Forscherkollegen, den Autor dieses Buches, Robert Lever, DO eingeschlossen, waren unermüdlich in ihrem Streben nach der Bedeutung der Osteopathie. Robert hat eine meisterliche Sammlung an Essays (Kapiteln) zusammengestellt, die ein weites Spektrum an Themen überspannen, von Vitalität und Holismus zu Mythen und Geist. Im Mittelpunkt stehen Heilkunde, Techniken und Fragen im Zusammenhang mit Placebo und Heilen. Robert verhalf den Diskussionen über die Osteopathie auf eine höhere Ebene und er definierte damit den Beruf neu in einer modernen und vorrausschauenden Art und Weise. Wenn irgendjemand Dr. Stills Mahnung Dig on gefolgt ist, dann wohl Robert Lever mit dieser exzellenten Leistung.
Man sollte lesen, was er zu sagen hat, und sich durch alle Details bis zum Ganzen vorarbeiten, um wirklich zu erkennen, was er uns zu verstehen geben will. Auch wenn es zeitweise kurzweilig, faszinierend und voller klarer Informationen ist, handelt es sich um kein Buch, dass man einfach so nebenbei lesen sollte. Man kommt nicht umhin zu studieren, was er zu sagen hat:
„Es ist das günstige Zusammenspiel der Körpersysteme in einem komplexen Geflecht aus Interaktionen, welches es den Osteopathen erlaubt […] auf jenes Potential zuzugreifen, das aus dem kraftvollen Prozess der Selbst-Korrektur schöpft.“
Darauf können wir dann wiederum weitere Aussagen beziehen:
„Die Resilienz, Anpassungsfähigkeit und Überlebenskapazität des menschlichen Wesens sind zuweilen so außergewöhnlich wie mysteriös.“
Wenn es um die Definition oder, wenn wir schon dabei sind, um die Anwendung der Osteopathie geht, so finden wir viele Meinungen und Richtungen. In Die Kunst und Philosophie der Osteopathie betrachtet der Autor die unterschiedlichsten Meinungen aus britischer Perspektive. Auch wenn das Thema scheinbar aufgrund eines Jahrhunderts getrennter Entwicklung britischer und amerikanischer Osteopathie leicht variiert, so sind wir in den USA nicht anders. Wir haben viele Ansichten und manchmal können sie zu Meinungsverschiedenheiten führen. Robert Lever hat den Versuch unternommen unsere Varianten bezüglich eines Themas zu vereinen, indem er die Unterschiede bis zu ihren Ursprüngen zurückverfolgte, um sie dann unter vereinfachten Prinzipien zu verschmelzen. Ob seine wertvollen Bemühungen Erfolg haben werden, hängt von jedem einzelnen Osteopathen und seiner Bereitschaft ab, gleichermaßen gut und sorgfältig wie der Autor die von ihm angeführten Grundlagen zu verfolgen. Des Weiteren hängt der Erfolg davon ab, ob der Leser bereit ist, in derselben Art und Weise wie der Autor auf das größere Bild zu schauen und ein Weltbild zu akzeptieren, welches von seinem eigenen ursprünglichen möglicherweise abweicht.
Dr. Stills Weltbild stand im Gegensatz zu jenem der meisten Menschen seiner Zeit, aber obwohl er aus allen Richtungen Ablehnung erfuhr – von seiner Familie, Freunden, Kollegen und Geistlichen –, so hielt er daran fest, denn er war sich gewiss der Wahrheit zu folgen, wohin sie ihn auf seiner Suche auch führen mochte. Auch heute verhält es sich nicht viel anders. Wollen wir dem Potential der Osteopathie in seiner ganzen Größe – groß wie die gesamte Natur – gerecht werden, verlangt dies nach der Bereitschaft, durch eine neue Brille zu schauen. Wir sollten Dr. Stills Gebot folgen (Dig On!) und weitergraben. Robert Levers Bemühungen in diesem Buch sind ein ausgezeichneter Schritt in diese Richtung und ich kann seine aus einem Leben osteopathischer klinischer Erfahrung, Lehre und Kontemplation entsprungenen Erkenntnisse nur in allerhöchstem Maße wertschätzen.
Robert Lever ist in der Tat ein großer Lehrer für uns alle.
R. Paul Lee, DO, FAAO, FCA
Durango, Colorado, USA
Januar, 2013
VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE
Lever bezieht sich in seinem Buch immer wieder auf den Entdecker der Osteopathie, den US-amerikanischen Landarzt Andrew Taylor Still (1828 – 1917), sowie den Begründer der Kranialen bzw. Kraniosakralen Osteopathie, William G. Sutherland (1873 – 1954). Deren Interpretation der Osteopathie, die üblicherweise als Klassische Osteopathie bezeichnet wird, unterscheidet sich in wesentlichen Inhalten insbesondere von der angelsächsisch geprägten Mainstream-Osteopathie der Gegenwart. Da aber auch nur wenige deutschsprachige Osteopathen wirklich mit der Klassischen Osteopathie vertraut sind, möchte ich das Vorwort nutzen, um diese hier kurz zusammengefasst darzustellen. Es folgen wie üblich ein paar kurze Hinweise bezüglich der in der Übersetzung gewählten Terminologie. Schließlich – und das mag einigen für ein Herausgeber-Vorwort unüblich erscheinen – auch eine Erwähnung kritischer Punkte zum vorliegenden Werk. Wie immer empfehle ich Ihnen die sorgfältige Lektüre auch dieses Vorworts zum besseren Verständnis des Buchs.
EINE KURZE GESCHICHTE DER KLASSISCHEN OSTEOPATHIE
Als der US-amerikanische Landarzt Andrew Taylor Still (1828 – 1917) im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts sein in sich geschlossenes naturheilkundliches Medizinsystem der Öffentlichkeit vorstellte, nannte er es Osteopathie. Warum gerade dieser Begriff? Still ging wie alle naturheilkundlich ausgerichteten Behandler seit Hippokrates davon aus, dass im Menschen inhärente Mechanismen zur Selbstheilung existierten und deren leitende Intelligenz höheren Ursprungs sei und jene des Menschen bei Weitem überrage. Diese Annahme bezeichnet ein Kernparadigma des Vitalismus. Folgerichtig zielt der naturheilkundliche Behandlungsansatz nicht auf einzelne Bestandteile (z. B. biochemische Substitutionen) bzw. auf deren Zielobjekte (z. B. Bekämpfung von Krankheitserregern), sondern versucht den Organismus als Ganzes zu unterstützen, damit die besagte Intelligenz sich über die inhärenten Mechanismen optimal entfalten und so Leiden (gr. pathos) überwinden kann. Das therapeutische Selbstverständnis wechselt hierbei vom (Gesund-)Macher bzw. Heiler zum empathischen und demütigen Begleiter der Natur.
Aus medizinhistorischer Sicht ist Stills Ansatz vor allem deshalb so interessant, weil er nicht nur erkannte, dass es die zwei Informationssysteme Kreislauf- und Nervensystem sind, die für den Transport und die Verteilung der Information besagter Mechanismen innerhalb des gesamten Körpers verantwortlich zeichnen. Wohl inspiriert durch den schwedischen Naturwissenschaftler, Mystiker und Spiritisten Emanuel Swedenborg (1688 – 1772) konstatierte er darüber hinaus, dass als Medium für die Verteilung besagter Informationen die fließenden Körperflüssigkeiten (Blut, Lymphe und Nervenwasser, d. h. Liquor cerebrospinalis) essenziell sind.8 Als hervorragender autodidaktischer Anatom und leidenschaftlicher Anhänger von Maschinen erkannte er schon bald, dass dieses Fließen stark vom Zustand des muskuloskelettalen Systems in seiner Gesamtheit abhängt. Dieses Kernparadigma untermauerte er – und das ist tatsächlich einmalig auch im naturheilkundlichen Bereich – ausschließlich mit anatomisch-physiologischen Erklärungsmodellen, die in ihrer Funktionalität und Dynamik geradezu holistisch anmuten und ihrer Zeit weit voraus waren.
Als naturheilkundlich und daher nicht-invasiv bzw. nicht-substituierend orientierter Arzt, sowie aufgrund der sehr beschränkten Mittel im US-amerikanischen Grenzland, entwickelte er aus diesen Einsichten einfache manuelle Techniken, um das muskuloskelettale System, also das Rahmenwerk des Körpers, an die individuelle Einzigartigkeit des Patienten anzupassen (nicht: zu korrigieren!).9 Ist dies geschehen, können nach Stills Auffassung die inhärenten und selbstregulierenden Informationen wieder frei durch den Körper fließen und Symptome, Pathologien etc., wo immer sie auch auftreten, beseitigen. Dies geschieht seiner Ansicht nach aufgrund der zugrunde liegenden und dem Menschen weit überlegenen vitalistischen Intelligenz weit besser, als dies ein Mensch durch aktive Bekämpfung einer Pathologie jemals erreichen könnte. In diesem Sinn ist auch Stills berühmter Aussage „Gesundheit zu finden ist Aufgabe des Arztes, Krankheit kann jeder finden.“10 zu interpretieren. Stills Ansatz ist damit durch seine Fokussierung auf Ressourcen, seine Wahrnehmung des Patienten als Menschen in seiner physisch-metaphysischen Gesamtheit und seiner prozessorientierten Vorgehensweise und der salutogenetischen Medizin zuzuordnen. Und da seine manuelle Techniken letztlich über die Hebel der Knochen (gr. osteon) auf den Bewegungsapparat und damit vorrangig indirekt (über vasomotorische Verbindungen) und seltener direkt (bei Kompressionen) auf die Informationssysteme wirken, ergibt sich aus dem bisher beschriebenen der in funktioneller Hinsicht zu deutende Begriff Osteo-pathie. Kurz gefasst:
Stills (vitalistische) Osteopathie => manuelle Techniken => Knochen als Hebel (Osteo…) => Anpassung des muskuloskelettalen Rahmens => ungehindertes