Olaf Müller

Herr über Leben und Tod bist du


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griff zu seinem Handy. Der Empfang war hundsmiserabel. Er gab Burgberg ein und stieß auf Hill 400. Fett versank in die Zeit vor 75 Jahren. Genau vor 75 Jahren war hier auf und am Berg die Hölle los gewesen. Er lehnte sich an die Brüstung und sah vor seinen Augen die amerikanischen Ranger, die von Brandenberg aus über die freie Fläche angriffen. Sie waren dem Artilleriefeuer der Wehrmacht schutzlos ausgesetzt. Er blickte auf die kargen Felder, die keine Deckung boten. Am 7. Dezember 1944 stürmten die Ranger den Burgberg. Der deutsche Kommandant befahl deutsches Artilleriefeuer auf den eigenen Bunker. Die Ranger verloren beim ersten Angriff ein Viertel aller Männer. Fett dachte an den Film Platoon, der damit endete, dass die US-Einheit von Nordvietnamesen überrannt wurde und der Kommandant einen Luftschlag auf die eigenen Stellungen befahl. Alles versank in Napalm. Vor Fetts Augen tobten die Kämpfe. Kann man sich das vorstellen? Kann man versuchen, die Situation zu erfassen, die Angst, das Schreien, den Kampf Mann gegen Mann, die abgerissenen Glieder, den Stoß des stumpfen Bajonetts in den Brustkorb, der letzte Blick auf die Handgranate, die in das Schützenloch fliegt? Private First Class Peternell, der amerikanische Gefreite, wurde vermisst bis zu dem Tag im Jahre 1981, an dem seine Überreste in einem Schützenloch gefunden wurden.

      Fett dachte an den 7. Dezember 1944. Sieben Messerstiche. Was sagte Elke Unsleber? »Voll in die Zwölf.« Kopfschuss. Sieben und zwölf. 7.12., der Tag des Horrors hier am Burgberg. Im Schnee, im Matsch, im Eis, im Regen, im Dreck, im Granatenhagel. Die Amerikaner waren seit dem 12. September 1944 in Deutschland. Da erreichte die erste Einheit Roetgen, und zur Warnung standen überall die Schilder: »Entering Germany«. Jetzt lag hier oben Eugen Kaltenbach, erschossen mit einem M1 Karabiner der US-Army. Die Patronenhülse auf dem Grab von Peternell. Eine Ablenkung? Fett schaute auf Bergstein, Brandenberg, Vossenack, Schmidt, das Kalltal. Wolkenfetzen jagten von Westen nach Osten, es lag Schnee in der Luft. Ein Pfiff. Die Rurtalbahn. Wo war er hineingeraten, wer lenkte hier das Geschehen, warum diese Messerstiche, diese Legende, diese Stephen-King-Geschichte aus dem 16. Jahrhundert? Oder narrte sie jemand? Fett blickte auf Bergstein. Aus einigen Kaminen stieg Rauch, der sofort vom Wind nach Osten vertrieben wurde. Er steckte die kalten Hände in die Jackentasche seines gefütterten Parkas, den er auf seinem Klapprad brauchte. Die Dockermütze zog er fest über die Ohren. Er war nicht überzeugt von den Verbindungen zur US-Army. Zu offensichtlich, zu einfach.

      Die wilde Jagd

      Schmelzer saß im Wagen. Er hatte etliche Telefonate geführt. »Damit Sie nicht denken, ich beiße mich an der Wolfslegende fest. Habe bereits Aufträge erteilt.«

      »Wolf oder Hund?«

      »Wolfshund, Chef.«

      »Zum Glück wurde Kaltenbach nicht nach dem 26. Dezember ermordet, sonst würden Sie über die Wilde Jagd spekulieren.«

      »Wer oder was, um Himmels willen, ist die Wilde Jagd?«

      »Ein wenig Kenntnis über deutsche Mythen kann nicht schaden, Herr Kollege. Schlag nach bei den Brüdern Grimm. Von Weihnachten bis zum Dreikönigstag treibt Die wilde Jagd ihr Unwesen. Mit Wolfsgeheul und Hundegebell. Diese Gestalten schießen durch den Nachthimmel hinunter in die Wälder, erschrecken Wanderer, Jäger, Förster, Waldarbeiter. Wer nicht spurt, kommt mit. Auf ewig Wilde Jagd. Vielleicht haben die sich im Kalender vertan, und Eugen Kaltenbach musste sterben.«

      »Schöne Bescherung. Wilde Jagd und Sürches Mossel. Zwei grausige Legenden.«

      »Genug mit den Legenden und Mythen. Wer war Eugen Kaltenbach?«

      Schmelzer öffnete die Datei auf seinem Handy: »Jahrgang 1944, einziges Kind von Wilhelm Kaltenbach, der vor 1933 von Schlesien in die Eifel auswanderte, einen Hof kaufte und ziemlich schnell in der kargen Eifel mit Erfolg wirtschaftete. Vater Wilhelm trat früh der NSDAP bei, quasi alter Kämpfer, und war prompt 1933 die Nummer eins. Ortsvorsteher, Goldfasan, also mit Uniform der SA in Braun und goldenen Streifen. Freigestellt vom Krieg, zuständig für die Landwirtschaft in einem Teil der Nordeifel. Er wurde entnazifiziert. Moment, da gab es einen Prozess, der im Sande verlaufen ist. Wilhelm Kaltenbach soll den deutschen Verteidigern des Burgbergs Stellungen der Amerikaner verraten haben. Darunter auch ein Haus mit verletzten US-Soldaten. Das Haus wurde unter Artilleriebeschuss genommen, alle Soldaten starben. Ein Nachbar habe den alten Kaltenbach bei den Amerikanern denunziert. Angeblich aus Rache am Goldfasan, der seine Macht missbraucht habe, um sich Felder, Wälder und Wiesen unter den Nagel zu reißen. Trotzdem muss der alte Kaltenbach glimpflich davongekommen sein mit Entnazifizierungsverfahren und so weiter. Das Verhältnis zum Dorf und den Nachbarn blieb zerrüttet. Die Mutter des Toten stammte auch aus Schlesien, starb Ende der 50er-Jahre.«

      Fett schaute ihn fragend an: »Motiv Rache? 2019 und 1944. 75 Jahre später kommt jemand und übt Rache an Eugen Kaltenbach, dem Sohn, und das auf diese spektakuläre Art?«, sinnierte Fett. »Warum nicht in Ruhe bei ihm in der Wohnung? Weil es der Burgberg ist? Weil es um den Burgberg ging vor 75 Jahren? Sieben Stiche, Schuss auf die Zwölf. 7. Dezember 1944, Angriff auf den Burgberg, Verrat von Kaltenbach, er besiegelt das Schicksal vieler Amerikaner und wird mit einem Karabiner der US-Army erschossen. Fall gelöst. Bravo, Schmelzer. Jetzt müssen wir die Nachfahren der US-Soldaten checken, schauen, wer vor Kurzem von den USA nach Europa gekommen ist. Vielleicht lebt jemand sogar in Deutschland oder Europa. Klasse. Kann Monate dauern. Sehr gut.« Fett machte eine Pause. »Holen Sie bei Unsleber den Wohnungsschlüssel von Kaltenbach. Wir schauen uns sein Haus an, und dann geht es zur Kantine.«

      Häuser und Menschen

      Eugen Kaltenbach hatte am Ortsrand von Bergstein ein Haus gebaut und dann den Hof seines Vaters Wilhelm verpachtet. Steingarten statt Vorgarten, eine Kutsche mit Bauern aus chinesischem Beton, mit Plastik überzogene Sträucher zum Schutz vor Schnee und Eis. Die dunklen Butzenscheiben der Fenster wirkten unheimlich. Aus dem Kamin stieg Rauch auf. Fett betrachtete das Haus, den Vorgarten, die Steinwüste. Schmelzer schätzte den Abstand zu den nächstgelegenen Häusern auf einen Kilometer. Kaltenbach hatte abseits gewohnt.

      Fett öffnete die Tür. Ein unangenehmer Geruch schlug ihm entgegen. Er kannte den Geruch der Häuser von Toten. Jedes Haus roch anders. Das Leben eines alten Mannes, der sich allein versorgte. Von einer Haushälterin war nichts bekannt. Fett öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Der Blick ging hinüber nach Schmidt und Kommerscheidt. Ein alter Schreibtisch, Papiere, Rechnungen. Auf dem Kaminsims Fotos von Eugen Kaltenbach mit seiner Ehefrau, die vor Jahren ums Leben gekommen war. Keine Kinder. Keine Fotos der Eltern. Die Abrechnungen des Pächters Tyssen akkurat abgeheftet. Gab es Verwandtschaft? Fett blätterte im Familienstammbuch von Eugen Kaltenbach, fand Angaben über seine Ehefrau.

      »Die KTU soll das Haus durchsuchen. Hier könnten Geheimnisse schlummern, die uns Motive liefern«, rief er Schmelzer zu, der aus dem Schlafzimmer kam und vor lauter Hunger ziemlich unaufmerksam die Schubladen durchsucht hatte.

      »Ein paar Sparbücher der Sparkasse Düren. Arm war er nicht. Mehrere 100.000 Euro«, brummte Schmelzer.

      »Wer erbt? Das muss uns interessieren. Prüfen Sie das Telefon und den Anrufbeantworter.« Fett war müde. Wieder dieser Blick in ein seltsames Leben. Eugen Kaltenbach, heute Morgen für ihn noch unbekannt; nun stocherte er in dessen Leben herum.

      »Alles sauber, Chef. Als ob niemand angerufen hätte. Keine Aufzeichnungen auf dem Anrufbeantworter. So möchte ich nicht enden. Abgeschieden, alleine, steinreich und einsam am Ortsrand von Bergstein.«

      »Steht Ihnen auch nicht bevor, Schmelzer. Wo ist der Bauernhof mit dem Pächter Tyssen?«

      »Hinten am Sportplatz von Bergstein.«

      »Haus versiegeln, KTU informieren. Wir fahren rüber.« Dann hörten beide ein Geräusch aus dem Keller, als ob eine Flasche umgekippt sei.

      Fett legte den linken Zeigefinger an seine Lippen und zog mit der rechten Hand die Dienstwaffe aus dem Holster. Schmelzer nickte ihm zu, zog ebenfalls seine Pistole. Fett zeigte in Richtung Kellertür. Schmelzer ging vor. Die Tür war offen, leicht angelehnt. Wieder ein Geräusch. Schweißperlen auf der Stirn. Fett wischte kurz mit dem linken Handrücken. Schmelzer schaute ihn an.

      »Polizei! Kommen Sie heraus! Das Haus ist umstellt.« Fett übertrieb. Aber für Telefonate mit Aachen blieb ihm