Rolf Käppeli

Vom Ende einer Rütlifahrt


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1918 Ordnungsdienst beim Landesstreik in Zürich leistete. Die Soldaten kamen aus dem Luzerner Hinterland. Der Kollege konnte nicht wissen, dass mein Vater unter den Streikenden war – und verprügelt wurde.«

      Gottlieb nickt zustimmend und schaut Heinrich eindringlich an. »Beim Generalstreik kam es nicht bloß zu Prügeleien, Heiri, es gab Tote.« Er verschränkt die Arme. »Die Luzerner sind mit Maschinengewehren angerückt. Verletzt und getötet wird man in der Schweiz nicht vom äußeren Feind, der innere ist in den Augen der Obrigkeit gefährlicher, selbst in bitteren Tagen wie …«

      »Heute keine Politik!«, unterbricht Emma ihren Mann scharf, sie blickt die beiden Männer streng an. »Ich lasse mir den Tag nicht durch politische Schwarzmalerei verderben!«

      Gottlieb linst ins Abteil auf der anderen Seite und raunt: »Es ist leider eine Tatsache, Emma, auch in diesem Krieg, der nicht enden will, sind Schweizer von Schweizern erschossen worden.«

      Emma wendet sich missmutig ab und schaut aus dem Fenster. Sie kennt Gottliebs Ärger über militärische Einsätze gegen streikende Arbeiter in der Schweiz. Über umstrittene Todesurteile der Militärjustiz. Im Grunde teilt sie seine Meinung und versteht seine Gefühle. Heute jedoch hat sie keine Lust auf unangenehme Debatten. Sie stellt sich vor, wie Gottlieb und Heinrich sich regelmäßig in der »Krone« zum Jass treffen, nachmittags mit Kollegen, wenn die Frühschicht beendet ist. In welchem Ton reden sie da miteinander?

      Emma schätzt Heinrichs bescheidene Art. Er kennt sich nicht nur in der Bergwelt aus, er ist im Betriebsrat der Fabrik aktiv und weiß um die Sorgen der Arbeiter und Angestellten. Das verbindet ihn mit Gottlieb. In der Gewerkschaft ist Heinrich nicht. Er sei nicht der Kämpfertyp und wolle sich nicht exponieren, wehrte er ab, als Gottlieb ihn zum Beitritt in die Sektion aufforderte. Wenn es um Probleme mit Vorgesetzten geht oder bei einem sozialen Engpass, zum Beispiel nach einem Unfall an einem Ofen, setzt sich Heinrich vorbehaltlos für die Betroffenen ein. Emma erinnert sich an das Unglück vor drei Jahren, als ein Arbeiter unter einem stürzenden Pyrithaufen begraben wurde. Die Witwe stand nach dem tödlichen Unfall mit zwei Kindern alleine da. Heinrich setzte alle Hebel in Bewegung, um der Familie zu helfen, mit Erfolg. Die Fabrikherren zeigten sich entgegenkommend, die betriebseigene Pensionskasse entrichtet der Frau eine Rente, worauf sie nicht zwingend Anspruch gehabt hätte. Kürzlich forderte Heinrich mehr Essensgutscheine in der Kantine für die Mitarbeiter, wovon auch sie, Emma, die in der Buchhaltung arbeitet, und natürlich auch Gottlieb im Büro etwas haben.

      Für all dies ist Emma Heinrich dankbar. Auch wenn ihr Mann Heinrich manchmal einen politischen Bremsklotz schimpft, erlebt sie den 50-jährigen Zürcher Oberländer als vermittelnden Brückenbauer. Es ist, findet Emma, neben ihrer Freundschaft mit Rosmarie zu einem schönen Teil Heinrichs Verdienst, dass sie, die Gampers und Tinners, in der Freizeit zu einem freundschaftlichen Quartett, einem eigentlichen Kleeblatt wurden. Rosmarie sagt jeweils lachend und augenzwinkernd: »Ein Vierblättriges«, wenn die Frauen gegen die Männer beim Jassen einen stolzen Weis ankündigen. Fliegen zwischen den Männern die Fetzen oder ziehen, weil sie sich in der Einschätzung der politischen Lage nicht einig sind, dunkle Wolken auf, erinnert Emma die anderen mit einem Kleeblatt, das sie aus einer Jacke oder Blusentasche hervorzieht, an künftige Tage, die besser würden. Nach dem Krieg.

      Nach dem empörten Einwurf und dem warnenden Hinweis auf den feierlichen Anlass der Reise bleibt es still. Emma zieht die Fahrkarte aus der Rocktasche, die der Abteilungsleiter ihr gestern in die Hand gedrückt hat. Das Spezialbillet sei einen Tag lang gültig, für Hin- und Rückfahrt, hat er ihr erklärt. Wolle man später heimkehren, könne man nach 18 Uhr auch einen regulären Zug zurück nach Zürich wählen.

      Emma schaut Rosmarie und die Männer fragend an. »Ich will den Besuch der Leuchtenstadt Luzern genießen, länger, als es das Programm vorsieht – seid ihr am Abend dabei?«

      Heinrich und Gottlieb brummen etwas vor sich hin, man habe anderntags Spätschicht, was die Frauen als Einverständnis deuten.

      Rosmarie nickt. »Werden wir Zeit haben, den Gletschergarten zu besuchen?«

      2

      Am Friedental vorbei scheppert die Bahn über die Reussbrücke, wo der Blick frei wird auf Luzerns Wohnquartier südländischer Bauarbeiter.

      Nachdenklich schaut Otto Wigger auf das Treiben an der Baselstraße. Menschen drängen am Kreuzstutz in das elektrische Tram, Velofahrer zirkeln über die Gleise. Der Verkehrspolizist mit weißen Armstulpen lenkt Fußgänger und Fahrzeuge gestikulierend aneinander vorbei. Die Frau mit langem Rock weicht mitten auf der Straße dem Mann mit Schubkarren aus, der von der Bernstraße her quer über den Platz zur Sankt-Karli-Brücke steuert.

      Heimatliche Gefühle überkommen Otto. Der Blick schweift rechts den Felshang hoch, hinauf zu den Arbeiterhäusern, von dort hinüber zum Schlosshotel mit den Türmen und Erkern, wo jetzt, wie er gelesen hat, Flüchtlinge und Kriegsgefangene hausen.

      Ein Lächeln huscht über das Gesicht des Entlebuchers, als er auf der anderen Seite der Reuss das schnörkellose Kirchengebäude am Fenster vorbeiziehen sieht. »Schau, dort, Hans, der Turm am Fluss, die Sankt-Karli-Kirche. Sie ist erst zehn Jahre alt und weniger pompös als die anderen Kirchen in Luzern, ein moderner Betonbau. Der Bischof hat dem Architekten vorgeworfen, das Gotteshaus sei im Inneren zu demokratisch eingerichtet. Zu demokratisch! Ich will mir das ansehen, wenn wir heute Abend von der Schifffahrt zurückkehren.«

      Hans Brennwald guckt dem Kollegen über die Schulter. »Wenn du nichts dagegen hast, begleite ich dich. Auch wenn ich mit der Kirche nichts mehr am Hut habe, schon gar nicht mit der katholischen. Was immer der Kirchenfürst damit meinte – das macht mich neugierig.« Er zieht an der Toscani, bläst den Rauch zur Decke hoch und schürzt die Lippen. »Die Reise ist ein Feiertag – nicht nur für das frischgebackene Ehepaar Krütli.«

      Otto schaut Hans fragend an.

      »In drei Tagen ist mein Dienstjubiläum.« Hans zieht die Augenbrauen hoch, bevor er in ernstem Ton fortfährt. »Meine Tage und Nächte an den Pyrit­öfen und Bleikammern sind gezählt. Oberholzer hat versprochen, mir eine andere Arbeit zu geben, vielleicht im Düngerbereich, wo ich der Hitze weniger ausgesetzt bin und den Rücken schonen kann.« Er macht eine Grimasse, das Gesicht schmerzerfüllt, beugt den Oberkörper nach vorn, den Blick nach unten, wie beim Tragen der Säcke mit der schweren Last.

      Otto beobachtet die Gebärde des Kollegen, runzelt die Stirn. Er kennt die glühende Hitze an den Öfen aus eigener Erfahrung, die Risiken in den Produktionshallen sind ihm vertraut, auch jene auf dem Fabrikgelände. Er klopft dem schmächtigen Kollegen auf die Schulter. »Vom Abfüllen der Säcke wirst du nicht befreit, Hans. Das Unterhauen der Haufen bleibt im Düngerbereich gefährlich, auch mit dem neuen Gabelstapler.«

      »Ich weiß.« Hans nickt. »Sicher gibt es leichtere Arbeiten, vielleicht im Rangierbereich. Ich kann mich umschulen lassen, um eine Werklokomotive zu führen.«

      Otto wippt mit dem Kopf hin und her. Im Gesicht sind die Jahre, die er in der Fabrik gearbeitet hat, in Furchen gebrannt, die Stimme ist ernst, die Augen wirken müde. 32 Jahre hat er in verschiedenen Werkbereichen geschuftet, immer zur Zufriedenheit der Vorgesetzten. Momentan hilft er im Düngerbau, wo mehr Aufträge hereinkommen. Im Umfeld schätzt man seine entschlossene Art zuzupacken, die sicheren Handgriffe an den Maschinen. Wenn es etwas von Hand zu transportieren gibt, ist seine Hilfe gefragt. Er weiß: Sein Wort hat Gewicht, unter Kollegen wie bei Vorgesetzten. Nur einmal hat Otto seiner Wut in der Fabrik freien Lauf gelassen, vor zwei Jahren, als man ihn zunächst bei einer Jubiläumsgabe übersehen hatte. Der verantwortliche Leiter hat sich bei ihm entschuldigt. Das Geschenk, eine festliche Uhr, trägt Otto seither am Sonntag. Damit war die Sache für beide erledigt. Nächstes Jahr wird Otto 55, an eine Pensionierung ist noch lange nicht zu denken. Er würde auch sich eine andere Arbeit gönnen.

      »Braucht die Fabrik neue Lokführer?«

      »Ich weiß es nicht, jedenfalls brauche ich einen neuen Arbeitsplatz.« Hans blickt Otto entschlossen an. »Wir werden die Schicht, wenn es klappt, aufeinander abstimmen.«

      Otto überlegt. »Wann bist du in die Fabrik eingetreten?«

      »Vor