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GegenStandpunkt 3-16


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viele Menschen gerne für die Betreuung eines hilfsbedürftigen Familienmitglieds auf, weil sie es ungerne verkommen lassen, was sonst der Fall wäre. Auch hier hilft der Staat großzügig aus: Er gestattet den Arbeitnehmern eine Ausnahme von dem ehernen Prinzip, dass sich ihre Notwendigkeiten selbstverständlich nach denen der Arbeitgeber zu richten haben, indem er diesen vorschreibt, ein fürsorgendes Familienmitglied auch ohne vorher eingereichten Urlaubsantrag freizustellen, damit es sich im akuten Pflege-Notfall und der anschließenden, „Pflege-Urlaub“ genannten Zehn-Tages-Frist darum kümmern kann, die Verwahranstalt auszusuchen, in die der liebste Angehörige am besten gesteckt werden sollte, oder ein entsprechendes häusliches Arrangement zu finden; es muss sogar bis zu 6 Monate kündigungsfreie „Pflegezeit“ eingeräumt bekommen oder eine maximal 24-monatige „Familienpflegezeit“ mit reduziertem Beschäftigungsumfang, und kann beim Staat für den Spaß ein zinsloses Darlehen beantragen, damit es deswegen nicht gleich in der Zeit selbst vor die Hunde geht. Dass z.B. demente Personen ganz ohne Pflege auskommen müssen, wenn kein Angehöriger daran sein Freizeitvergnügen findet, hält die Politik neuerdings auch nicht mehr aus und hat den „Pflegebedürftigkeitsbegriff“ überarbeitet; von 2017 an sorgen fünf detailgenau definierte Pflegegrade dafür, dass kein Siecher im Land weniger kriegt als ihm entspricht, aber auch keiner zu viel, damit die knappen Mittel für alle reichen. Weil den verantwortlichen Machern der Verhältnisse klar ist, wie groß die Last ist, die ein pflegebedürftiger Angehöriger seinen Liebsten bereitet, verabschieden sie nach einer emotional bewegenden Parlamentsdebatte ein Gesetzespaket, das strenge Auflagen definiert, unter denen Sterbewilligen beim Suizid geholfen werden darf, und das parallel dazu die Hospiz- und Palliativversorgung mit einem beherzten Griff in die staatliche Haushaltskasse aufwertet, denn selbst die, die ein Leben voller Entbehrungen hinter sich haben, sollen „die Gewissheit haben, am Lebensende gut betreut und versorgt zu werden“ (Bundesgesundheitsminister Gröhe), also wenn sie garantiert nichts mehr davon haben.

      – Kranke Menschen haben hierzulande auch eindeutig Glück im Unglück. Erst kürzlich wurde ihnen eine Krankenhausreform spendiert, durch die die lebensbedrohlichen Konsequenzen der irgendwie unvermeidlichen Arbeitshetze des Personals begrenzt werden sollen – den Gesetzgebern sind als wirkungsvollste Gegenmaßnahmen Geldzuwendungen, Hygiene-Überwacher und ein bisschen mehr Druck durch einen sanktionsbewehrten Qualitätswettbewerb unter den Krankenhäusern eingefallen. Auch für den Abbau überflüssiger Versorgungskapazitäten soll die Reform sorgen. Zur Finanzierung tragen die zuständigen Kassen bei, die die zwangsverstaatlichten Lohnteile verwalten; wobei die Krankenversicherungen sich in bewährter Manier erforderlichenfalls auch am verbleibenden Nettolohn bedienen dürfen.

      – In diesem reichen Land braucht es aber gar nicht erst einen besonderen Schicksalsschlag, um in den Zustand der Hilfsbedürftigkeit zu geraten. Das nachhaltigste Denkmal für ihre soziale Ader hat sich die Regierung bekanntlich mit ihrem Beistand für all die vielen Menschen verschafft, die unter ihrer Regentschaft „von ihrer Arbeit nicht leben können“. Nach zähem Ringen der Politik mit den Arbeitgebern und vor allem mit sich selbst wurde jüngst ein gutes Jahrzehnt erfolgreicher Niedriglohnsektor mit einem Mindestlohn gekrönt, der endlich das Unding aufhebt, dass der Sozialstaat für den Lebensunterhalt von vollzeitarbeitenden Bevölkerungsteilen seine Kassen strapazieren muss. Er verlangt den Profiteuren seines Niedriglohnangebots glatt einen kostendeckenden Preis für dessen Bereitstellung ab und behält sich vor, dessen ordnungsgemäße Zahlung sogar gelegentlich zu kontrollieren.

      – Das wahre Ausmaß der staatlichen Fürsorge lässt sich indes erst dann angemessen würdigen, wenn man sich die denkwürdige christsoziale Sentenz vergegenwärtigt, der zufolge sozial alles ist, was Arbeit schafft. Eine Regierung, die über eine Wirtschaft kommandiert, die so durchschlagend erfolgreich ist, dass sie zu welchen Konditionen auch immer so viel Volk wie nie für ihren Welterfolg in Beschlag nimmt, also ein „Jobwunder“ schafft, um das der niederkonkurrierte Rest der Welt „uns“ beneidet; die sogar Lohnsteigerungen zulässt, obwohl gar keine Inflation sie wieder auffrisst, und sich auch so weit an den Mindestlohn hält, dass die Gehälter im Schnitt um traumhafte drei Prozent anwachsen (sodass auch die Altersrenten von der Konjunkturentwicklung profitieren und steigen wie seit 20 Jahren nicht) – kann diese Regierung überhaupt unsozial sein?!

      – Dass sie ihr Volk vernachlässigen würde, lässt sich dieser Regierung wahrlich nicht vorwerfen; sie hat jüngst sogar dafür gesorgt, dass die Bürger mehr Geld in der Tasche haben, weil sie ihnen dank einer großzügigen Anhebung des steuerfreien Existenzminimums um 298 Euro in den letzten zwei Jahren ein bisschen weniger davon aus der Tasche zieht – sodass jetzt auch alle wissen, womit sie die jüngste Erhöhung der Krankenkassenbeiträge bezahlen können. Der größte Dienst der Regierung am Steuerzahler – jener vornehmsten Eigenschaft des Bürgers: als Finanzier des Staats – ist aber bekanntlich, dass sie sich beim Ausgeben des Abkassierten strengste haushalterische Disziplin auferlegt hat und keinen „Begehrlichkeiten“ nachgibt, bloß weil der Staat derzeit mehr Geld abschöpft, als er braucht. Indem die Hüter der schwarzen Null darauf achten, dass nicht zu viel Geld für soziale Wohltaten verplempert wird, vollbringen sie die wichtigste soziale Wohltat überhaupt!

      In sozialer Hinsicht steht also alles zum Besten: Die Bürger werden mit ihren mannigfaltigen Sorgen und Nöten nicht allein gelassen, der Wirtschaft geht es den Umständen entsprechend bestens, und der Staat schafft es, sich zu seiner vollsten Zufriedenheit mit den Mitteln auszustatten, die er für seine Anliegen braucht. Was will man mehr?! In diesem schönen Land gibt es keine offenen ‚sozialen Fragen‘.

      © 2016 GegenStandpunkt Verlag

      Chronik (1)

      Gedenken an Armenien, Verdun, Hiroshima, Russlandfeldzug –

       das Abschlachten ausschlachten

      Staaten kommen seit jeher in ihren Auseinandersetzungen mit einer gewissen Regelmäßigkeit nicht umhin, ihre Völker gegeneinander in den Krieg zu schicken. Gelegentlich werden diese Großtaten staatlicher Gewalt zum Gegenstand des Erinnerns und Gedenkens. In diesem Frühsommer gibt es binnen weniger Wochen gleich vier solcher Jubiläen: Armenier-Massaker und -Vertreibungen, die Schlacht von Verdun, die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki, der Russlandfeldzug der deutschen Wehrmacht. Die entsprechenden offiziellen Feierlichkeiten und publizistischen Würdigungen folgen bis zu einem gewissen Punkt einem stets gleichen Schema, das – bezogen auf die historischen Ereignisse – seltsam unsachlich anmutet.

      Die Subjekte der jeweiligen Gemetzel waren eindeutig und ausschließlich die politischen Hoheiten über die aufeinander gehetzten Völker bzw. Volksteile; im Mittelpunkt der historischen Gedenktage stehen freilich ganz die menschlichen Opfer. Schwarzweißfotografien von hungernden Armeniern, Feldpostbriefe von der Westfront und Bilder sterblicher Überreste dort gefallener Soldaten, persönliche Erinnerungen von Überlebenden des Atombombenabwurfs an den Überlebenskampf ab dem „day after“, eine Gedenkstunde des Bundestags für die Leichenberge, die der Nazi-Angriff auf die Sowjetunion produzierte – das sind die zielstrebig eingesetzten Mittel dafür, das Publikum auf sein (mit-)menschliches Gefühl anzusprechen und damit auf die Perspektive der menschlichen Betroffenheit zu verpflichten. So werden die politisch kalkulierten und gewollten Gewaltorgien staatlicher Souveräne zu ganz und gar menschlichen Schreckensereignissen. Dabei bleibt es aber nicht.

      Denn mit der Verpflichtung auf die Perspektive der menschlichen Opfer werden diese nicht nur betrauert, sondern zum Gegenstand höchster Ehrung. Wo sie im Krieg, als wirkliche Menschen, nur die Betroffenen ihrer elenden Rolle als Befehlsempfänger des Kriegswillens der eigenen Obrigkeit und Zielscheibe des entgegengesetzten Willens der gegnerischen Führung waren, wird ihnen im Zuge des ‚ehrenden Angedenkens‘ das Privileg zuteil, dass man sich ‚vor ihnen verneigt‘ und ‚von ihnen mahnen‘ lässt. Die geschundenen Kreaturen von damals werden posthum in den moralischen Adelsstand ideeller Ratgeber für ‚uns Heutige‘ bzw. ‚unsere Zukunft‘ erhoben, deren ‚Lektionen zu folgen wir ihnen schulden‘, womit ihr übles Schicksal nachträglich einen höheren Sinn erhält.

      Und darin liegt der praktische Sinn dieser Übung, die nur einerseits unsachlich, andererseits aber sehr zielführend ist – für die politischen Subjekte nämlich, die nicht nur