Haut zu leben; in jedem Fall ist Osteopathie als solche eine Form der Interpretation, d. h. einer von vielen Ansätzen, die sich der Verbesserung der Dinge verschrieben haben. Allerdings hat sie es über die Jahre auch geschafft, sich eine ganze Reihe stereotyper und falscher Vorstellungen anzueignen. Dies gilt in Bezug auf das, was Osteopathie eigentlich ist, was sie behauptet zu bewirken. Stellt sie ihr Potential ehrlich dar, wird sie häufig als anmaßend, überambitioniert und sogar arrogant wahrgenommen. Einer der Gründe hierfür liegt darin, dass ihre Methoden und ihre theoretischen Grundlagen im gleichen Kontext wie eine hochentwickelte medizinische Erfahrung und Technologie, die allerdings in einem völlig anderen kulturellen Kontext steht, betrachtet wird. Osteopathie und die reguläre Medizin mögen vielleicht annähernd gleiche Ziele haben – Heilung herbeizuführen –, aber in ihren Konzepten sind sie so unterschiedlich wie Malen und Musik. Osteopathie entstand ursprünglich einerseits als geradezu revolutionäre Reaktion und andererseits als Alternative zur regulären Medizin. Aber vor allem war es eine neue Art des Sehens; ein Konzept von Gesundheit und Krankheit, das nach einer neuen Art und Weise der Behandlung von Patienten rief. In der Tat, ihre Methoden hatten sich der Lokalisierung, der Verbesserung und dem Ausdruck von Gesundheit im Patienten verschrieben, statt sich mit Krankheit per se zu konfrontieren.
Falsche Konzepte
Werfen wir erst einmal einen Blick auf die Missverständnisse bezüglich der Osteopathie und dann auf deren Entwicklung in den 130 Jahren ihrer Geschichte. Da sitzt man neben einem Fremden bei einem dieser grauenvollen Ereignisse, die als Dinnerparty bekannt sind. Und natürlicherweise und ziemlich schnell kommt man zum Thema Berufe. Jeder von uns wird schon einmal eine dieser gängigen Erwiderungen gehört haben: „Was ist das?“ (wobei dies in den letzten 30 Jahren zunehmend seltener geworden ist); oder „Oh, das ist was mit Knochen, oder?“; oder „Oh, das hat was mit dem Rücken zu tun“; oder der durch Boulevardzeitungen Gebildete erinnert sich freudig an Stephen Ward – Osteopath der Society – und den berüchtigten Profumo-Skandal Anfang der 1960 er26 und stellt sich nun vor, wie wir ein gleichermaßen schillerndes, ja geradezu skandalöses Leben führen. Oder vielleicht startet jemand mit einer Beschreibung seiner mit dem Rücken in Zusammenhang stehenden Schmerzen, die zu einer sofortigen Konsultation einladen. So manch ein Kollege wird den Überdruss solcher Situationen umgehen, indem er sie abrupt mit den Worten beendet: „Ehrlich gesagt, ich verkaufe Löffel!“ Gehen wir einmal davon aus, dass Dinge wie diese nicht ohne Grund geschehen. Woher kommt es, dass die Allgemeinheit insofern sie noch keine unmittelbare Erfahrung mit Osteopathie gemacht hat, so wenig über osteopathische Medizin weiß? Warum wurde Andrew Taylor Stills Vision so wenig erklärt bzw. verstanden?
Tatsächlich reicht diese Frage ziemlich tief und beinhaltet nicht nur die Feststellung, dass jede Gesellschaft und Kultur mit der Integration neuer Ideen so ihre Probleme hat, sondern sie beleuchtet auch den persönlichen Widerstand, sich gegenüber neuen Sichtweisen zu öffnen. Als Dr. Still in den 1870 ern die Osteopathie begründete, war er bereits ein praktizierender Arzt. Aus Gründen, die vielen in diesem Berufsstand bekannt sind (siehe unten), schlug er das Konzept der Osteopathie als eine Alternative, nicht als eine Erweiterung der herkömmlichen medizinischen Praxis vor. Nun, in dem Maße in dem wir der medizinischen Wissenschaft in ihrer konventionellen Gestalt bedürfen, sie entsprechend lehren und sie in den gesamten Bereich der Patientenbetreuung integrieren, in dem Maße muss die eigentliche Praxis der Osteopathie gegenüber den herkömmlichen Methoden nahezu vollständig zurücktreten, um ihre diagnostische und therapeutische Anwendung auf ein vollkommen anderes Paradigma aufbauen zu können.
Man sagt, wenn eine neue Idee zu viele logische Schritte beinhalte, die nicht in den Kanon des etablierten Wissens passen, so werde sie lediglich am Rande der Wahrnehmung existieren, dort, wo sie bestenfalls als ‚schrullig’ unorthodox verbleibt, oder im schlimmsten Fall ganz in Vergessenheit gerät. Alfred Pischinger27 zum Beispiel, ein Pionier in der Erforschung der Bedeutung der extrazellulären Matrix und ihrer Rolle bei der Verursachung von Krankheiten, lieferte einen wertvollen Beitrag zum wahreren Verständnis von Krankheiten. Seine Arbeit war jedoch zu radikal, um im Mainstream Einzug zu halten. Sie wurde zum größten Teil ignoriert oder gar vergessen. Vor nicht allzu langer Zeit wurde sie jedoch, als man ihre Relevanz realisierte, wiederbelebt, insbesondere innerhalb jener Disziplinen, die ihren Fokus auf die Disposition von Erkrankungen richten, anstatt auf die Konfrontation mit ihnen. Später werden wir uns das noch genauer ansehen.
Unterdessen lehnt eine Kultur des Kritisierens tagtäglich jegliche der sogenannten alternativen Ansätze ab, völlig blind gegenüber deren Komplexität. So sehen ihre Vertreter es als Übergriff auf ein in Wahrheit unvollständiges und manchmal sogar fehlerhaftes orthodoxes medizinisches Konzept an, deren Anhänger von ihrer Unfehlbarkeit überzeugt sind. Nimmt man nun noch das Gewicht der allgemeinen Überzeugungen dazu, erscheint die Hoffnung auf Integration alternativer Prinzipien so aussichtslos wie die Hoffnung auf einen sinnvollen Dialog bei einer erbitterten Scheidung. Aber ich denke häufig, dass auch die sprachgewandten und intelligenten Kritiker aus den Reihen der alternativen Methoden selbst eines Tages ihre eigene Hybris zügeln und sich bereiterklären sollten, auch einmal über ihre eigenen, hübsch zusammengezimmerten Kisten voller Konzepte hinauszublicken. Aufrichtig und konstruktiv kritisch zu sein bedeutet zunächst einmal das Loslassen von Gewissheiten und es dem Wissen zu erlauben, den Weg in Richtung des Unbekannten zu weisen, anstatt bloß immer wieder zu betonen, was ohnehin schon längst bewiesen ist.
PARADIGMEN
Thomas Kuhn erläutert in seinem zeitlosen Text Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen über die den Paradigmenwechsel – ein vom ihm geprägter Begriff – einleitende Krise, dass zu allen Zeiten die bedeutendsten Fortschritte in den Naturwissenschaften und im Wissen eher geschahen, als dass sie sich entwickelt hätten. Es kann gut sein, dass für dieses Geschehen eine Evolution der Gedanken vonnöten ist. Aber erst wenn es zu einem kreativen Sprung kommt, werden Innovationen tatsächlich geboren. Dies kann das Ergebnis von Inspiration, Intuition, göttlicher Intervention, purer Genialität oder eines Zusammenspiels all dessen sein. Es geschieht mehr, als dass es sich entwickelt, und es ist häufig ein Nebenprodukt einer methodischen Suche nach etwas ganz anderem. Die Art und Weise, wie Neuerungen Widerstand erfahren, gefürchtet und abgelehnt werden, ist geradezu vorprogrammiert, wobei ich allerdings befürchte, dass politisches oder kommerzielles Kalkül das Getriebe der etablierten Akzeptanz ölen. (In diesem Kontext hat wohl niemand, zumindest in absehbarer Zukunft, etwas bei der Integration der Osteopathie in das Gesundheitswesen zu gewinnen.)
Noch viel schlimmer für die Osteopathie ist aber, wie sie als Berufsstand auf die Ächtung reagierte, nämlich indem sie mit dem Establishment verhandelte und versuchte sich ein vermeintlich anständiges Äußeres zu verpassen. Ausschließlich im Glauben an Anerkennung muss sie letztlich mit dem konventionellen Modell konform gehen. Es ist traurige Wahrheit, dass dies zu einer Spaltung des Berufsstandes geführt hat. Und umso seltsamer erscheint dieser Prozess, wenn man bedenkt, wie vollkommen dabei die Tatsache ignoriert wurde, dass sich die medizinische Wissenschaft zur gleichen Zeit in sich selbst veränderte, wohingegen in unseren Reihen einige immer noch an längst veralteten Ansichten festhalten. Manche der neuen Ansichten stammen aus der modernen Physik und liefern aufregende Grundlagen für unsere osteopathischen Methoden. Das Problem ist nur, dass diese Innovationen der Naturwissenschaft wahre Herausforderungen sind und selbst ihre Befürworter haben in den eigenen Kreisen ähnliche Anerkennungsprobleme. Eines muss jedoch laut gesagt werden: Wenn neues Wissen bedeutet hätte, bereits Bekanntes nur aufzubauschen und bis ins Kleinste zu vervollkommnen, dann wäre es zu keinen Veränderungen in der Geschichte der Zivilisation gekommen.
Hätten Künstler und Musiker nicht immer wieder gegen die Meinungen und den Geschmack des Establishments verstoßen (was viele der ganz Großen getan haben), ihre Kunst wäre an Verblödung zugrunde gegangen. Ganz aus modischen Launen heraus haben viele von ihnen neuen Boden beschritten, um ihre Kunst weiterzuentwickeln. Schmähung und Spott wichen dabei nur langsam Bewunderung und Verehrung. Sehen wir uns nur einmal all die öffentlichen Reaktionen auf Manet, Turner, van Gogh, Skrjabin und Strawinski an. Es verging viel Zeit bevor ihr Einfluss und ihre zentrale Rolle in der Entwicklung in ihrem Bereich anerkannt, respektiert und gefeiert wurden. Das Betreten neuen Bodens, so lebenswichtig dies für