hans Thiersch für die Soziale Arbeit das Prinzip der Lebensweltorientierung formuliert und teilweise synonym mit „Alltagsorientierung“ verwendet (vgl. Thiersch 2006, 20098, Thiersch, Grunwald 2008). Es impliziert die methodische Ausrichtung der Sozialen Arbeit an den Gegebenheiten der sozialen Umwelt, in der die Adressatinnen und Adressaten leben. Der Ausdruck Lebenswelt beinhaltet nach Alfred Schütz’ Phänomenologie (Schütz 1932, Schütz, Luckmann 1975) die in ihren Strukturgesetzlichkeiten immer nur teilweise bewusste Erlebens- und Erfahrungsganzheitlichkeit des alltäglichen Lebens und wurde unter anderem von Jürgen Habermas als Gegenwelt zu institutionellen Systemen wie Staat oder Wirtschaft verstanden (vgl. Habermas 1981).
In der Sozialen Arbeit repräsentiert Lebensweltorientierung die Abkehr von hierarchisch-formalen Interaktionsstrukturen zwischen Fachkräften und ihren Adressatinnen und Adressaten, seien sie auf staatlicher oder bürokratischer Macht, auf normativen Vorgaben oder auf Expertenwissen gegründet. Thierschs Ansatz basiert auf einer Anerkennung der Eigensinnigkeit der Lebenszusammenhänge der Hilfeempfänger und ihres Status als „Experten ihres eigenen Lebens“. Professionelle Hilfsangebote sind daher gehalten, sich an die jeweiligen lebensweltlichen und individuellen Bedingungen anzupassen und nicht im Gegensatz dazu eine Anpassung der Adressatinnen und Adressaten an die Angebote zu verlangen. Rahmenbedingungen von Hilfen sollten also niedrigschwellig, zugehend und alltagsnah gestaltet sein und Angebote sollten dezentral und regional vorgehalten werden und den Zugangsmöglichkeiten der Zielgruppe angepasst werden. Fachkräfte sollten sich verständlich ausdrücken, einen alltagsnahen und informellen Habitus pflegen, in der Wahl ihrer Kleidung die Wirkung auf ihre Zielgruppe berücksichtigen und die Grenzen zum Privaten beachten. Hinzu kommt die Einbeziehung der Selbstdeutungen und Handlungsmuster der Hilfeempfänger in Fallreflexion, Diagnostik und Hilfeplanung und eine allgemeine Ausrichtung der Arbeit auf Partizipation und Teilhabe.
Während der Begriff der Lebenswelt das Private und Informelle im Gegensatz zum Staatlichen, Normierten und Systematischen betont, bezieht sich der Begriff des Alltags auf die normalen Abläufe des täglichen Lebens im Gegensatz zu herausgehobenen Situationen und Zeiten. Thiersch bezieht sich bei beidem eher auf die prägenden Umwelteigenschaften als auf die Adressatinnen und Adressaten selbst. Sie werden als Teil ihres Milieus begriffen. Um Zugang zu ihnen finden zu können, muss ein Verstehens- und Anpassungsprozess der Fachkräfte an die Lebenswelt und den Alltag der von ihnen betreuten Personen geleistet werden. Dies soll nicht primär aus strategischen Gründen erfolgen, sondern im Sinne eines verstehend-nachvollziehenden Zugangs. Eine effektive Hilfeleistung kann nach Thiersch nur auf der Basis eines Verstehens des bisher gelebten Lebens gelingen. Insgesamt gibt er die Ansicht auf, dass Fachkräfte den Adressatinnen und Adressaten höherwertige Normen zu vermitteln haben. Auch wenn deren Verhalten Probleme verursacht, erscheint es aus dem Lebenskontext heraus meist nachvollziehbar und sogar sinnvoll.
Alltagsorientierung bedeutet in der Jugendhilfe auch die Einbeziehung des sozialen Kontextes in die Maßnahme. Da das Handeln von Menschen immer sozial eingebettet ist, werden isolierte Verhaltensveränderungen einzelner Menschen von der Umgebung oft nicht verstanden und sanktioniert, selbst wenn die Problemreduktion für die Umwelt eine Erleichterung bietet. Gerade für junge Menschen ist es kaum möglich sich von ihrem Lebensumfeld unabhängig zu entwickeln. Für angestrebte Veränderungen muss also im Umfeld geworben und auf vollzogene positive Veränderungen und Lösungen muss aufmerksam gemacht werden, damit die Beteiligten nicht im Status quo verhaften.
[58]Das Konzept verarbeitet darüber hinaus die Erkenntnis, dass die Lösung sozialer Probleme für die Adressatinnen und Adressaten meist mit längeren, schrittweise zu bearbeitenden Lernprozessen verbunden ist. Die Gestaltung dieser Lernprozesse im Rahmen sozialpädagogischer Hilfen verlangt eine Orientierung an den jeweils gegebenen Voraussetzungen – an den persönlichen Kompetenzen wie an den Umfeld-Ressourcen. Damit geht der lebensweltorientierte Ansatz unmittelbar in das Konzept der Adressatenorientierung über, das stärker person- als umfeldbezogen ausgerichtet ist (vgl. Bitzan, Bolay, Thiersch 2006). Den Sinn des individuellen Handelns und der individuellen Biografien und Hilfe-Vorgeschichten zu verstehen, um damit besser an Interessen, Motiven und Zielenansetzen zu können, steht im Mittelpunkt des adressatenorientierten Ansatzes. Dies ermöglicht sowohl die Berücksichtigung der individuellen Beschränkungen und Behinderungen, die die Nutzung eines Unterstützungsangebots verhindern könnten, als auch die Einbeziehung der vorhandenen Möglichkeiten, Ressourcen und Kompetenzen.
Alltagsorientiert arbeitende Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter verzichten auf professionelle Habitussignale in ihrer Sprache, in ihrem Verhalten und in ihrer Kleidung. Damit geht ein partieller Verzicht auf Expertenautorität einher, wie sie andere Professionen selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen. Der Kommunikations- und Interaktionsstil orientiert sich am Alltagsverhalten und der Umgangssprache der Adressatinnen und Adressaten. Der praktizierte Sprachstil sollte transparent und um Verstehen und Verständnis bemüht sein, keine ausgeprägten Habitus- und Statussignale beinhalten, soziale Unterschiede möglichst wenig betonen und hinsichtlich der ausgedrückten Emotionalität und der geäußerten Meinungen eher neutral sein. Dazu gehört eine verständliche Terminologie und ein nachvollziehbarer Satzbau, der sich an den kognitiven Möglichkeiten der Kommunikationspartner ausrichtet.
Alltags- und Adressatenorientierung impliziert weder eine kritiklose Überahme der Interaktionsstile der Zielgruppe noch eine bedingungslose Anpassung im Erscheinungsbild. Damit würden Entwicklungsmöglichkeiten, die den Adressatinnen und Adressaten durch die Erschließung neuer Verhaltensformen geboten werden sollen, verstellt. Fachkräfte sollten die sozialen Signale, die sie durch ihr Verhalten, ihren Sprachstil oder über Kleidung und Accessoires an die Hilfeempfänger senden, kritisch reflektieren und als Wirkungsmomente der Arbeit sinnvoll gestalten.
Alltags-, Lebenswelt- und Adressatenorientierung bezieht