Alfred Bekker

Ein Kommissar läuft Amok: Ein Kubinke Krimi


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      Wir hatten Berlin fast erreicht, da meldete sich unser Chef telefonisch bei uns. Ich nahm das Gespräch über die Freisprechanlage entgegen, so dass Rudi mithören konnte.

      „Harry? Rudi?”, meldete sich Kriminaldirektor Hoch, der Leiter des BKA Berlin zu Wort. „Was haben unsere Kollegen in Quardenburg ermittelt?”

      Ich lieferte einen kurzen zusammenfassenden Bericht dessen, was Dr. Wildenbacher und Dr. Förnheim herausgefunden hatten und welche Spekulationen sich daran knüpften.

      „Ich möchte, dass Sie beide gleich nochmal in mein Büro kommen. Es haben sich ein paar neue Erkenntnisse über Marenberg ergeben.”

      „In welcher Hinsicht?”, fragte ich.

      „Zusammengefasst läuft es auf Folgendes hinaus: Er war nicht der Muster-Chef, den man erwartet. Es gab offenbar massive Schwierigkeiten. Es sind wohl im Verantwortungsbereich der Polizei von Essen eine ganze Reihe von Ermittlungsfehlern begangen worden. Man musste Tatverdächtige freilassen, weil Beweise auf illegale Weise beschafft worden sind. Beweismittel sind unter ungeklärten Umständen verschwunden. Außerdem litt Marenberg wohl seit längerem unter einer Medikamentenabhängigkeit und reagierte zunehmend gereizt und aggressiv. Es liegen mehrere Beschwerden in dieser Hinsicht vor, und es gab deutlich mehr Versetzungsgesuche an dieser Dienststelle, als es dem Mittelwert entsprechen würde.”

      „Wo kommen diese Informationen denn jetzt her?”, fragte ich.

      „Die wichtigere Frage ist, wieso sie erst jetzt an mich herangetragen wurden - und auf welchem Weg das geschah”, gab Kriminaldirektor Hoch zurück. „Einer meiner Kollegen hier im Gebäude hat mich darauf angesprochen. Über all diese Dinge gab es offenbar längst Akten und offizielle Vorgänge. Kurz gesagt: Marenberg stand kurz vor dem Rausschmiss. Seine Bilanz war nämlich keinesfalls so makellos, wie es erst den Anschein hatte. Er war angezählt - bei der nächsten Kleinigkeit und vor allem bei Nichterfüllung seiner Auflagen, wäre er seines Postens enthoben worden.”

      „Was denn für Auflagen?”, fragte ich.

      „Er war verpflichtet worden, die psychischen Probleme zu behandeln, unter denen er wohl zunehmend litt und diese Behandlung fortzusetzen.”

      „Dann ging man davon aus, dass diese Probleme nur vorübergehender Natur waren.”

      „Man hat damit wohl vor allem auf die Tatsache Rücksicht genommen, dass Marenberg in der Vergangenheit tatsächlich großartige Verdienste hatte und wollte ihm eine Chance geben, sich in absehbarer Zeit wieder zu fangen.”

      „Dann hat man uns offenbar mit Vorsatz unvollständig informiert?”, schloss Rudi.

      „Das sieht ganz so aus”, bestätigte Kriminaldirektor Hoch. „Ich möchte, dass Sie gleich noch einmal in mein Büro kommen, damit wir ein paar Einzelheiten durchgehen können. Und davon abgesehen würde es wohl unumgänglich sein, dass Sie so schnell wie möglich nach Essen fliegen, um dort aufzuräumen.”

      „Eine Polizei-Dienststelle, in der einiges nicht so zu laufen scheint, wie es laufen sollte”, stellte ich fest.

      „Bis gleich”, sagte Kriminaldirektor Hoch und beendete das Gespräch.

      „Scheint, als hätte Marenberg nichts mehr zu verlieren gehabt, Harry”, sagte Rudi. „Und ist das nicht geradezu typisch für Amokläufer?”

      „Jedenfalls erscheinen Dr. Wildenbachers Erkenntnisse jetzt in einem ganz anderen Licht”, sagte ich.

      „Will da jemand das Andenken eines Dienststellenleiter schützen?”

      „Oder sich selbst, Rudi.”

      „Aber wie kann man so naiv sein, zu glauben, damit durchzukommen, dass man einfach einen Teil der Informationen nicht schickt?”

      „Ach, Rudi, du weißt doch, wie so was läuft!”

      „So? Erklär’s mir! Mich macht das nämlich fassungslos!”

      „Eine Organisation muss nur groß genug sein, dann geschehen Dinge, die kein Mensch mehr erklären kann. Immer wieder. Und wenn du mal zurückdenkst, dann haben wir doch schon in Hamburg das eine oder andere Mal Dinge erlebt, von denen wir auch vorher geglaubt hätten, so etwas sei nicht möglich.”

      „Du meinst, dass es jemand einfach mal versucht hat?”

      „Könnte man so sehen. Aber Kriminaldirektor Hoch wird uns dazu sicher noch Näheres sagen.”

      Ich sah schon einen Berg zusätzlicher Arbeit auf uns zukommen. Auf uns und die Kollegen, die uns unterstützten. Denn es erschien mir nun unumgänglich, dass die Fälle, mit denen Marenberg direkt zu tun gehabt hatte, noch einmal daraufhin abgeklopft werden mussten, ob sie mit dem Geschehen in dem Happy-Family-Einkaufszentrum von Essen in irgendeinem Zusammenhang standen. Das konnten Rudi und ich natürlich nicht alles selbst bewältigen. BKA-Kriminalinspektoren konnten schließlich keine Wunder vollbringen. Aber dazu hatten wir ja gegebenenfalls Kollegen, die uns unterstützten. Zum Beispiel Dr. Lin-Tai Gansenbrink, eine Mathematikerin und IT-Spezialistin, die ebenso wie Dr. Wildenbacher und Dr. Förnheim Teil unseres Teams war und deren Hilfe wir gerade bei solchen umfangreichen Analysen gerne in Anspruch nahmen.

      6

      „Sie müssen einen Moment warten“, sagte Frau Dorothea Schneidermann, die Sekretärin unseres Chefs, als wir dessen Vorzimmer erreichten. „Kriminaldirektor Hoch führt gerade noch ein paar wichtige Telefongespräche.“

      Ich konnte mir gut vorstellen, dass diese Gespräche in Zusammenhang mit unserem Fall standen. Kriminaldirektor Hoch war zwar erst seit kurzem Leiter des BKA, so wie Rudi und ich erst seit relativ kurzer Zeit Kriminalinspektoren waren, die im Auftrag der BKA Zentrale von Berlin ermittelten. Aber als jahrzehntelanger Dienststellenleiter der Hamburger Polizei hatte er mit Sicherheit ein dichtes, landesweites Netz von Kontakten knüpfen können. Und die konnten gerade in einem Fall wie diesem von Nutzen sein.

      Schließlich war es nun ziemlich offensichtlich, dass wir es mit einer faulen Stelle innerhalb unserer Organisation zu tun haben mussten. Ob das nur Unfähigkeit einzelner beteiligter Personen oder der Versuch war, bewusst etwas zu verschleiern, würde sich zeigen müssen.

      „Ich habe für Sie beide Zimmer in Essen gebucht. Und außerdem einen Flug”, sagte Dorothea Schneidermann.

      „Danke”, sagte ich.

      „Wir können es kaum erwarten, in dieser Weltstadt zu landen” meinte Rudi sarkastisch.

      „Die Stadt hat sich entwickelt”, meinte Dorothea Schneidermann. „Wenn man so will, könnte man Essen, Duisburg, Bottrop, Bochum und die anderen Städte zu einer zusammenfassen, so eng, wie sie aneinanderliegen. Da ist doch schon alles zu einer Großstadt zusammengewachsen.”

      „Hm, da muss an mir irgendwie was vorbeigegangen sein”, meinte Rudi mit einem Grinsen.

      „Tja, langsam sollte Ihr Horizont etwas weiter sein, Rudi”, meinte Dorothea. „Ein Ex-Freund von mir wohnt in Essen und arbeitet für eine High-Tech-Schmiede. Ich gebe es zu, wäre das nicht der Fall, wüsste ich auch nichts darüber, aber mit Hamburg oder Berlin kann man dort sicher wohl auch