Roland Werner

366 mal Hoffnung


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19, 10

      Ein kurzer Satz, der es in sich hat. Immer, wenn Jesus vom „Menschensohn“ spricht, spricht er über sich selbst. Er spricht von seiner Sendung, seinem Auftrag, seiner Identität. Der Menschensohn ist es, dem Gott seine Herrschaft übertragen hat.

      Ganz feierlich sagt Jesus, was sein Auftrag ist. Drei Verben stecken in diesem Satz: Gekommen, suchen, selig machen. Diese drei Wörter fassen das ganze Evangelium zusammen. Drei Handlungswörter, die zeigen, was Gott wirklich wichtig ist.

      Zuerst: Der Menschensohn ist gekommen. Das heißt: Gott bleibt nicht fern. Er hat sich auf den Weg zu uns gemacht. In Jesus ist er in diese Welt gekommen. Hat sie erlebt und erlitten. Ist an ihr zu Tode gekommen.

      Dann: … um zu suchen. Nicht nur die, die auf ihn warten und nach ihm fragen, will er zu sich holen. Sondern: Jesus ist auf der Suche nach denen, die sich verstecken. Nach denen, die von ihm weglaufen. Nach den Gleichgültigen. In Jesus zeigt sich der Menschen-suchende Gott, er, der unterwegs ist zu uns. Unglaublich. Aber wahr.

      Und zuletzt: … und selig zu machen. In heutiger Sprache müssten wir es anders ausdrücken. Retten, befreien, herauslösen. Denn es geht nicht um ein Gefühl der Glückseligkeit, sondern um Rettung aus der Verlorenheit, aus der Gottesferne.

      Das ist unsere Chance auf echtes Leben, in Zeit und in Ewigkeit. Ohne das Eingreifen Gottes bleiben wir verloren. Aus eigener Kraft können wir uns nicht erlösen. Und so gilt es für alle Menschen: Jesus ist gekommen, um uns zu suchen und zu retten.

      Wenn wir das begreifen, wird unser Leben neu. Wir verstehen, was Gott wirklich wichtig ist. Und dann wird uns auch das immer wichtiger: In seinem Namen gehen wir hin zu den Menschen und laden sie ein zu Jesus. Zu ihm, der gekommen ist, um uns alle zu suchen und selig zu machen.

       Das Geschenk der Gnade

       Aus Gnade seid ihr selig geworden durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es.

      EPHESER 2, 8

      Dieser Spitzensatz des Apostels Paulus hat es in sich. Dass alle vier Hauptwörter in der Lutherübersetzung mit einem „G“ beginnen, ist sicher eine Besonderheit der deutschen Sprache. Diese vier Worte fassen auf eindrückliche Weise das zusammen, was das Evangelium ausmacht. Was als „gute Nachricht“, als unerhörte Neuigkeit, die alte römisch-griechische Kulturwelt und auch die jüdische Volksgemeinde aufrüttelte. Es sind die vier Worte: Gnade, Glaube, Gott, Gabe.

      Gnade: Die Nachricht, dass Gott nicht käuflich ist, dass seine Gunst nicht erlitten oder erstritten werden muss, bewirkte ein großes Aufatmen in der antiken Welt, die von Angst vor den Launen der Götter geprägt war. Gott ist für uns. Er, der Schöpfer und Vater, der Erlöser und Bruder, er, der Erneuerer und kraftvolle Gottesgeist, will uns beschenken mit seiner Gnade. Diese Erkenntnis, noch mehr, diese Gewissheit befreit Menschen zum Leben mit erhobenem Haupt.

      Glaube: Als Geschöpfe Gottes, ja noch mehr, als seine über alles geliebten Kinder leben wir unter seiner Gnade. Wir begegnen ihm im Glauben, im Vertrauen, dass er es gut meint und dass er uns niemals aus den Augen verlieren wird.

      Gottes Gabe: Dass Gott uns aus Gnade annimmt, als unverdientes Geschenk, war auch der Auslöser für die geistliche Bewegung, die vor fünfhundert Jahren Europa veränderte. Die umwälzende Entdeckung der Reformation war nichts anderes als eine Wiederentdeckung dieser vier „G“s: Gott schenkt uns seine Gnade als unverdiente Gabe. Das können wir im Glauben ergreifen und so einen festen Grund für unser Leben finden. Und eine Hoffnung, die über den Tod hinaus aufleuchtet.

      Wer das begreift, kann sein Leben als Christ zugleich entspannt und engagiert leben. Die Gnade Gottes ist dann kein leerer Glaubenssatz, sondern eine Erfahrung, die das Leben umfasst und beflügelt.

       Begegnung in Bethlehem

       Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht.

      JESAJA 9, 1

      Es war schon spätabends. Ich war eingeladen, mit einer Gruppe junger Leute von Jerusalem hinüber nach Bethlehem in die Geburtskirche zu fahren. Dort feierten die orthodoxen und die orientalischen Christen ihr Weihnachtsfest, in der Nacht vom 6. zum 7. Januar. Dieses Datum geht auf eine alte Tradition zurück, älter noch als die westliche, die die Geburt des Erlösers am 25. Dezember feiert.

      Die kurze Busfahrt führte uns über den Militärposten an Rahels Grab, und bald hielten wir vor der Geburtskirche mitten in Bethlehem. Wie gewaltig dieser Bau ist, erkennt man erst, wenn man durch die kleine Tür eintritt, bei der man sich bücken muss. Die Kirche wurde im vierten Jahrhundert auf Veranlassung von Helena, der Mutter von Kaiser Konstantin, errichtet. Der Monumentalbau erhebt sich über der Höhle, von der die ortsansässigen Christen berichteten, dass hier Jesus geboren wurde. Es gibt keinen Grund, diese Aussage anzuzweifeln, denn hier wohnten von Anfang an ohne Unterbrechung Nachfolger von Jesus. Die ersten von ihnen waren noch Zeitgenossen von Maria und den Aposteln.

      In dieser Nacht war die Kirche voller Menschen. An vielen Stellen wurden gleichzeitig die Gottesdienste gefeiert. Die Griechisch-Orthodoxen neben den Syrern, die Kopten neben den Armeniern. Es war wunderbar, das Sprachengewirr mitzuerleben, das Gotteslob in den verschiedensten Sprachen. Und mittendrin wir.

      In dieser Nacht erlebte ich es wieder, das Wunder von Bethlehem. Mir wurde neu klar: Die Geburt von Jesus, unscheinbar vor zweitausend Jahren in einer Höhle, ist ein Ereignis von weltumspannender Bedeutung. Das hilfsbedürftige Kind in der Krippe ist der König der Welt.

      „Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht!“ So hat es der Prophet vorausgesagt. Hunderte Jahre später wurde es wahr. Dort in Bethlehem. Und seitdem scheint das Licht Gottes, Jesus selbst, hinein in die Dunkelheit der Welt.

       Es geht um alle

       Wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen.

      JOHANNES 12, 32

      Mitten in den Wirren der letzten Tage seines Lebens macht Jesus diese erstaunliche Aussage. Vorausgegangen war sein triumphaler Einzug in Jerusalem. Vorausgegangen war auch der Abend in Bethanien, an dem Maria, die Schwester von Marta und Lazarus, Jesus mit dem kostbaren Nardenöl gesalbt hatte, als Vorbereitung für sein Begräbnis. Unmittelbar zuvor hatte Jesus davon gesprochen, dass er sein Leben geben wird wie ein Weizenkorn, das in die Erde fällt.

      „Wenn ich erhöht werde von der Erde, so will ich alle zu mir ziehen!“ Jesus geht es um alle. Alle sollen zu ihm finden. Der Schlüssel dafür, dass das möglich wird, ist seine „Erhöhung“. Damit ist zunächst gemeint: Sein Sterben am Kreuz. Dort hing er erhöht, angenagelt zwischen Himmel und Erde. Und zugleich ist es das Wort für seine Auferstehung und seine Thronbesteigung.

      Das ist das Geheimnis: Dass Leiden und Herrlichkeit, Niederlage und Sieg zusammengehören. Bei Jesus und auch bei uns. Der erhöhte Jesus will die Menschen zu sich ziehen. Wie er das tut? Auf viele wunderbare Weisen. Und letztlich durch seinen Geist.

      Aber auch: Durch uns. Wir dürfen mithelfen, dass Menschen zu ihm kommen. Wie damals die Jünger am See Genezareth die Netze noch einmal auswarfen und dann erlebten, dass sie übervoll waren, so geschieht es immer wieder: Wo sie am Ende sind und im Namen von Jesus noch einmal die Netze auswerfen, wird auf einmal ein großer Fang eingeholt. 153 Fische zählen sie (Johannes 21, 11). Das war nach damaliger Auffassung die Zahl aller Fischarten. Das bedeutet: Alle sollen zu Jesus finden. Jesus will alle zu sich ziehen.

      Wie das geschehen kann, das bleibt ein Geheimnis. Aber dass das geschehen wird, das ist unsere Hoffnung. Und so steht am Ende die Frage im Raum: Haben wir alle Menschen im Blick? Wir sollen und dürfen es, weil Jesus alle im Blick hat.