Ute Reichmann

Handbuch Ambulante Einzelbetreuung


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die Einzelbetreuung einen Reflexionsrahmen für die problematischen Verhaltensweisen des jungen Menschen und die theoretische Entwicklung alternativer Strategien bieten, aber um die Praxis im natürlichen Umfeld zu üben sind Gruppenkontexte notwendig, die denen ähneln, in denen die sozialen Schwierigkeiten der betroffenen Adressatinnen und Adressaten normalerweise auftreten.

      So werden bei einer gut funktionierenden Betreuungsbeziehung im Eins-zu-eins-Setting Aggression, Impulsdurchbrüche, Unkonzentriertheit und massive Ängste, die junge Menschen in anderen Kontexten zeigen, nur eingeschränkt oder gar nicht auftreten. Auch das begleitete Aufsuchen von Gruppenkonstellationen verhilft nicht unbedingt zu sozialem Lernen, denn die Anwesenheit der betreuenden Fachkraft und das berechtigte Vertrauen des jungen Menschen darauf, dass diese auftretende Schwierigkeiten lösen werden, mindert den empfundenen Stress und führt damit zu einer Verminderung des Lernanreizes und der persönlichen Lösungsverantwortung.

      Grundsätzlich ist die sozialpädagogische Bearbeitung von sozialen Kompetenzdefiziten, die vor allem in Gruppensituationen auftreten, nur im Gruppenkontext möglich. Um diesen Nachteil auszugleichen, wurden in den letzten Jahren flexible Hilfen entwickelt, bei denen dynamische Kombinationen aus Einzel- und Gruppenbetreuung möglich sind und bei denen in einem Stufenmodell auf eine zunehmende Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit des sozialen Handelns auch unter herausfordernden Bedingungen hin gearbeitet werden kann (s. Kap. Kombinations- und Gruppenangebote).

      Bei ernsthaften Alltagsstrukturproblemen, massiver Schulverweigerung oder manifesten Essstörungen gelangt ambulante Einzelbetreuung ebenfalls schnell methodisch an ihre Grenzen. Diese sehr unterschiedlichen Problematiken haben gemeinsam, dass ihre Bearbeitung eine starke, konsequente und den gesamten Alltag umfassende Strukturierung verlangt, die familiäre Lebenswelt diese aber nicht bietet und die jungen Menschen eigenverantwortlich noch nicht dazu in der Lage sind. Nur wenn die Familie ein Mindestmaß an Mitarbeitsbereitschaft und Konsequenz in der Umsetzung zeigt, kann die Bewältigung dieser Probleme mit Hilfe ambulanter Jugendhilfe gelingen. Der Versuch, mit dem jungen Menschen – unabhängig vom familiären Umfeld und quasi gegen seine Einflüsse anarbeitend – eine gelingende Alltagsstruktur zu installieren, den Schulbesuch und seine alltagsstrukturellen Voraussetzungen zu gewährleisten oder ein verändertes Essverhalten umzusetzen, ist ein praktisch aussichtsloses Unterfangen. Es kann vorkommen, dass Eltern verbal die Ziele und Maßnahmen der Einzelbetreuung unterstützen, die erforderlichen Umsetzungsschritte aber nicht durchführen oder die Maßnahme sogar[51] unterlaufen. Aufgrund der zeitlich relativ geringen Präsenz der Fachkraft in der Lebenswelt des betreuten jungen Menschen bleibt der Einfluss der Eltern und der Familie gegenüber dem schwächeren Jugendhilfeeinfluss dominant. Die Wirksamkeit der Maßnahme ist folglich von einer kooperativen Einstellung und einem zuverlässig kooperativen Handeln der Familie abhängig.

      Wenn also erkennbar wird, dass die Familie und die ambulante Einzelbetreuung hinsichtlich der Handlungsstrategien und Ziele der Maßnahme auf keinen gemeinsamen Nenner kommen, muss die Hilfeplanung grundsätzlich überdacht werden. Ambulante Einzelbetreuung kann unter diesen Bedingungen nicht zielführend wirken.

      Sucht, Gewalt und Delinquenz sind im ambulanten Setting gleichfalls kaum erfolgreich umfassend zu bearbeiten, wenn die Problematik so schwerwiegend ist, dass umfassende Kontrolle und Unterstützung durch einen strukturierten Rahmen notwendig werden. Innerhalb der ambulanten Einzelbetreuung ist umfassende Kontrolle nicht umsetzbar. Punktuelle Überprüfungen von Verabredungen bezüglich des Schulbesuchs, des Wohnungszustands oder der Cannabisabstinenz sind allerdings ohne Weiteres mit dem ambulanten Unterstützungsauftrag vereinbar. Auch schließen sich eine vertrauensvolle Beziehungsarbeit und Kontrolle nicht automatisch gegenseitig aus.

      Eher selten wird ambulante Einzelbetreuung in Fällen mit nachgewiesener oder vermuteter Kindeswohlgefährdung eingesetzt. Dies geschieht manchmal, weil keine ausreichenden gerichtlich verwertbaren Anhaltspunkte vorliegen und die Eltern einer weiter gehenden Jugendhilfemaßnahme nicht zustimmen. Diese Maßnahmen beinhalten einen impliziten Kontrollauftrag und sind für die durchführenden Betreuungspersonen außerordentlich belastend. Die Sicherung des Kindeswohls kann auf diese Weise nicht garantiert werden. Wird der Verdacht auf Kindeswohlgefährdung ernsthaft erwogen, sollte bei zweifelhafter Kooperationsbereitschaft der Eltern und fehlenden Kontrollmöglichkeiten der Gang zum Familiengericht nicht gescheut werden.

      Abschließend muss noch auf die mangelnde Mitwirkungsbereitschaft junger Menschen als wirkungsbegrenzender Faktor der ambulanten Einzelbetreuung eingegangen werden. Tatsächlich lassen sich Erfolge mit dieser Hilfeart nur erzielen, wenn sich auf die Dauer eine gemeinsame Arbeitsbasis zwischen der betreuenden Person und dem betreuten jungen Menschen erarbeiten lässt. Das ist nicht immer gegeben. Äußern Adressatinnen und Adressaten wiederholt ihre mangelnde Bereitschaft, sich auf die Maßnahme einzulassen und aktiv mitzuarbeiten, und spiegelt sich diese Haltung dauerhaft in ihren Handlungen, sei es, dass sie Termine nicht einhalten oder das Gespräch verweigern, ist ein Erfolg der Maßnahme kaum zu erreichen.

      Handelt es sich bei der ambulanten Einzelbetreuung um eine Jugendhilfemaßnahme für junge Erwachsene nach § 41 SGB VIII, sollte die Gewährung der Maßnahme an eine aktive Mitverantwortung und Mitwirkung des oder der jungen Erwachsenen gebunden sein.

      14 Informationen zur Entstehung und Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfestatistik: Schilling 2002.

      15 Weitere Internetquellen befinden sich im Anhang.

      16 Sämtliche Daten im folgenden Text – soweit nicht anders angegeben – sind der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik in der zur Zeit der Entstehung dieses Buches aktuellsten Fassung entnommen.

      17 Schone und Schrapper propagierten schon 1988, dass ambulante Hilfen stationäre ersetzen könnten (Schone, Schrapper 1988: 53).

      18 Entsprechend den Tabellen der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement (KGSt) sind die durchschnittlichen Arbeitskosten eines Büroarbeitsplatzes in der Entgeltgruppe S11 (Sozialpädagoge/ Sozialarbeiter) in den letzten Jahren gesunken und liegen aktuell bei kaum über 40 €. Dies ist u.a. durch die Gehaltseinschnitte bei der Einführung des TvöD und die geringen Zuwächse und die unübersichtliche Entgeltdifferenzierung bei den letzten Tarifrunden verursacht.

      19 Wichtig ist hier die Arbeit von Klaus Wolf an der Universität Siegen. Beispielhafte Untersuchungen zur Familienhilfe: Petko 2004, Schrödter, Ziegler 2007.

      20 S. auch Fröhlich-Gildhoff 2002.

      21 Schmidt, Schneider, Hohm, Pickartz, Macsenaere, Petermann, Flosdorf, Hölzl, Knab: 2002, 39.

      22 Die neue Formulierung in § 8 SGB VIII Abs. 3 lautet: „Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf Beratung ohne Kenntnis des Personensorgeberechtigten, wenn die Beratung auf Grund einer Not- und Konfliktlage erforderlich ist und solange durch die Mitteilung an den Personensorgeberechtigten der Beratungszweck vereitelt würde.“ Die Kann-Bestimmung im Kinder- und Jugendgesetz wurde in eine Verpflichtung umgewandelt, die aber immer noch eng an die als primär angesehene Beratung der Eltern gebunden ist.

      23 Daten von 2009 der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik, www.destatis.de.

      [52][53]Handlungsorientierungen

      In der Sozialen Arbeit haben sich im Prozess ihrer Professionalisierung einige Arbeitsprinzipien etabliert. Der Begriff der Arbeitsprinzipien stammt aus einer Systematik, die von Maja Heiner u.a. entwickelt wurde und bezeichnet umfassende und relativ abstrakte Handlungsorientierungen, die unabhängig von Arbeitsfeldern, Rahmenbedingungen und Methoden umgesetzt werden können (Heiner, Meinold, Staub-Bernasconi 1995: 291ff.). Manche dieser Arbeitsprinzipien sind für die Fallarbeit besonders relevant. Sie gehen zum Teil auf Einzelkonzepte bestimmter Autoren zurück. Beispielhaft ist Hans Thierschs Ansatz der Lebenswelt- oder Alltagsorientierung (vgl. Thiersch 2006, 20098, Thiersch, Grunwald 2008). Zu einem anderen Teil handelt es sich auch um Leitkonzepte, die sich in der Praxis etabliert haben, ohne als Methode umfassend ausformuliert und operationalisiert zu sein,24 die im Kinder- und Jugendhilfegesetz Eingang gefunden haben25 oder unter deren Überschrift sich verschiedene Positionen zusammen finden.26