Kilometer bis nach Hause. War das überhaupt noch sein Zuhause? Er wusste es nicht. Aber die Frau, die am besten wusste, was in ihm vorging, würde da sein. Sie würde wissen, was jetzt zu tun war.
Das Ortsschild seines Heimatdorfes begrüßte ihn. Das Sodbrennen war wieder schlimmer geworden. Kein Wunder, nachdem er gerade Gift und Galle gespien und dabei wohl seine Speiseröhre verätzt hatte. Eine Gelse surrte an seinem Ohr. Die war sicher ins Wageninnere geflogen, als er gekotzt hatte. Gelsen mitten in der Nacht? Warum war es heute so verdammt heiß? Es war doch schon nach 22 Uhr.
Nur noch einmal links abbiegen. Ihr Wagen war bereits vor seinem Haus geparkt. Gott sei Dank, sie war schon da. Sie stand vor seiner Eingangstür und blickte ihm entgegen. Er wartete auf das Gefühl von Erleichterung, als er sie dort stehen sah, aber stattdessen registrierte er, dass nicht nur seine Speiseröhre, sondern sein ganzer Brustkorb in Flammen stand. Es war, als wäre die Faust zurückgekehrt und würde nun seine Brust zerquetschen. Der Mann bekam keine Luft mehr. Er röchelte. Ihm wurde schwarz vor Augen. Er fiel nach vorne auf das Lenkrad.
Dass sein Wagen in den ihren knallte, bekam er gar nicht mehr mit.
Kapitel 1
Egreschl und Nacktschnecken
Obwohl Nacktschnecken Zwitter sind und sich daher auch alleine befruchten können, paaren sie sich mit Leidenschaft. Manche Schnecken streicheln sich dabei bis zu 24 Stunden lang, bevor es zur Sache geht. Den größten hat dabei die Limax redii. Bei einer Körpergröße von 13 bis 15 Zentimetern hat diese Schnegelart einen bis zu 85 Zentimeter langen Penis.
Vorsätzlicher Mord wäre Vera Horvath in ihrem früheren Leben in der Stadt nie in den Sinn gekommen. Doch jetzt lebte sie im Südburgenland. Und es schien, als würde das Land das Schlimmste in ihr zum Vorschein bringen.
Es war ein Morgen, der für Gärtner prinzipiell nach Hoffnung roch: Sonne, Vogelgezwitscher, die Aussicht auf eine baldige reiche Ernte. So würde es zumindest ein poetisch veranlagter Mensch beschreiben. Vera war eher der praktische Typ.
Sie ging den schmalen Weg entlang, der vom Haus zum Bauerngarten der Urlioma führte. Das Gras war hoch und morgenfeucht, und sie spürte, wie die Feuchtigkeit durch das dünne Netzmaterial ihrer Turnschuhe drang und die kühle Nässe ihre Zehen erreichte und klamm werden ließ.
Vera zog die Zehen ein, beugte sich zu einem kleinen dornigen Strauch herunter und griff vorsichtig nach einer Stachelbeere. Wie hatte die Urlioma immer auf Heanzisch dazu gesagt? Egretscherl, genau – wie lautmalerisch. Sie drückte die noch grüne Frucht prüfend zwischen Zeigefinger und Daumen.
Die Beere fühlte sich hart an. Sie wiederholte den Test bei ein paar anderen Früchten, verletzte sich dabei an einem langen Dorn, fluchte und widmete sich dann den Beeren, die auf der Hinterseite des Busches weiter außen, näher zur Sonne wuchsen. Endlich ertastete sie eine, die ihr reif schien. Sie knipste das borstige Ende und den Stielansatz mit den Fingernägeln ab und schob sich die Stachelbeere in den Mund.
Die Frucht zerplatzte beim Daraufbeißen, das gelartige Fruchtfleisch war eher süß als sauer. Die brauchten wohl noch zwei, drei Wochen. Vera war dennoch auf den Geschmack gekommen und nahm noch ein paar weitere Egretscherl in der hohlen Hand als Wegzehrung auf ihre morgendliche Inspektionsrunde mit.
Unter der Hortensie grinste sie ihr Gartenzwerg an. Die Hortensie hieß Annabelle. Der Gartenzwerg hatte keinen Namen. Er war auch kein Sympathieträger, sondern ein unbeholfenes Abschiedsgeschenk von Veras Ex-Kollegen von der Zeitschrift »Lust aufs Land«, bei der sie die letzten acht Jahre als Redakteurin gearbeitet hatte.
»Lust aufs Land« war jahrelang das Erfolgsprodukt des Verlags gewesen, wie alle Magazine auf dem Markt, die das Wort »Land« im Titel trugen. Honigbiene, Heimat und Harmonie statt Krieg, Krise und Klimawandel. Zu den besten Zeiten hatten wir mehr Leser als das »Profil«, dachte Vera bitter. Aber die fetten Jahre waren vorbei. Die Printkrise hatte auch vor den Heften, die die heile Welt promoteten, nicht Halt gemacht.
Sankt Martin in der Wart – mit 18 hatte Vera geglaubt, diesen Ort für immer hinter sich gelassen zu haben. Jetzt, mit 42, saß sie im Haus der verstorbenen Urlioma und versuchte, eine Gstätten zu bändigen, die so gar nichts mit den illustren Gartenbildern in der »Lust aufs Land« zu tun hatte. Die Urlioma hatte lange im Heim gelebt, bevor sie gestorben war und Vera das Haus hinterlassen hatte. In dieser Zeit hatten Brennnesseln und Brombeeren die Herrschaft über die einstmals gepflegten Beete an sich gerissen. Vera sah ihre wuchernden Triebe überall emporkommen.
Gab es noch etwas Schlimmeres? Ja, die Schnecken. Diese schleimige wurmförmige Plage, die alles vernichtete, was zögerlich emporwuchs. Erst hatten die Schnecken die Erbsensprösslinge und den Pflücksalat über Nacht weggefressen, dann die aufkeimenden Kürbis- und Gurkenpflanzen. Die Schnecken waren die Feinde des Neubeginns, die Zerstörer der gärtnerischen Zuversicht.
Vera hatte im Kampf gegen die Schnecken alle Empfehlungen aus der »Lust aufs Land« ausprobiert. Sie hatte Eierschalen als abschreckende Barriere um die Jungpflanzen gestreut. Die Schnecken ließen sich nicht aufhalten. Am nächsten Tag waren die Jungpflanzen weg. Hindernisse wie den Kupferdraht, die Sägespäne und den Kaffeesatz überwanden die Viecher mühelos.
Eingegrabene Bierfallen hatten den Effekt, dass, angelockt vom Bierdunst, alle Schnecken aus dem Bezirk Oberwart zum Massenbesäufnis kamen. Und Besoffene haben wohl wirklich immer ein Masel. Denn ertrunken waren nur wenige.
Inzwischen hatte Vera schon so viel Geld für Schneckenbarrieren und immer neue Jungpflanzen ausgegeben – letztere natürlich alte Sortenraritäten in samenfester Bioqualität – dass sie um das Geld ihr Gemüse auch gleich im teuersten Delikatessengeschäft Wiens hätte kaufen können.
Vera steckte sich eine Stachelbeere in den Mund. Heute war es besonders schlimm. Die Roten Wegschnecken dachten gar nicht daran, sich ihrem Namen entsprechend am Weg aufzuhalten. Einzelne Exemplare wiegten sich in den Ruten der Sommerhimbeeren und hatten die heranreifenden Früchte bereits mit einer Schleimschicht überzogen, die in der Sonne getrocknet war und wie dünne Folie glitzerte. Ein Dutzend fetter, ledriger Exemplare kroch über die Kohlrabi und fräste sich zielstrebig durch die jungen Früchte. Besonders schlimm hatte es das Salatbeet erwischt: Das Grazer Krauthäuptel war Austragungsort einer wahrhaften Schneckenorgie, je zwei oder gar drei Exemplare paarten sich dort, indem sie sich seltsam verschlungen aneinanderpressten. Der Gartenzwerg grinste dämlich.
Vera dachte an die Kündigung. Aussortiert. Sie war ausgemustert worden. Zu alt, wertlos, unnütz und offenbar sogar zu deppert, um den Urliomagarten halbwegs in Schuss zu halten und mit ein paar hirnlosen Schnecken fertig zu werden. Sie spürte einen Knoten im Hals. Tränen schossen ihr in die Augen. Wut stieg in ihr hoch.
Sie steckte sich die restlichen Stachelbeeren auf einmal in den Mund, um die Hand frei zu haben. Dann griff sie zum Löwenzahnstecher, den sie nach dem gestrigen Kampf gegen die Brombeerwurzeln am Beetrand abgelegt hatte. Ein letzter prüfender Blick auf ihr erstes Opfer. Dann hob sie die Hand und stach zu. Die Schnecke sank beim Versuch, sie zweizuteilen, in die weiche Erde ein, und Vera hackte noch ein paar Mal auf die Stelle, um ganz sicher zu sein, dass das im Erdreich versunkene Tier tot war. Beim nächsten Exemplar war sie klüger: Sie bugsierte ihr Opfer erst mit dem Werkzeug aus dem Beet heraus, bevor sie es auf dem Rasen erledigte. Die dritte Schnecke war besonders leicht zu erlegen, weil sie am hölzernen Beetrand emporkroch, der dem Schneidewerkzeug entsprechend Widerstand leistete. Ein einziger Schnitt mit der scharfen Klinge genügte. Schleimige, gelb-graue Innereien quollen aus den Körpern der Toten. Schnecken haben kein Blut, aber das, was Vera erfasste, konnte man nur als Blutrausch bezeichnen. Eine nach der anderen erledigte sie wie im Fieber. Zehn, elf, zwölf, 13 – Vera zählte mit – 29, 30, 32 … Die Nacktschnecken auf den Himbeeren schüttelte sie von den Ruten, bevor sie sie erledigte. Und es fühlte sich gut an, erleichternd, befreiend, befriedigend … bis sie die letzte Stachelbeere zerbiss und bemerkte, dass das schleimige Massaker vor ihr auf unangenehme Art dieselbe Textur hatte wie der Obstbrei in ihrem Mund. Vera ließ den Löwenzahnstecher sinken. Ihr war schlecht.
Sie bohrte das Werkzeug ein paar Mal in die Erde, um dieses vom Schneckenschleim ihrer Opfer zu befreien, und ging dann langsam zum Haus zurück.