Ute Reichmann

Handbuch Ambulante Einzelbetreuung


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für die sozialpädagogische Familienhilfe in den Gesetzestext des Kinder- und Jugendhilfegesetzes aufgenommen wurde, aber für andere Angebote der Sozialen Arbeit ebenso gilt (Petko 2004: 32, Helming, Schattner, Blüml 19993 : 229ff. Rauschenbach, Ortmann, Karsten 1993: 12ff.). In der ambulanten Jugendhilfe sollen die natürlichen sozialen Gefüge vorrangig erhalten werden.

      Kritisch kann zu dem Konzept angemerkt werden: Lebenswelt- und Adressatenorientierung setzt auf akzeptierende, an das gegebene angepasste und affirmative Handlungsstrategien. Schon Thiersch erkannte, dass der Alltag und die Lebenswelt nicht zu idealisieren seien, sondern beschränkend und destruktiv wirken können (Thiersch 20097: 41ff.). Gerade in der ambulanten Jugendhilfe setzt die vorhandene Lebenswelt den Förder- und Veränderungsmöglichkeiten der betreuten Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen oft enge Grenzen und beschränkt auch ihre Teilhabemöglichkeiten in der Gesellschaft. Auf solche destruktiven Tendenzen müssen Fachkräfte nicht mit Akzeptanz, sondern mit Konfrontation und im Extremfall der Schädigung und Gefährdung junger Menschen mit Herausnahme reagieren.

      Für Berufspraktikerinnen und -praktiker Sozialer Arbeit können verwirrende „Theoriekonkurrenzen“ entstehen (Winkler 2001: 247), wenn sich aus unterschiedlichen fachlichen Ansätzen eine unübersichtliche Vielfalt möglicher Konsequenzen ergeben. Beispielhaft lässt sich das im Vergleich zwischen dem dienstleistungsorientierten Ansatz (vgl. Dewe, Otto 2002) und dem intermediären Ansatz zeigen (vgl. Heiner 2007), dass sich daraus sehr unterschiedliche und sogar widersprüchliche Schlussfolgerungen für die Praxis ziehen lassen können.

      Der dienstleistungsorientierte Ansatz interpretiert die Unterstützungsangebote der Sozialen Arbeit als Beitrag zur Kompensation sozialer Ungleichgewichte und Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft und orientiert sich an der Förderung der Autonomie der Personen, die die Angebote sozialstaatlich organisierter Humandienstleistungen in Anspruch nehmen. Die Qualität der angebotenen Leistungen wird danach bewertet, inwiefern sie die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer erfüllen. Die Hervorbringung der Sozialleistungen vollzieht sich in einem Koproduktionsprozess zwischen Fachkräften und Nutzerinnen und Nutzern, wobei professionelles Handeln auf deren aktive Mitarbeit angewiesen ist (vgl. Oelerich, Schaarschuch 2005). Prozess und Ergebnis werden dabei als eine prozessuale Einheit aufgefasst, was in der Sozialwirtschaft als uno-actu-Prinzip der Dienstleistungsproduktion bezeichnet wird (vgl. v. Spiegel 20083). Wesentliches Qualitätskriterium des professionellen Angebots ist sein Gebrauchswert für die Nutzerinnen und Nutzer. Die gesellschaftliche Aufgabe von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern ist bei diesem Ansatz parteilich an den Autonomieinteressen der unterstützten Individuen ausgerichtet.

      „Professionelles Handeln ist […] als stellvertretendes Handeln […], d.h. als die stellvertretende Interpretation von Handlungsproblemen, zu begreifen, die aber, so wie ihre Lösungen, in der Verantwortung der AdressatInnen Sozialer Arbeit bleiben […]. Im Zentrum professionellen Handelns steht also nicht „Expertise“ oder „Autorität“, sondern die Fähigkeit der Relationierung und Deutung von lebensweltlichen Schwierigkeiten in Einzelfällen mit dem Ziel der Perspektivenöffnung bzw. einer Entscheidungsbegründung unter Ungewissheitsbedingungen.“ (Dewe, Otto 2005: 197 f.).

      Die Aufgabe der Fachkraft besteht darin, die Bedürfnisse, Motive und das Handeln von Adressatinnen und Adressaten herauszufinden, in seiner gesellschaftlichen Bedingtheit einzuordnen, einzelfallbezogen angepasste Handlungsmöglichkeiten dialogisch zu erarbeiten und zu vermitteln. Durch diesen Prozess ergibt sich, zumindest in der Theorie, eine Erweiterung der individuellen Entwicklungs- und Handlungsoptionen der Adressatinnen und Adressaten.

      Dieser Ansatz kann in der Realität zu Konflikten zwischen Fachkräften führen, wenn diese sich jeweils an verschiedenen Personen und ihren Interessen orientieren. Schone und Wagenblass haben am Beispiel der mangelnden Zusammenarbeit zwischen Psychiatrie und Jugendhilfe beobachtet, welche Auswirkungen es haben kann, wenn sich Fachkräfte an unter Umständen entgegengesetzten Partikularinteressen einzelner Adressatinnen und Adressaten ausrichten, ohne übergreifende Zusammenhänge einzubeziehen, das Gemeinwohl zu bedenken oder interessenausgleichend zu arbeiten (vgl. Schone, Wagenblass 20103).

      Der intermediäre Ansatz, wie er von Maja Heiner vertreten wird, geht dagegen davon aus, dass der grundsätzliche gesellschaftliche Auftrag Sozialer Arbeit in einer [60]Vermittlungsaufgabe besteht, nämlich dem Interessenausgleich zwischen Individuen oder zwischen Individuum und Gesellschaft bzw. gesellschaftlichen Institutionen.

      „Die gesellschaftliche Funktion der Sozialen Arbeit ist eine intermediäre: Sie tritt vermittelnd zwischen Individuum und Gesellschaft mit dem Ziel, ein besseres Verhältnis der Menschen in ihrer näheren und ferneren sozialen Umwelt zu erreichen […]. Ihr Handeln im Rahmen dieser intermediären Funktion wird auch als „Intervention“ bezeichnet, d.h. als Dazwischentreten, als Vermittlung zwischen Gruppen, Organisationen, Einzelpersonen […].“ (Heiner 2007: 101f.).

      Da die ambulante Einzelbetreuung eine auf die Förderung einzelner junger Menschen ausgerichtete Jugendhilfemaßnahme ist, bietet sich der Autonomieansatz zunächst als Handlungsorientierung an. Er versagt aber schon bei alltäglichen Situationen wie der Aushandlung von Pflichten und Rechten zwischen Eltern und Kindern. Beim Zusammentreffen jeweils durch professionelle Unterstützer begleiteter Adressatinnen und Adressaten mit unterschiedlichen Interessen führt er zu einer absurden Reduplikation von Konflikten auf der Helferebene. Hier ist ein überparteilicher, vermittelnder professioneller Standpunkt wesentlich hilfreicher.

      Nach der These der intermediären Funktion ist Soziale Arbeit in der Hauptsache zwischen Individuen, sozialen Gruppen und Institutionen tätig und zwar genau dann, wenn es hier zu Konflikten und Widersprüchen kommt. Dabei müssen die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten der Individuen mit den gesellschaftlichen Zugangsmöglichkeiten und Anforderungen ausbalanciert werden. Das Ziel ist eine sozial verantwortete Selbstverwirklichung der Individuen auf der einen und eine sozial gerechte, Zugang und Teilhabe ermöglichende Gesellschaft auf der anderen Seite. Ein funktionierender Ausgleich zwischen diesen beiden Polen, die tendenziell immer in Spannung stehen und der permanenten, dynamischen Vermittlung bedürfen, gewährleistet soziale Stabilität (Heiner 2007: 101 ff.). Dieses Modell setzt die individuellen Bedürfnisse und Ansprüche der Hilfeempfänger nicht absolut, sondern sieht sie jeweils in Beziehung zu den Ressourcen der sozialen Umwelt. Die Gesellschaft wird nicht als verabsolutiertes Großsystem gesehen, das dem Einzelnen anonym und unbeeinflussbar gegenüber steht, sondern als aus dem sozialen Miteinander der Einzelnen entstehendes und durch individuelles Verhalten beeinflussbares Ganzes. Bezogen auf einen Konflikt zwischen Eltern und Kindern bedeutet das, dass in der so ausgerichteten ambulanten Einzelbetreuung Rechte und Pflichten, Interessen und Verantwortung als ineinander greifende Momente des gemeinsamen sozialen Prozesses verstanden und begleitet werden. Es geht also nicht um die parteiliche und advokatorische Unterstützung des jungen Menschen um jeden Preis, sondern um eine Aushandlung der für alle Beteiligten nachhaltig besten kooperativen Lösung und eine lebbare soziale Integration.

      Während der Autonomie-Ansatz mit egozentrischen und sogar sozialparasitären Haltungen harmoniert und die Strukturen des sozialen Dienstleistungssystems auf reine Bedürfnisbefriedigung der Nutzerinnen und Nutzer zuschneidet, geht der intermediäre Ansatz von einem dynamischen Wechselspiel zwischen den Individuen und ihren sozialen Umwelten aus. Dies beinhaltet als Ziel keine konsumierende, sondern eine aktiv und verantwortlich gestaltende Haltung gegenüber der Gesellschaft.

      Der Partizipationsbegriff meint zunächst die Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger eines demokratisch verfassten Staatswesens an der politischen Willensbildung. In der Sozialen Arbeit wurde Partizipation seit den 1980er Jahren als Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an Sozialplanungsprozessen und in den 1990er Jahren im Sinne einer stärkeren Adressatenbeteiligung an der Steuerung der sozialen Dienstleistungen thematisiert und in den entsprechenden Paragraphen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes ausformuliert (vgl. Pluto 2007). Nach wie vor besteht allerdings zwischen dem Partizipationsanspruch des Kinder- und Jugendhilferechts und dem zugrunde liegenden Rechtssystem, das Kinderrechte als von den Rechten der Eltern abgeleitet begreift, ein Widerspruch (vgl. Urban 2004, Münder