salutogenetischen Grundgedanken erstmals mit konkreten funktionellen, anatomisch-physiologischen Argumenten untermauert und damit die vitalistische Medizin der Wissenschaft zugänglicher gemacht zu haben. So stützen zahlreiche Forschungsergebnisse z. B. aus den Bereichen Neurophysiologie, der Immunologie und der Faszienforschung nicht nur Stills Ansatz der Klassischen Osteopathie, sondern zugleich den gesamten naturheilkundlichen Grundgedanken.
3. Osteopathie und Wissenschaft
Im gesamten naturheilkundlichen Bereich, so auch in der Osteopathie und auch in diesem Buch, ist eine mehr oder weniger starke wissenschaftsskeptische Tendenz zu erkennen. Tatsächlich ist die moderne medizinische Forschung aus verschiedenen Gründen auch kritisch zu sehen, allen voran aufgrund der rein berufs- und marktpolitisch motivierten Reduzierung der evidence based medicine (EBM) auf randomisierte Doppelblindstudien (RCTs). Tatsächlich besteht die EBM aber aus drei gleichrangigen Teilen:
Externe Evidenz (mit RCT als einem möglichen Studiendesign)
Therapeutische Erfahrung
Patientenerwartung
Medizinische Wissenschaft, die auf allen drei Säulen ruht, ist demnach absolut begrüßenswert und sollte gerade innerhalb der Osteopathie massiv forciert werden. Viele andere wissenschaftliche Disziplinen, die man inzwischen unter dem Begriff Biowissenschaften subsummieren könnte (Soziologie, Neurowissenschaften, Psychologie etc.), und auf die sich Lever auch in diesem Buch bezieht, bieten darüber hinaus eine Fülle von Ergebnissen, die den naturheilkundlichen, respektive salutogenetischen Ansatz unterstützen. Eine pauschale Wissenschaftsskepsis ist daher innerhalb der Osteopathie nicht nur unangebracht, sondern geradezu entwicklungshemmend.
4. Osteopathie und Quantenphysik
Wie inzwischen im komplementärmedizinischen Bereich üblich, wird die Quantenphysik auch bei Lever als Erklärungsmodell für subjektive Behandlungsphänomene benannt. Hierbei wird v. a. auf das quantenphysikalische Kernparadigma der Unschärfe Bezug genommen, welches besagt, dass ein Objekt erst durch die Beobachtung in Materie oder Welle zerfällt. Oder/und man beruft sich auf die Quantenverschränkung, die besagt, dass zwei Teilchen unabhängig von ihrer Entfernung als Gesamtsystem synchron agieren, ohne dass eine Ursache-Wirkung-Verbindung zwischen ihnen besteht. Diese beiden Prinzipien werden nun dahingehend interpretiert, dass der mentale Zustand des Therapeuten einen entsprechend synchronisierenden Einfluss auf die Determinierung des Gesundheitszustandes beim Patienten haben soll. Dieser Ansatz ist aus folgenden Gründen zweifelhaft:
Es gibt innerhalb der gesamten quantenphysikalischen Forschung bis heute keinerlei Hinweis darauf, dass mentale Zustände/Prozesse bei der Determinierung bzw. Verschränkung einen Einfluss haben.
Unabhängig von der Art der Einflussnahme auf das Objekt bleibt ihr Ergebnis immer zufällig. Selbst wenn es einen mentalen Zugang geben sollte, wäre das Ergebnis damit letztlich zufällig und eine Synchronisation ausgeschlossen. Wären Patient und Therapeut (und ggf. auch eine höhere allumfassende Instanz) ein Gesamtsystem im Verschränkungskontext, müssten die Synchronisationen automatisch und stetig erfolgen, d. h. ein bestimmter mentaler Zustand wäre dazu nicht nötig.
Im salutogenetisch-vitalistischen Ansatz wird davon ausgegangen, dass man therapeutisch lediglich für die Rahmenbedingungen verantwortlich ist und keinen direkten Einfluss auf die Heilmechanismen hat. Der Synchronisationsgedanke impliziert aber eine zumeist unterbewusst motivierte hierarchische Beeinflussung im Sinne einer Korrektur, d. h. eines Gesundmachens, und ist damit ebenso pathogenetisch einzuordnen wie etwa die chiropraktische Manipulation. Etwas salopp könnte man sagen, dass viele energetisch orientierten Behandler es gerne ‚energetisch knacken‘ hören.
Auch wenn Bezugnahmen auf die Quantenphysik (zumeist ohne ausreichende Kenntnisse der Quantenphysik) falsch sein mögen, so bieten sie eine gute Angriffsfläche zur Kritik und Weiterentwicklung im Sinne Poppers. Zudem wird dadurch auch ein helles Schlaglicht auf die Bedeutungder inneren Haltung, d. h. das Ethos des Therapeuten in Bezug auf das Behandlungsergebnis geworfen, ein Aspekt, der seit der Antike ein aus ethischer Sicht doch arg verkümmertes Dasein geführt hat. Der narzisstisch geprägte heldenhafte Heiler – sei er nun orthodox, alternativ oder komplementär orientiert – verweigert sich aus psychologisch verständlichen Gründen naturgemäß gerne einer kritischen Überprüfung.
DER GROSSE WERT DIESES BUCHS
Der große Wert von Die Kunst und Philosophie der Osteopathie liegt m. E. nicht nur in den vielen höchst interessanten Überlegungen zur Osteopathie sowie in seiner ebenso kritischen wie mutigen Analyse und vor allem offenen Benennung der Spaltung innerhalb der osteopathischen Szene. Lever bietet darüber hinaus eine ganze Menge sehr fundierter Informationen zu einem der wohl entscheidendsten und bis heute unterschätztesten Aspekte innerhalb der Osteopathie: der Subjektivität. Sein Buch ist in diesem Zusammenhang bisher der mit Abstand umfassendste Versuch, die so schwer zu fassende und dennoch überragende Rolle subjektiver Wahrnehmungen und Erfahrungen gerade im Bereich der Osteopathie zu beschreiben. All dies erfolgt, während er das ganze Buch hindurch beständig um die wohl wichtigste Frage innerhalb der Osteopathie kreist: Was in der Patienten-Therapeuten-Interaktion bewirkt eigentlich genau die Heilung? Sich nicht nur einfach mit einem Wer heilt hat recht zufriedenzugeben, sondern den Dingen immer weiter auf den Grund gehen zu wollen, den Drang in sich zu spüren, die Geheimnisse des Lebens zu erforschen, im Kontext des Universums immer ein Nicht-Wissender im sokratischen Sinn zu bleiben und den Mut zu besitzen, sich ohne Rücksicht auf Rang und Namen v. a. seine eigenen Gedanken zu machen und sich damit öffentlich der Diskussion zu stellen; all dies sind Charaktereigenschaften Andrew Taylor Stills gewesen, ohne die es die Osteopathie, ja sogar die gesamte moderne Manualmedizin in ihrer heutigen Form niemals geben würde. Und es ist eben dieses Ethos, welches das enorme Potenzial der Osteopathie nicht nur am Leben erhält, sondern auch ihre Weiterentwicklung sichert. Lever und sein Buch stehen ganz in dieser Tradition und allein dafür gebührt ihm – gerade im Angesicht zunehmender Technisierung und Objektivierung der Osteopathie – allerhöchste Anerkennung.
ZUM SCHLUSS
DO bedeutete für die Gründerväter Still, Littlejohn und Sutherland nicht Doktor der Osteopathie oder Diplom-Osteopath, sondern stand als Abkürzung für Dig On! (Grabe weiter!). Der damit gemeinte Wissensdurst, das begeisternde und positiv skeptisch geprägte Interesse an allen Aspekten des Daseins, war nach Ansicht der Gründerväter essenziell für das Verständnis und folgerichtig auch für das Praktizieren der Osteopathie. Seien Sie also ganz Osteopath im klassischen Sinn und freuen Sie sich auf jenes spannende Wissen, das in diesem Buch auf Sie wartet. Nehmen Sie sich Zeit, lassen sie sich inspirieren und seien Sie möglichst vorurteilsfrei; dann wird Sie die Lektüre auf eine genussvolle Reise durch das osteopathische Universum des 21. Jahrhunderts entführen.
VIEL FREUDE BEI DER LEKTÜRE!
Christian Hartmann
Pähl, Juni 2014
EINLEITUNG
Vor einigen Jahren, ich war gerade Student im ersten Ausbildungsjahr, sprach ein begeisternder Dozent in einer lockeren Einführung in die Physiologie äußerst humorvoll über allerlei körperliche Funktionen. Dozenten, damals wie heute, ziehen Aufmerksamkeit mehr aufgrund ihrer Ausdrucksform und ihrer Art der Übermittlung auf sich als durch die vermittelten Inhalte selbst. Er sprach einprägsam über den Praxisalltag, eine Reihe von Situationen, in welchen es notwendig sei, ein Interesse an alles und allem zu haben was Patienten möglicherweise mitteilen möchten. Dies war eine meiner frühesten Lehrstunden, was Empathie angeht, und er schmückte diese mit typischer Mimik und Gestik aus, um seinen Standpunkt zu verdeutlichen: die notwendige Faszination für Golf, Zügebeobachten, Maurern usf. Ich konnte mir sehr gut vorstellen, dass der von Patienten kommende Enthusiasmus ansteckend sein könne, allerdings war ich mir sicher, dass es Grenzen für mich gab, z. B. wenn es ums Jagen oder Briefmarkensammeln ging.
Einige Zeit später wollte tatsächlich ein Patient seine Passion für Briefmarken mit mir teilen. Die Verführung begann, als er Briefmarken als kleine Fenster zur Geschichte beschrieb, und wieder einmal