Rolf Käppeli

Vom Ende einer Rütlifahrt


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Armee, wenn sie die Grenzen nicht mehr verteidigen könne, sich zurückziehen werde in die Alpenfestung, ins Reduit um den Gotthard, uneinnehmbar. Der Plan sei noch heute so etwas wie eine militärische Lebensversicherung für die Schweiz, bekräftigt Karl. Die Schifffahrt und das Treffen im Juli 1940 sei, wenn auch riskant – die gesamte Armeespitze auf einem Schiff –, ein imposantes Zeichen des schweizerischen Widerstandswillens gewesen. Unter anderem gegen jene politischen Kräfte in Bern, die einen Anschluss an Hitler-Deutschland begrüßt hätten.

      Erika schaudert, als Karl ihr ausmalt, was die möglichen Folgen wären: Das schweizerische Mittelland würde dem Feind überlassen – wer immer dies wäre. Das Militär würde Brücken und Tunnel zerstören, wichtige Transportwege in der Schweiz unterbrechen, notabene, fügt Karl mit grimmiger Miene hinzu, mit Sprengstoff aus seiner Fabrik.

      Als die »Schweizer Filmwochenschau« und die Zeitungen von der Absicht des Generals berichteten, war man in der Schweiz verunsichert. Die Strategie, dem Feind den Eintrittspreis ins Land so teuer wie möglich zu machen, leuchtete Erika ein. Doch das politische Dilemma, auf welcher Seite man im Ernstfall stehen würde, war unangenehm, ja bedrohlich. Karls Unternehmen geriete in fremde Hände. Man wäre nicht mehr neutral, würde zum Kollaborateur. Als Hitlers Handlanger oder im Sold der Alliierten.

      Man müsste fliehen.

      Nur: wohin?

      4

      Karl zieht die buschigen Brauen hoch. Jetzt, wo er über den schwankenden Laufsteg mit Erika den mächtigen Dampfer betritt, der sie zum Höhepunkt der Reise führen wird, dem feierlichen Moment auf dem Rütli, steigt ihm ein Bild auf: die Erinnerung an die erste Begegnung mit Erika vor zwei Jahren, den Anfang ihrer Beziehung.

      Albert Bachofen, ein Ostschweizer Kunde aus der Textilbranche, war zu einem Geschäftsessen an den Hauptsitz des Unternehmens nach Rustikon geladen. Im Garten der Fabrikantenvilla erklärte Bachofen zu Karls Verwunderung, die Frau, die ihn begleite, sei seine Sekretärin und Tochter. Die herrschaftliche Runde hatte die attraktive Frau gemustert, so unauffällig wie möglich, Karl etwas länger, als die Situation es gebot. Erikas feingliedriger Körper, das kräftige Haar, das in blonden Wellen das Gesicht umrahmte, die geschwungene Nase über dem einnehmend lächelnden Mund, all das imponierte ihm. Ihr Auftreten im Fabrikgarten verband vornehme Schönheit mit Bodenständigkeit. Die junge Frau entflammte das Herz des klugen Technikers und gewieften Geschäftsmannes.

      Erika Bachofens stolzes Wesen zog Karl Krütli in Bann.

      Zwei Wochen nach dem Besuch in Rustikon reiste Karl zu den Bachofens in die Ostschweiz. Er lud Erika zu einer Schifffahrt auf dem Bodensee ein, führte sie beim Gegenbesuch ins Rifferswiler Moor, tat einiges, um der Angebeteten seine Naturverbundenheit und Vogelliebe zu zeigen.

      Den Gang abseits der Büros zu den glühend heißen Brennöfen, in die Hallen mit den lärmigen Maschinen, zu den Kesseln und Gruben mit den stinkenden Säuren, den Anblick der gefährlichen Hängebahnen, der Pyritberge und staubigen Lagersilos, dies alles ersparte ihr Karl. Er umwarb Erika mit der leicht ausgetrockneten Liebeskunst eines 40-jährigen Junggesellen und hoffte, dass die Aussicht auf ein neues Liebesglück sein vom Fabrikalltag gestähltes Herz erweichen würde.

      Die gemeinsamen Ausflüge schufen Vertrauen. Es war, als bewegten die beiden sich wie Wasservögel auf moorigem Grund, suchten Schritt für Schritt einen gangbaren Pfad, der sie auf festen Boden führte. Nachdem Erika von ihrer Familie anerkennende Zeichen zur Liaison erhielt, gab es keinen Grund mehr, der gegen eine Hochzeit sprach.

      Briefe wechselten die Seiten, feurige Zeilen bezirzten weibliche Erwartungen.

      Das Standesamtliche ebenso wie Erikas Einzug in die Fabrikantenvilla wurde ohne Feierlichkeiten geregelt – die Hochzeitsreise musste warten. An eine Unternehmung ins Ausland war nicht zu denken. Rund um die Schweiz herrschte Krieg, die Grenzen waren geschlossen. Karl und Erikas Hochzeit musste anderswohin führen.

      Es ist Zeit für eine patriotische Reise, beschied Karl.

      Fünf Jahre davor, als Erika 18 war und er noch nicht an ihrer Seite, hatte das Unternehmen die Fabrikangehörigen an die Landesausstellung nach Zürich geführt. Zu seinem Geburtstag hatte Karl den Arbeitern und Angestellten einen unvergesslichen Tag geschenkt. Der Ausflug ist den Mitarbeitern in wacher Erinnerung geblieben. Es herrschte landesweit eine patriotische Stimmung. Man spürte die nationale Bereitschaft zum Widerstand, die geistige Landesverteidigung tat ihre Wirkung. Der politische Kompass im Land wurde neu ausgerichtet. Sollte in Europa passieren was immer: Man war bereit und gerüstet.

      Die Mobilmachung der Armee, die wenige Wochen später Karls Fabrikpersonal dezimierte, war keine Überraschung mehr. Karl erinnert sich: Drei Tage nach dem Fabrikausflug an die Landesausstellung wandte sich General Guisan statt des Bundesrats an die Besucherinnen und Besucher – das Militär übernahm.

      »Es ist mir eine Ehre und große Freude, das Hochzeitspaar auf unserem altehrwürdigen Raddampfer zu begrüßen.« Die Worte des Kapitäns reißen Karl in die Gegenwart zurück. Jemand muss dem Schiffsmann zugeflüstert haben, wer gerade an Bord kommt.

      »Herr und Frau Krütli, seien Sie herzlich willkommen.«

      »Besten Dank, Herr Barmettler, wir freuen uns auf die Fahrt.«

      »Darf ich Sie mit dem Schiffsinneren vertraut machen? Hierdurch geht’s zum Salon.«

      Karl folgt Erika und dem Kapitän gedankenverloren durch die Gänge und Räume. Was seit 1939 geschehen ist, die europäische Kata­strophe, hat er nicht voraussehen können. Niemand, nicht in dem Ausmaß. Andererseits: Mit der Fabrik ist es seit Kriegsbeginn wirtschaftlich aufwärts gegangen. Das musste man einräumen. Die Nachfrage nach Schwefelsäure ist gestiegen, in der Schweiz und im Ausland. Die einheimische Kriegswirtschaft trägt ihren Teil zum Erfolg bei. Karl ist es gelungen, die Produktion zu verdoppeln. Das Fachwissen, die internationale Erfahrung, die er in jungen Jahren auf Reisen nach Frankreich, Deutschland und Südamerika erworben hat, zahlen sich aus. Im Betrieb und im Verwaltungsrat gibt er, Karl, den Ton an, in technischen wie in kaufmännischen Dingen. Er kennt den Betrieb in- und auswendig. In den Büros und Fabrikhallen wird es still, wenn der oberste Fabrikherr durch die Gänge und Hallen geht. Aus Respekt oder Angst, ist nicht ohne Weiteres auszumachen. Er führe das Unternehmen mit eiserner Hand, kritisieren die einen, er ist unser aller Vater, beteuern andere.

      Wilhelm Krütli, Karls Onkel und Präsident des Verwaltungsrates, lässt ihn gewähren.

      Karl, Erika und der Kapitän schließen den Rundgang ab, sie stehen am Eingang des Salons mit dem Rondell im Hintergrund.

      »Nun überlasse ich Sie gerne dem Kreis Ihrer werten Reisegesellschaft – auf dass Sie alle die Fahrt und unsere Gastfreundschaft genießen können.«

      Der Kapitän lächelt und verabschiedet sich.

      Auf Karls Stirn bilden sich kleine Furchen, noch ist er innerlich auf dem Schiff nicht angekommen. Die Sorgen um das Kriegsgeschehen und die Zukunft der Fabrik begleiten ihn selbst an diesem besonderen Tag. Vor gut einem Monat sind die Briten und Amerikaner in der Normandie eingefallen. Die Handelsbeziehungen in die europäischen Länder sind unterbrochen, Marseille und Livorno lahmgelegt, es kommen keine Rohstoffe mehr von Marokko nach Rustikon. Das Unternehmen hat, nachdem der deutsche Niedergang sich militärisch und politisch abzuzeichnen begann, Vorräte angelegt und die Lagerräume bis an die Decke mit Pyrit gefüllt.

      Doch Karl weiß: Die Unsicherheit in der Fa­brik ist gewachsen, der Verwaltungsrat zweifelt, ob man die kommende Durststrecke überstehen wird, der Engpass darf nicht dauern. Die Hoffnungen der Fabrik ruhen auf seinen Schultern.

      Karl neigt den Kopf zu Erika, die ihn fragend anblickt.

      »Ich werde dich nicht enttäuschen, meine Liebe.«

      Er nimmt Erika am Arm und durchquert mit ihr den Salon.

      Im Rondell werden sie von Verwaltungsräten und leitenden Angestellten erwartet.

      5

      Luzerns Nobelherbergen ziehen wie imposante Grautiere vorüber, still