Anhänger fühlen sich durch Veränderungen aufs Äußerste bedroht und entrüsten sich naturgemäß.
Ich werde hier nicht allzu sehr auf die Geschichte der Osteopathie eingehen; andere haben dieses bereits bewundernswert in Angriff genommen. Viele von uns sind damit ohnehin sehr vertraut und andere haben nur ein begrenztes Interessen daran. Und doch gibt es einige Aspekte, die manch einen im Zusammenhang mit der Geschichte beschäftigen. Da ist zum Beispiel dass Missverständnis, Osteopathie sei irgendwie aus östlichen Kulturen abgeleitet worden; eine Ansicht die viele unserer Patienten geäußert haben. Einige, aber sicherlich nicht alle Behandler wurden durch viele östliche philosophische und spirituelle Ideen beeinflusst. Nichtsdestoweniger wurde die Osteopathie in den Vereinigten Staaten von Amerika, in Missouri, geboren und nur durch ihren Geburtshelfer, den in Virginia geborenen Landarzt Andrew Taylor Still (1828 – 1917), erblickte sie das Licht der Welt. Stills Vater war ein Methodistenprediger in einer überwiegend landwirtschaftlich geprägten Gegend. In den 1850 ern lebte und arbeitete er unter den Shawnee-Indianern. Und auch wenn viele unterschiedliche kulturelle Einflüsse Stills Ideen mitgeformt haben mögen, so handelt es sich bei der Osteopathie dennoch primär um ein amerikanisches Importgut.
STILL UND DIE ANFÄNGE
Es besteht kein Zweifel daran, dass Still seine Version der Medizin als eine radikale Alternative zur Medizin seiner Zeit ansah. Viele Patienten und ihre Familien kommen nun aus genau dem gleichen Grund zu uns. Stills Beweggründe waren sehr persönlicher Art: Nachdem er drei Kinder an spinaler Meningitis verloren hatte, filterte diese Erfahrung sein nahezu besessenes Nachdenken über den Körper und die natürliche Ordnung der Dinge. Heute wird dieses Filtrat als funktionelle Anatomie bezeichnet. Still war zudem ein sehr spiritueller Mensch, wobei er offensichtlich wenig für organisierte Religion übrig hatte. Seine spirituelle Ader bereicherte seine philosophische Annäherung an das menschliche Befinden und führte ihn zur These des vitalistischen Prinzips, als Ausdruck eines Potentials an Gesundheit und Wiederherstellungskraft innerhalb des Körpers, wobei es nur innerhalb bestimmter Bedingungen wirken könne. Die dynamische Tendenz im Vitalismus bezeichnete er als Biogen28, und das besagte Potential basiere auf dem Prinzip einer Einheit von Funktion (Integration), den biochemischen Mechanismen der Selbstregulation und der wichtigsten Voraussetzung, einer gesunden physikalisch-mechanischen Anpassung. Die Idee, dass die ausgeglichene komplexe Integration der Körperstrukturen – allen voran der Faszien – unmittelbar in Verbindung mit Gesundheit, Heilung und Selbstinstandsetzung stehe, war geboren. Und mit ihr zugleich der Versuch einer manuellen Behandlung, die darauf abzielte, eben jene Rahmenbedingungen zu verbessern. All das zusammen bezeichnete Still schließlich als Osteopathie.
Nun, wie komplex die Kunst dieser Arbeit auch sein mag und egal wie schwer es ist, die notwendigen Fähigkeiten zur Diagnostik und Palpation und die entsprechenden Techniken zu erlangen, diese Gedanken erscheinen manchmal sehr banal angesichts des hochentwickelten medizinischen Standes, der uns im konventionellen Bereich ja so vertraut ist. Aber so war es stets. Stills Idee war bahnbrechend. Und auch wenn er einige seiner Ideen von Pionieren anderer Gebiete ableitete, so war es doch seine Inspiration, die sie zu einer medizinischen Disziplin bzw. einem medizinischen System zusammenfügte. Er plädierte für ein leidenschaftliches Interesse an der Anatomie und hob die Beziehung zwischen Struktur und Funktion hervor. Dies bildete die Basis eines Systems, das nun seit 130 Jahren praktiziert wird. Die Orthodoxen seiner Zeit konnten es einfach nicht annehmen und, ehrlich gesagt, viele würden sagen, sie haben es auch seither nicht getan. Wie es sich damit auch verhielt, wir sind noch immer hier und auch wenn viele aus diesem Berufsstand den Druck der Missbilligung durch das medizinische Establishment gefühlt und sich schließlich ein bequemes Plätzchen darin gesucht haben, um den Preis der erheblichen Gefährdung der ursprünglichen Prinzipien, so gibt es dennoch auch immer noch jene anderen, die Stills Wahrheit so eindringlich wie eh und je sehen, auf der ihre Arbeit beruht und die weiterhin nach naturwissenschaftlichen Entwicklungen Ausschau halten, welche ihre Arbeit und Stills Geschenk gleichermaßen untermauern.
Einige von uns mögen enttäuscht sein, da ich zögere die Osteopathie theoretisch oder methodisch der konventionellen Medizin anzupassen. Aber eine solche Anpassung – sei es nun aus Gründen politischer Vorteilsnahme oder aufgrund der gewichtigen und unbestreitbaren Erfolge der regulären Medizin – wäre unaufrichtig. Osteopathie war schon immer eine eigenständige Disziplin, deren Raison d’être29 auf eigenen Stärken beruhte. Ohne diese Stärken und aufgrund von Kompromissen, die uns zu einem Anhängsel des strukturellen Endes der Medizin werden ließen, würden wir langsam unsere Rolle verlieren und mit unserer einzigartigen Stimme aufhören zu existieren. Einige sind der Meinung, die Gefahr sei schon näher als man allgemein glaubt. Darüber hinaus hat die ambivalente Beziehung zwischen Osteopathie und Mainstream auf internationaler Ebene die unterschiedlichsten Formen angenommen. In einigen Ländern ist die Osteopathie illegal, in anderen wiederum zwar erlaubt, darf aber nur von Ärzten ausgeübt werden; in wieder anderen Ländern existiert sie als unabhängiger Berufsstand, wie zum Beispiel in England, und in den USA, dem Geburtsland der Osteopathie, hat sie eine eine paradoxe politische Mutation durchgemacht, bis sie die heutige Gestalt einer allopathischen Medizin angenommen hat. Nur eine kleine Minorität verblieb und ist weiterhin auf dem Pfad.
Als Theresa Cisler eine Sammlung leidenschaftlicher Schriften einer der osteopathischen Größen, Robert Fulford30, unter dem Titel Are We On The Path? zusammenstellte und herausgab, wurde deutlich, dass wir in vieler Hinsicht eben nicht mehr auf dem Pfad sind. Eine wirkliche Herausforderung für uns. Der Kampf des Berufsstandes um seine wahrhaftige Positionierung in Bezug auf seine Prinzipien mag zum Teil konzeptuell und intellektuell erscheinen, aber er war auch immer politischer Natur und durchaus angebracht. Und wie bereits erwähnt, geschah dies auf unterschiedlichste Art und Weise zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Ländern.
Stills Sprache, seine geradezu poetischen Redewendungen, sein relativ naives medizinisches Verständnis im Vergleich zum heutigen Wissen macht es selbst für einige aus unseren Reihen schwer, seine Position zu akzeptieren. Aber gerade im Zusammenhang mit so vielen innovativen Ideen, so vielen inspirierenden Wahrheiten, offenbart sich die Unzulänglichkeit der Sprache überhaupt. Wie häufig bedienen wir uns in den sogenannten holistischen Gedankenkonzepten dem nicht näher definierten Begriff von Einheit bzw. Ganzheit. Tatsächlich fehlen uns die passenden Wörter und daher flüchten wir uns in Metaphern. Studieren wir Still, sollten wir das stets im Hinterkopf behalten. Dies gilt ebenso für die anderen frühen Pioniere, wie William Garner Sutherland, dem wir im fünften Kapitel dieses Buches wiedertreffen werden.
An dieser Stelle möchte ich noch auf eine weitere allgemeine Tendenz hinweisen: jene arrogante Haltung, welche dem historischen Material bestenfalls einen unbedeutenden, wenn nicht sogar zweifelhaften Status beimisst, es im schlimmsten Fall jedoch als einen Haufen Müll ansieht. Anstatt neues Material lediglich als Ergebnis einer anderen Perspektive zu betrachten, sehen wir es als etwas, dass alles, was zuvor da war, überflüssig macht. Auch wenn dies zuweilen zutreffen mag, so ist es doch nicht immer der Fall. Es gibt in Bezug auf unseren Beruf eine Tendenz ausgezeichnete Konzepte im Namen des Fortschritts abzulehnen, um so mit einem Paradigma besser konform gehen zu können, welches eigentlich rundum besser zu einer anderen Disziplin passt.
VIELFALT
Viele unterschiedliche Ausdrucksformen und Ansichten bereichern den Berufsstand der Osteopathie. Manchmal sage ich zu meinen Patienten:
Osteopathie ist kein Standardprodukt. Gleiches kann selbstverständlich auch über alle anderen medizinischen Disziplinen gesagt werden, die konventionellen ebenso wie die anderen. Chirurgen unterscheiden sich in der Art, wie sie bestimmte Operationen durchführen, und bringen charakteristische Grade ihrer Kunstfertigkeit mit. Zu meinen Studenten sage ich häufig: Bedenkt den Unterschied zwischen einem talentierten Chirurgen und einem großartigen Chirurgen. Das damit verbundene Können ist bis zu einem gewissen Grad auf Geschicklichkeit zurückzuführen, doch das durch Erfahrung erworbene angewendete technische Wissen, der intuitive Sinn des Spürens aus Jahren an Erfahrung, weise klinische Urteilskraft, Empathiefähigkeit und das Sich-Einlassen auf das Gewebe und seine Anatomie trägt alles zu wahrer Auszeichnung und Exzellenz bei. Das gilt selbstverständlich auch für die Osteopathie (so wie dies bei jeder anderen therapeutischen Kunstfertigkeit