Briefe im Jahr sind, die ich Ihnen – als Durchschnitt angenommen – geschrieben habe, oder noch mehr, denn immerhin habe ich erst fünfeinhalb Jahre nach unserer Bekanntschaft mit dem Zählen begonnen.“ Ergänzt wurde der schriftliche Gedankenaustausch durch gegenseitige Besuche.
Hannah von Bredow und Sydney Jessen begegneten sich demnach erstmals Mitte des Jahres 1924. Nach seiner Promotion in Berlin zum Dr. rer. pol. wirkte Jessen als Privatsekretär für Otto Fürst von Bismarck, Hannahs Bruder, der ab 1923 Abgeordneter für die nationalkonservative Deutschnationale Volkspartei (DNVP) im Reichstag war. Bald entstand ein Vertrauensverhältnis zwischen dem 27-jährigen Abgeordneten und seinem um vier Jahre älteren Sekretär, in das Ottos Familie einbezogen wurde.
Hannah von Bredows Interesse am ein Jahr älteren Sydney Jessen belebte nicht zuletzt die Lektüre von Thomas Manns im Januar 1924 erschienenem „Zauberberg“. Darin verlieh der Autor einzelnen der lungenkranken Patienten im Internationalen Sanatorium Berghof in Davos Züge bekannter Zeitgenossen, wie z.B. dem Mynheer Peeperkorn die des berühmten Autors Gerhart Hauptmann. Aber auch Geheimrat Prof. Friedrich Jessen, international anerkannter Tuberkulosespezialist und Vater von Sydney, fand sich in Gestalt des dirigierenden Arztes der Klinik, Hofrat Dr. Behrens, wieder.
Wohl als sehr einseitig wird Hannah von Bredow die Sicht des „Zauberberg“-Autors auf den „Sohn des Hofrates, Knut mit Namen“ empfunden haben. Dieser „kam auf Ferienbesuch und wohnte bei seinem Vater im Seitenflügel, – ein hübscher, junger Mann, dem aber ebenfalls schon der Nacken etwas zu sehr heraustrat. Man spürte die Anwesenheit des jungen Behrens in der Atmosphäre; die Damen legten Lachlust, Putzsucht und Reizbarkeit an den Tag, und in ihren Gesprächen handelte es sich um Begegnungen mit Knut im Garten, im Walde oder im Kurhausviertel.“1 Zwar blieb auch Hannah von Knut-Sydneys Äußerem nicht unbeeindruckt, dennoch ist die mehr als 40-jährige intensive Beziehung zwischen den beiden weit mehr den zahlreichen gleichgerichteten Interessen zuzuschreiben.
In Sydney Jessen fand Hannah von Bredow einen Brief- und Gesprächspartner von breiter Bildung und umfassenden Interessen. Mit ihm konnte sie sich über gesellschaftliche, historische, künstlerische, literarische, philosophische und besonders politische Themen stets angeregt und vertrauensvoll austauschen. Jessens literarische Ambitionen, die er in Gedichten, ebenso wie seine künstlerischen Fähigkeiten, die er in Porträts und Skulpturen auszudrücken wusste, trugen zur Wertschätzung und geistesverwandtschaftlichen Verbindung der Beiden über Jahrzehnte bei.
Der am 24. April 1892 in Hamburg geborene Sydney Jessen kam erst spät zum Studium. Nach humanistischem Abitur trat er im Jahre 1911 mit 18 Jahren als Seekadett in die Reichsmarine ein und nahm im Rang eines Leutnants zur See am Krieg teil. Bereits im Dezember 1914 geriet er für drei Jahre in englische Gefangenschaft, konnte dank Vermittlung von Schweizer Ärzten im November 1917 freikommen, übernahm noch eine Funkstation und beendete den Krieg als Oberleutnant. Eine weitere Laufbahn bei der Marine schloss die restriktive Versailler Rüstungskontrollpolitik der Siegermächte aus, sodass Jessen sich 1919 für das Studium der Ökonomie in Zürich, München und Hamburg entschied, um es nach fünf Jahren mit der Promotion in Berlin abzuschließen. Seine guten Englischkenntnisse kamen Jessen im Büro Otto von Bismarcks zugute, für den er bis 1926 auch die englische Korrespondenz betreute. Im Anschluss halfen ihm ab 1927 seine ebenso guten Französischkenntnisse in der Geschäftsführung des Deutsch-Französischen Studienkomitees. Das von Vertretern der Großindustrie gegründete Komitee diente der deutsch-französischen Verständigung. Aufgrund der Weltwirtschaftskrise kamen die Aktivitäten bereits im Jahre 1930 zum Erliegen.
Sydney Jessen hatte sich nach einer neuen Betätigung umzusehen. Seine im Jahre 1927 geschlossene Ehe mit Helene Gräfin von Zeppelin, einer Tochter des Lothringer Bezirkspräsidenten Friedrich Graf von Zeppelin-Aschhausen, erleichterte die Suche. Ein Jahr zuvor hatte die 21-Jährige von einer Großmutter im südbadischen Laufen ein Weingut geerbt, das Jessen dann leitete. Hannah von Bredow bemühte sich von Anfang an um ein gutes Verhältnis zu der zwölf Jahre jüngeren Helene Jessen und war nicht nur Gast bei der Hochzeitsfeier, sondern wurde auch Taufpatin der Tochter Iris.
Verschiedentlich besuchte Hannah von Bredow die Familie Jessen in Laufen, und Helen kam auch allein zu ihr nach Potsdam. Daneben entwickelte sich eine Korrespondenz zwischen den beiden Frauen, in der sich die geborenen Gräfinnen standesgemäß mit „Liebe Helene“ und „Liebe Hannah“ ansprachen. Ihre teilweise sehr umfangreichen Briefe beschloss Hannah bisweilen mit dem Gruß: „Leb wohl, meine liebste Helene, grüß Deinen Mann, küsse die liebe Iris und sei innig umarmt von Deiner Dich liebenden und dankbaren Hannah“.
In ihren Schreiben an Helene Jessen ging Hannah von Bredow auf deren Interesse am erlernten Gartenbau ebenso ein wie auf ihre Vorliebe für das Modellieren. Sie erkundigte sich stets nach ihrer Patentochter, die sie reichlich beschenkte, und schrieb im Anschluss an einen Geburtstag von Iris: „Ich freue mich, dass die Kleider für Iris Dir gefallen haben. Ich schenke meinem Patenkind so sehr gern etwas, und doppelt gern, wenn die schöne und liebe Mutter auch Spaß daran hat.“
Hannah berichtete Helene in ihren Briefen häufig über ihr Familienleben, etwa über einen erheiternden Abend mit ihrer „Tante Rantzau, die ihre 238 Pfund in lichtrosa Atlas mit alten Spitzen gehüllt hatte und nach dem Dinner in aller Seelenruhe Bier verlangte – und bekam!“ Als Anspielung konnte die junge Mutter Helene die Charakterisierung des römischen Adels verstehen, die Hannah ihr anhand der Eindrücke ihrer Schwester Goedela nach einer Romreise im letzten von drei Punkten vermittelte: „Drittens, dass auch in den allerglücklichsten Ehen, wo Mann und Frau wie die Turteltauben leben, der Mann, so wie seine Frau irgendwie nicht dabei oder gar in den Wochen oder krank ist, sofort eine Nebenverbindung eingeht, sich ganz ungeniert überall zeigt und das ganz selbstverständlich gefunden wird!!“
Aufkommendes Misstrauen Helene Jessens konnte Hannah von Bredow sich angesichts ihres intensiven Schriftverkehrs mit Sydney Jessen durchaus vorstellen und wurde in ihren Vermutungen auch bestätigt. Nach einem Theaterbesuch mit Jessen fragt sie sich Mitte Februar 1935 im Tagebuch: „Kann man sich eine Ehefrau vorstellen, die alle Briefe ihres Manns liest? Sowohl die gesendeten wie erhaltenen? Welch erstaunliche Idee eines ehelichen Glücks! Aber solange sie daran Spaß hat …“ Mit Hinweisen auf ihre Treue und den Altersunterschied bemühte sich Hannah in ihren Briefen an Helene, das Misstrauen zu dämpfen: „Vergiss mich nicht ganz trotz langer Trennungen und lass Dich in treuer Freundschaft und Liebe innig umarmen. Grüße Deinen Mann und die Kinder. Deine alte, müde, traurige und allgemein erschöpfte Hannah“.
Dauerhaft konnte Hannah von Bredow den Argwohn und die Eifersucht von Helene Jessen nicht dämpfen. Zum zehnten Hochzeitstag Anfang April 1937 schenkte sie dem Paar einen alten englischen Freundschaftsbecher und bemerkte in ihrem Brief an Jessen Ende des Monats: „Vielleicht hat Helene ihn in Laufen noch gesehen.“ Die Ehe war in die Brüche gegangen und Helene auf das Familienanwesen in Aschhausen gezogen. Ende Juli reichte sie die Scheidung ein. Doch hierbei ließ sie es nicht bewenden: Sie benannte Hannah als Schuldige und denunzierte sie zudem, wie diese am 12. November 1937 im Tagebuch festhält: „I have been denounced by the nurse, by Helen, by Raeder and Arnim. Well, well! A close shave. Damn those Nazis!“ Hannah erwog eine Klage und überlegte im September, „wo mein Fehler lag. Ich habe sie nie verachtet, ich fand sie nur anders. Ich hatte nie unloyale Gedanken über sie. Das Komische ist, dass ich wirklich glaubte, sie mochte mich. Jetzt muss ich das alles für mich klären.“
Nach der Rückkehr von einer Wienreise wurde Hannah von Bredow Ende Oktober 1937 in Berlin völlig überraschend von zwei Zollbeamten empfangen, die sie nach Potsdam begleiteten und ihren Schreibtisch durchsuchten. Beiläufig erwähnten sie, dass Sydney Jessen wenige Tage zuvor inhaftiert worden war. Am 13. November berichtet Hannah dem Brieffreund Jessen ausführlich über das siebenstündige Verhör der Beamten. Diese bezichtigten sie des Devisenvergehens, welches sie unter einem Pseudonym vorgenommen habe. Den Beamten erklärte Hannah hierzu: „Dieses Mal wissen Sie ja aus Frau Jessens Denunziationen den Sinn, und deshalb brauche ich ihn nicht zu wiederholen.“2
Bereits in einem Schreiben an Jessen hatte Hannah von Bredow drei Tage zuvor resignierend festgestellt: „Es interessiert mich auch sehr wenig, denn ich bin nicht mehr auf dieser Welt, weil ich ja doch nur ein Schädling bin. Vielleicht kann ich mich als Skelett ausstellen, sonst fällt