Olaf Müller

Herr über Leben und Tod bist du


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erhob sich majestätisch der Dom gen Himmel. Ruhig und gelassen. Als ob ihn das konsumfreudige Treiben nicht stören würde. Was hatte er alles gesehen, der Dom? Seit der Erbauung des Oktogons bescherten Märkte, Messen, Krönungsfeiern Umsatz und Trubel. Händler waren von nah und fern nach Aachen gekommen, um ihre Produkte anzupreisen und zu verkaufen. Mit den Krönungen war stets ein Auftrieb von Gauklern, Narren, Prostituierten und Händlern einhergegangen. Blieb nicht alles gleich? Ging es nicht im Mittelalter auch um Alkohol, Grillgut, schnelle Freude, Wein, Weib und Gesang? Und heute? Fett kettete sein Klapprad an einen der wenigen freien Ständer. Auch hier Not. Zu wenig Fahrradbügel in der Stadt. Zu wenige Sitzbänke im Sommer. Zu wenige öffentliche Toiletten für die älter werdende Bevölkerung, für die Tages-Senioren-Touristen. Er stellte sich vor das Schaufenster der Buchhandlung Schmetz am Dom, betrachtete die Neuerscheinungen, die Auswahl von Kinderbüchern, einen Bildband über die Eifel, den neuen Kalender des Fotografen Andreas Herrmann. Er schritt zur Bratwursthütte an der Ecke des Münsterplatzes. Als er bestellen wollte, kaufte gerade ein gut genährter Tourist die letzte Portion Reibekuchen.

      »Sie bekommen gleich welche.« Die eingemummelte junge Frau, wahrscheinlich Studentin, schaute auf den Reibekuchenkoch, der stoisch den Teig in das spritzende Öl kippte.

      »Vier Euro. Mit Apfelmus?«

      »Ja, mit Apfelmus.« Zurück zu den Schaufenstern der Buchhandlung. Nebenan, bei Hanswurst, wurden die Bratwürste verzehrt. Die Reibekuchen waren heiß und ölig. Er genoss sie mit Blick auf die Klassiker, schaute auf Fontane, dessen 200. Geburtstag bevorstand, auf Rilke, Brecht und Thomas Mann. Wunderschöne Ausgaben. Fontane, dachte Fett, als er ein Stück Reibekuchen zur Abkühlung in das kalte Apfelmus tunkte, Fontane müsste ich nochmal lesen. Der Stechlin, die Geschichte vom alten Dubslav. Dann drängte sich Eugen Kaltenbach zwischen seine Betrachtungen. Heute Morgen lag er tot auf dem Krawutschketurm, jetzt in der Rechtsmedizin der Uniklinik Köln. Ein Leben geht davon. Von dem oder den Tätern keine Spur. Fett tippte auf einen Täter. Ein Mann. Muss ein Mann gewesen sein, der kaltblütig im Graben auf Kaltenbach gewartet hatte. Ein Schuss. Die Stiche mit dem Messer. Der letzte Reibekuchen war soweit abgekühlt, dass Fett ihn mit wenigen Bissen vertilgen konnte. Er holte ein paar Servietten, um die fettigen Finger zu säubern, dann machte er sich auf den Weg, vorbei am Juwelier Grobusch in Richtung Eingang des Doms. Er schaute auf die hellgraue Ungarnkapelle, stieg ab und schob weiter in den Domhof. Er dachte über Deutschland im Winter 2019 nach. Was war los in diesem Land? Die Energiewende vergeigt, die Sicherheit vernachlässigt, die Verkehrswende nicht geschafft, Experimente im Bildungsbereich mit G8 und G9, die Bundeswehr unterfinanziert, die Bahn kaputtgespart, die Hochschulen überfüllt, neuer Rechtsextremismus. Der schwarze Hund schlich aus Richtung Taufkapelle des Doms an Fett heran. Die vom Glühwein erhitzten Gesichter hier, dort die Baustellen des Landes. Kann schnell gehen. Zack, ist die Rezession da. Die Autoindustrie schwächelt. Als ob Elektroautos und Lastenräder alles richten würden. Jeden Tag ein Überbietungswettbewerb für das Klima, den Umweltschutz. Ein Tempolimit bekam die Regierung nicht hin. Diese Widersprüche machten die Bürger kirre. Zumindest die, die noch Tageszeitung lasen, sich engagierten, Steuern zahlten, Kinder zur Kita und Schule brachten. Dazu eine immer bedrohlicher werdende Zahl der Abgehängten, die weit weg von den so genannten Diskursen und Narrativen der Eliten lebten. Narrativ, auch so ein Schaumschlägerwort. Die Rausgefallenen schauten den Bachelor und nicht Frank Plassberg. Traumschiff als Synonym für den Zustand der Gesellschaft. Er lachte, denn das Traumschiff war nicht mehr politisch korrekt. Nun mussten sich die Kreuzschifffahrtsreisenden rechtfertigen. Umwelt- und Meeresverschmutzung. Eher eine Reise im Orient Express, die würde durchgehen. Weihnachtsmarktbesucher strömten ihm entgegen und stoppten seinen Gedankenfluss.

      »Geben Sie mir den Beutel.« Eine sehr bewegte Frau, vermutlich Gemeindemitglied der evangelischen Kirche, war neben dem Berufsbettler ausländischer Herkunft in die Hocke gegangen. Sie hatte ihm einen Becher Tee gereicht und zog dem überraschten Obdachlosen soeben zur umweltgerechten Entsorgung den Teebeutel aus dem Becher. Der arme Kerl verstand weder Deutsch noch die Sache mit dem Beutel. Die wohlgesinnte Frau, mit Kleidung wie aus einem Missio-Shop, sprach so laut, dass Hilfsbereitschaft und Selbstlosigkeit noch im Quadrum der Domschatzkammer und im Schlafzimmer des Bischofs gehört wurden. Sie packte den Teebeutel in eine Plastiktüte wie andere die Hinterlassenschaft ihrer Vierbeiner. »Ich mach das schon, ich mach das schon!« Fett erinnerte sich an die Klassenkameraden, die Streetworker werden wollten. Allein der Begriff war damals Kult. Streetworker, er dachte immer an die Aachener Kehrmännchen, das waren für ihn die wahren »Streetworker«. Die Kultstreetworker vom Sozialamt knieten zumeist im Studentenlook der 70er-Jahre mit langen Haaren und Bart neben Drogenabhängigen und hatten »eh Mann, volles Verständnis« für den Typ. Er hatte nichts gegen Sozialarbeiter, die wurden gebraucht, aber die Gesten gingen ihm auf den Senkel, das klischeehafte Benehmen oder das offensichtlich zur Schau getragene »Ich bin ein besserer Mensch.« Das Büchlein 111 Tugenden, 111 Laster hatte fein die Gratwanderungen herausgearbeitet, ab wann eine vermeintliche Tugend in ein Laster umschlägt. Wie hieß es im Kapitel über Mitgefühl: »Übersteigerte Empathie mündet in Missachtung sowohl der anderen wie unserer selbst.« Hatte Fett sich gemerkt. In der gerade beobachteten Szene wurde der Bettler entmündigt. Allein in der Menge schob Fett sein Fahrrad weiter Richtung Kockerellstraße. Es wurde ruhiger. Ab wann dominieren Minderheiten die Mehrheiten, fragte er sich. Wie kann eine Gesellschaft den lauten Dauerton aushalten, den Minderheiten, die es wirklich vor Jahrzehnten schwer hatten, nun anschlugen? Bei seinen Wanderungen in der Eifel erlebte er andere Herausforderungen. Kaum Nahverkehr, kein Internetanschluss, kein Gymnasium um die Ecke, Bäcker und Metzger geschlossen, höchstens ein furchterregendes Gewerbegebiet am Ortseingang zur Kreisstadt. Von Shuttle-Party, Ausstellungseröffnung, Streetfood-Events und Karneval im Sommer war dort nicht die Rede; höchstens Schützenfest und Maibrautversteigerung. Nachdenklich und melancholisch blickte er in Richtung Eilfschornsteinstraße.

      Herr Jens und die Identitätsfrage

      »Sind Sie nicht Herr Jens?«

      Ein älterer Herr kam im Halbdunkel der Straßenbeleuchtung auf Fett zu. »Sie sind doch Herr Jens!«

      »Was nicht ist, das kann noch werden. Fett, Vorname Michael. Jens steht nicht in meinem Ausweis.«

      »Oh, entschuldigen Sie bitte. Sie sehen aus wie Herr Jens. Auf Wiedersehen.«

      Fett blieb irritiert stehen. Zum wiederholten Mal war er verwechselt worden. In Kloster Steinfeld war ein Bierkutscher auf ihn zugekommen und hatte ihn mit »Guten Tag, Herr Scheidtweiler« begrüßt. Als er Toni Erdmann im Capitol-Kino schaute, drehte sich die Dame vom Nachbarsitz zu ihm und sagte: »Sie sehen aus wie mein Bruder.« Und bei einer Podiumsdiskussion freute sich der Historiker Michael Wolffsohn: »Schön, dass Sie gekommen sind. Wir kennen uns ja.« Diese plötzlich auftauchenden und zunehmenden Verwechslungen nagten an ihm. War er ein Avatar, ein geklonter Kommissar? Oder war sein Vater in Wirklichkeit ein umherziehender Kurzwarenverkäufer gewesen, der an vielen Orten seine fruchtbaren Spuren hinterlassen hatte? Fett versuchte, es von der komischen Seite zu betrachten, so richtig gelang es nicht. Er war nicht einmalig, sondern es gab viele Fetts. Wenigstens äußerlich. Ihm fiel eine Erzählung von Clemens Brentano ein, die er kürzlich im Antiquariat gefunden hatte: Die mehreren Wehmüller. Sie handelte von der Auflösung der Identität, von Verwechslungen, von Spuk, Zauberei und der Wilden Jagd. Er dachte daran, als er in Höhe des Hauses stand, in dem einst Sport Gruber beheimatet war. Für immer geschlossen. Danke, Internet, dachte Fett. Was wird aus unseren Städten? In Höhe des Bistros Anvers stieß er fast mit Vera Braun zusammen, Redakteurin des Zeitungsverlags. Sie bewegte sich beschwingt in Richtung Jakobstraße.

      »Dein Freund und Helfer, ja da schau an. Der liebe Kommissar Fett.«

      »Vera, die Chefaufklärerin des Zeitungsverlags. Welche Freude, welche Ehre.« Wenigstens sie hat mich nicht verwechselt, dachte Fett.

      »Hör auf zu säuseln, du alter Colombo. Oder Columbo? Wie hieß der denn?«

      »Columbo.« Schon wieder eine Verwechslung, aber nicht mit Columbus, schoss es Fett durch den Kopf.

      »Lass uns einen Kaffee trinken, gleich hier im Anvers.« Sie lächelte ihn an.

      »Wenn du mich nicht ausquetschst. Einverstanden.«

      Fett