Robert Lever

Die Kunst und Philosophie der Osteopathie


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erkauft. Und dies trifft auch auf Berufe zu, die den holistischen Anspruch für sich proklamieren.

      Die osteopathische Praxis ist wie viele Dinge im Leben ein nahtloses Ganzes, eine integrierte Erfahrung. Sie auf einzelne Teile herunterzubrechen würde bedeuten, eine Verzerrung zu riskieren. Dennoch bedarf es notwendigerweise eines gewissen Maßes an Analyse, um ihre Qualitäten besser zu vermitteln. Aber selbst Analysen, die den Prinzipien des Holismus und der Idee der Vernetzung unterworfen sind, bergen die Gefahr der Zerteilung von Wahrheit und Erfahrung und erzeugen parallel zum Gefühl der Vernetzung jenes unangenehme Gefühl von Getrenntheit bzw. Spezialisierung. Schlussendlich will ich dem Leser mit diesem Buch eine Hilfe anbieten, damit die einzelnen Fragmente wieder nützlich und sinnvoll miteinander verbunden werden können. Dadurch wären wir letztlich in der Lage, das Mentale im Körper und den Körper im Mentalen und das Geistige in beidem zu sehen.

      Man kann sagen, Osteopathie existiert wahrhaftig nur dann, wenn sie gelebt wird. Sie bleibt so lange abstrakt, bis sie sich in unserem Menschsein verwurzelt bzw. bis dieses Menschsein sich in ihren Vertretern verwurzelt. Es verhält sich wie bei der Musik. Sie mag auf Theorie, Technik und Kontext basieren; doch ab einem gewissen Punkt muss die Interpretation in etwas Größeres transformiert werden. Egal ob es die Musik ist, die zu uns spricht, oder die Behandlung, die einen durchdringt und heilt: In seiner besten Arbeit bringt jeder Therapeut etwas Einzigartiges ein, einen ganz bestimmten Ausdruck seiner eigenen Individualität. Und genau darin liegt meiner Auffassung nach die Stärke der Osteopathie. Nur aus diesem Grund war ich immer bemüht, einige jener Qualitäten, die uns letztlich zu dem machen, wer und was wir sind, zu erforschen. Insofern wurde auch dieses Buch zwar aus einer gewissen persönlichen Perspektive heraus geschrieben, aber dennoch vertraue ich darauf, dass es genügend Resonanz bei anderen Menschen erzeugt, um damit mehr zu sein als nur ein sich selbst genügendes Übungsstück!

      Je nachdem, ob die Leser zu unserer Berufsgruppe gehören oder nicht, wird ihr Interesse an der Sache von unterschiedlicher Natur sein. Obwohl ich mich bemüht habe nicht allzu osteopathie-technisch zu schreiben, mögen Nicht-Osteopathen die Abschnitte über technische Aspekte vorzugsweise nur überfliegen. Der Rest wird sie dafür entschädigen.

      Insbesondere in den späteren Kapiteln könnten einige vielleicht zu der Auffassung gelangen, dass dieses Buch sich selbst ins Zentrum der Auseinandersetzungen zwischen den Naturwissenschaften und dem Geistigen stellt. Das ist aber nicht meine Absicht. Wenn überhaupt, so will es lediglich die Spaltung zwischen Szientismus und Philosophie beleuchten (reine Naturwissenschaft und Philosophie waren früher einmal durchaus miteinander verbunden), bzw. zwischen dem einerseits häufig engstirnigen Versuch, etwas als Faktum festzunageln, und andererseits den aus den Reisen in das Unbekannte geborenen tiefschürfenden Spekulationen. Hierbei sei angemerkt, dass Letzteres beiden Bereichen geläufig ist, also sowohl der ‚guten’ Naturwissenschaft als auch der Philosophie. Liegt hier überhaupt eine Dichotomie vor, so bezieht sich diese demnach auf das Bekannte und das Unbekannte. Eine der Botschaften dieses Buches ist, das für den Erfolg der Osteopathie beide Aspekte eine Rolle spielen – und zwar in gleichem Maß, aber auf unterschiedliche Art und Weise.

      Vielen dürfte bekannt sein, dass die Naturwissenschaft und ihre Vertreter sich selbst an der Schwelle zu diesem Unbekannten verorten. Darin besteht letztlich ja auch ihre Aufgabe und dadurch gehören sie zu den kreativsten Geistern überhaupt. Die eigentlichen Probleme finden sich daher wohl eher in der Kultur der Naturwissenschaften (Szientismus) und ihrer engstirnigen Begrenzung durch Geister, für die nur Anerkennung findet, was bereits bewiesen wurde. Durch die rigide Anwendung dieser Denkausrichtung wurde die Heilkunst bedroht. Infolge der profunden Veränderungen innerhalb der Naturwissenschaften selbst, durch ihren enormen Paradigmenwechsel, verändert sich dieses Bild nun merklich. Für dessen Einzug ins allgemeine und medizinische Gedankengut bedarf es allerdings einiger Zeit, denn es handelt sich um einen schwierigen Prozess. Arthur Koestler schrieb, wenn Paradigmen zusammenbrächen, entsprängen aus diesem Chaos die Revolutionen in Naturwissenschaft und Wissen.17 Aus einem solchen Chaos entsteht jedoch viel Unsicherheit, was umgekehrt dazu führt, dass einige sehr negative und zerstörerische Debatten hervorgebracht werden. Aber diese Positionen trugen nur sehr wenig zur Weisheit oder Wahrheitsfindung bei. Obwohl der Empirismus zur Richtgröße wissenschaftlicher Methoden geworden ist, war er, seit Aristoteles18, verbunden mit einem auf der Erfahrung über die Sinne beruhenden Wissen, einer Verschmelzung sowohl der objektiven wie auch der subjektiven Vermögen.19

      Was die besagte Dichotomie zwischen Naturwissenschaften und Geistigem betrifft (bzw. all jene, die auf ihr bestehen), so existiert diese – wenn überhaupt – nur in Bezug auf das Streben nach einem Verständnis der äußeren Realität. Die innere Welt in ihrer ganzen Tiefe ist eine Welt der subjektiven Erfahrung. Und hier kann uns die naturwissenschaftliche Analyse allenfalls begleitend unterstützen. Im Großen und Ganzen treibt die Menschen letztlich nicht ein Bedürfnis nach dem Wissen um Realitäten an; ihr Leben wird durch andere Impulse in Gang gehalten. Wie schon Wittgenstein20 feststellte: „Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“21

      In seinem Buch Body Myths beschreibt der medizinische Anthropologe Cecil Helman: „In allen Gesellschaften leben die Menschen ein Leben in einem Meer aus Metaphern und Mythen, gesammelt aus unzähligen Quellen.“22Ananda Coomaraswamy23 schrieb, dass „Mythen die direkteste Annäherung an die absolute Wahrheit, die in dieser Welt ausgesagt werden kann, verkörpern.“24Die ‚Schöpfung‘ der Osteopathie beinhaltet in diesem Sinn die Destillation einiger großer Wahrheiten. Allerdings, und dies habe ich bereits mehrfach angedeutet, entziehen sich einige, wenn nicht sogar alle Wahrheiten einer vollständigen Analyse durch Beschreibung und Sprache. Wörter entstellen durch ihre damit in uns verbundenen dekontextualisierenden Vorstellungen und dies mag der Grund dafür gewesen sein, dass Einstein einmal bemerkte: „Ich denke häufig in Musik.“ Da ich allerdings nicht nach solchem Genie trachte und da ich weder malen noch dichten oder Streichquartette komponieren kann, muss dieses Werk ausreichen.

      London, März 2013

      Robert Lever, DO

       Prinzipien

       „Heilen, würde Papa mir sagen, ist keine Wissenschaft, sondern die intuitive Kunst die Natur zu umwerben.“ 25

      In unserer beruflichen Position verbringen wir Osteopathen viel Zeit damit den Patienten bei der Suche nach Antworten zu helfen: Antworten, die einem bei Schmerzen oder anderen Symptomen, Erkrankungen und Leiden helfen sollen. Manchmal handelt es sich um ein rein palliatives Vorgehen, manchmal ist es auch Teil einer Suche nach besserer Gesundheit. Manchmal dient es als Weg, um ein tieferes Ringen anzusprechen, oder als Versuch, den Dingen eine tiefere Bedeutung oder einen Beweggrund zu geben. Und vielleicht hilft dies den Patienten ihre Probleme besser in den Griff zu bekommen, oder sogar ihr gesamtes Schicksal! Während die Suche nach Bedeutung und Kontrolle vielleicht die treibende Kraft hinter allen Bemühungen im Zusammenhang mit der Frage ist, was es ausmacht Mensch zu sein, ist das osteopathische Denken von struktureller Balance und Integrität und allem, was dies ermöglicht, geprägt. Und das Bemerkenswerteste bei diesem Denken ist das, was all diese Balance und Integration tatsächlich möglich macht, und das Potential zur Veränderung menschlicher Funktion und Erfahrung auf so vielen Ebenen. Ich hoffe aufrichtig, dass dieses Buch mithilft aufzuzeigen, warum all dies möglich ist, warum es auch in der täglichen Praxis geschieht, und vielleicht hilft es auch einen Teil jenes Prozesses zu beleuchten, der uns ermöglicht, es geschehen zu lassen.

      Osteopathie oder osteopathische Medizin, wie sie manchmal genannt wird, ist eines der vielen Fenster zu einer erweiterten Bedeutungswelt. Ob ihr Ziel die Befreiung von Schmerzen oder ein Weg zu verbesserter Gesundheit ist, ein Mittel zur besseren Bewältigung einer Situation oder das Finden eines ziel- oder absichtsgerichteten Gefühls,