Olaf Müller

Herr über Leben und Tod bist du


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Sie seine Papiere gefunden?«, fragte Fett.

      »Ja. Fast vergessen. Hatte der 75-Jährige dankenswerterweise dabei. Eugen Kaltenbach aus Bergstein. Geboren 1944.«

      Unsleber reichte Fett den Personalausweis in einer Plastiktüte.

      Fett betrachtete den Toten, das Einschussloch über der Nasenwurzel, die sieben Stiche durch den Mantel in die Brust. Eugen Kaltenbach starb mit 75 Jahren auf dem Krawutschketurm. Was soll das alles, dachte Fett.

      »Können Sie grob sagen, aus welcher Richtung der Schuss gekommen ist?«

      »Wir werden es am Computer simulieren«, versprach Unsleber. »Augenscheinlich stand Kaltenbach hier, neben der Infotafel in Richtung Vossenack, mit Blick über Bergstein in Richtung Westen. Die Blutspritzer auf dem Geländer und der Aufschlagpunkt auf der Plattform deuten darauf hin. Der Schuss muss von schräg unten gekommen sein. Quasi voll auf die Zwölf, klingt makaber, ist aber so. Wir untersuchen den Bereich dort unten gleich genauer.« Sie zeigte auf einen Graben, der sich in westlicher Richtung von Bunkerresten nach Norden zog.

      »In der Dunkelheit eine Meisterleistung, den Alten zu erwischen.«

      »Guter Schütze oder Schützin. Wir sehen uns das gleich unten an. Vielleicht finden wir eine Patronenhülse. Dafür brauchen wir den Metalldetektor. Übrigens kein großes Kaliber, Jagdwaffe oder so. Die Kugel ist allerdings hinten raus. Die werden wir kaum hier oben finden. Die Kölner Rechtsmediziner sollen den Schusskanal untersuchen. Jedenfalls sind Fund- und Sterbeort identisch.«

      Eugen Kaltenbach. Kein typischer Name für die Region, befand Fett. Unten am Turm waren die ständigen Begleiter der Mordkommission eingetroffen, die dunklen Sargträger des lokalen Beerdigungsinstituts Himmelsleiter. Sie würden den Toten in die Rechtsmedizin der Uni Köln schaffen. Aachen besaß keine Rechtsmedizin mehr.

      Fett stieg nachdenklich die Stufen hinunter zu Schmelzer, Kaltenbach und Rocky. Auf den Hund hatte er keine Lust. Seit er vor über 40 Jahren von einem Rottweiler angefallen worden war, hielt er sie auf Distanz. Die Hunde merkten, dass Fett sie scheute, rochen seine Angst. Da konnte Herrchen noch so oft rufen »Der will nur spielen!«. Bei Fett endete das Spiel, und die Aggressivität der Kampfhunde brach durch.

      Der Stinkstiefel und die Sommersprossen

      »Leinen Sie den Hund an die Sitzbank. Wir müssen mit Ihnen reden«, befahl Fett.

      Jörres band einen Behelfsknoten und Rocky setzte sich aufmerksam und mit offener Schnauze auf sein Hinterteil. Er ahnte, dass Herrchen nicht in bester Verfassung war, und würde ihm zur Not mit Leine und Holzlehne der Bank zur Hilfe eilen.

      »Wann waren Sie heute Morgen hier am Turm?«

      »So gegen 7.30 Uhr ungefähr. Das ist die Zeit für Rocky.«

      »Wo wohnen Sie und von wo sind Sie gekommen?«

      Zwei Fragen. Das wurde etwas schwieriger für Norbert Jörres. Der Inhalt seines Flachmanns lag im hochprozentigen Bereich. Er fuhr sich nervös und fahrig über die Stirn.

      »Bergstein, da drüben und von dort, den gemütlichen Weg bin ich gekommen, nicht den steilen.« Er zeigte auf eine Lücke zwischen den Resten zweier Bunker.

      »Haben Sie etwas gehört, ist Ihnen jemand aufgefallen?«

      »Nee, nichts. Und Rocky bellt ja hinter jedem Kaninchen her.«

      »Wie sind Sie auf den Toten aufmerksam geworden?«

      »Rocky, der bellte mehr als sonst. Hat das Blut entdeckt und wollte unbedingt auf den Turm. Ich geh manchmal hoch, weil die Aussicht so schön ist. Dann sah ich die Bluttropfen. Könnten ja auch von einem Tier stammen. Hier sind viele Tiere, nicht nur ich und Rocky, ab und an Wildschweine und Rehe und Füchse …«

      »Halten Sie keinen Vortrag über Rotwild.« Fett wurde ungeduldig mit dem sichtlich angetrunkenen Mann. »Was ist Ihnen aufgefallen? Reißen Sie sich zusammen, Mann. Sonst nehmen wir eine Blutprobe.«

      Jörres zuckte. So hatte lange niemand mehr mit ihm geredet. Zuletzt sein Frühstücksdirektor, der einmal pro Woche von Düren zur Filiale nach Kleinhau gefahren kam.

      »Sind Sie schwerhörig?«, ermahnte Fett.

      »Nein, nein, nein. Nichts, ich habe nichts gesehen und gehört. Nur den Toten da oben, den habe ich gesehen. Dann habe ich angerufen, Herr Kommissar.«

      »Wir müssen den Hund ins Tierheim geben. Alkoholiker dürfen keine Hunde halten.«

      »Bitte, Herr Kommissar. Rocky ist alles, was ich habe. Mit wem soll ich denn sonst reden?«

      »Mit mir und mit Frauchen.«

      »Ich weiß nix. Ich geh hier rum, sehe den Toten und ruf die Polizei. Und kalt ist mir auch. Ist ja nicht verboten, was gegen die Kälte zu tun. Oder?« Norbert Jörres geriet trotz der Frische des Tages ins Schwitzen.

      »Sagt Ihnen der Name Eugen Kaltenbach etwas?«

      »Kaltenbach. Ja. Eugen Kaltenbach. Ein Stinkstiefel. Ist der das da oben?« Jörres hob das Kinn leicht in Richtung Turm.

      »Warum ein Stinkstiefel?«

      »Der hat Ärger gehabt und Ärger gemacht. Alle hassten ihn. Fragen Sie doch rum. Mehr sag ich nicht. Fragen Sie die anderen im Dorf.«

      »Halten Sie sich zu unserer Verfügung. Rocky auch. Und schlafen Sie Ihren Rausch aus.« Fett hatte genug von dem Alkoholiker.

      »Rocky, komm!« Herr und Hund machten sich nachdenklich auf den Weg zurück nach Bergstein. Was der Hund dachte, wusste niemand. Norbert Jörres überlegte, dass er bei der nächsten Leiche einfach die Klappe halten würde. Er sehnte sich nach seinem Hobbykeller und der Flasche Wodka im Werkzeugschränkchen neben der Laubsäge.

      »Schmelzer, gehen Sie mit Holz und Dillinger zu den Häusern am Ortsrand«, befahl Fett. »Vielleicht hat jemand was gehört oder gesehen. Ich bleib bei Frau Unsleber. Die prüft die möglichen Positionen, aus denen geschossen worden sein könnte.«

      »Positionen prüfen. Na dann. Viel Vergnügen. Dafür hab’ ich eh nicht die richtigen Schuhe an.«

      Kollegin Unsleber stakste bereits wie ein Storch im weißen Overall durch das Unterholz in einem Graben nahe des Krawutschketurms. Immer wieder blickte sie hoch zum Turm, wo ein Kriminaltechniker an der Brüstung stand. Sie legte an, als ob sie ein Gewehr halte, und zielte auf den Kollegen. Der warf die Spule mit einer dünnen roten Schnur zu ihr hinunter. Sie schritt vorsichtig damit weiter bergab bis zu einer Vertiefung. Dort aus der Kuhle, vielleicht ein Bomben- oder Granattrichter, von dort musste der Schuss erfolgt sein. Die Schnur war gespannt. Der Polizist auf dem Turm hielt sie in Höhe des Kopfs vom Toten an der Stelle auf dem Turm, wo er gestanden haben musste.

      »Was gefunden?« Fett stand am Turm, um nicht Spuren zu zertreten,

      »Der Täter muss von hier geschossen haben.« Sie zeigte in Richtung des Kollegen. »Keine brauchbaren Spuren.«

      Super, dachte Fett. Ein toter Senior, ein betrunkener Senior, ein nüchterner Dobermann. Alles super an diesem Montagmorgen am Krawutschketurm. Frohe Weihnachten. Er betrachtete die Infotafel am Turmaufstieg, las die Geschichte, wartete auf Elke Unsleber.

      »Wir prüfen alles. Es sieht nicht gut aus.« Elke Unsleber schwitzte unter dem Overall.

      Ihre Sommersprossen mochte Fett. Er hatte sie häufig an Tatorten beobachtet. Sie behielt den Überblick und gab entscheidende Tipps. Nur heute war Essig.

      »Sieben Stiche, Schuss in die Stirn, mitten zwischen die Augen. Muss ein guter Schütze gewesen sein.« Fett schaute die Kollegin fragend an.

      »Bestimmt. Die Kriminalmedizin soll auf den Schusskanal achten. Sagte ich bereits. Kaliber neun Millimeter war es nicht.«

      »Werde ich ausrichten, danke. Freue mich auf Ihren Bericht, Kollegin.« Fett reichte ihr die Hand. Er nahm den steilen Weg hinunter in Richtung Bergstein. Nach wenigen Metern hielt er an dem Kreuz für den amerikanischen Soldaten. Er las die Inschrift: