Robert Lever

Die Kunst und Philosophie der Osteopathie


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Schlüssel zu ihrem Verständnis der strukturellen Medizin. Genauso wie die Vorstellung, dass eine gestörte spinale Mechanik zu einem neuronal bedingten somatischen Zusammenbruch führt und in einer anomalen Physiologie resultiert. Dies war traditionell die kühne Behauptung der Chiropraktiker: ein weiterer Berufsstand, dessen Lehren ebenfalls Opfer einer eher zu stark vereinfachten Interpretation wurden. Etwa wurde behauptet, dass fehlgesteuerte spinale Repräsentationsorte in der Peripherie sich zwingend in der Fehlposition eines Wirbelkörpers (Subluxation) widerspiegelten, welcher wiederum zur Kompression von Nerven führe und Fehlfunktionen der Körperphysiologie bedinge: eine drastische, simple und etwas inkorrekte Repräsentation des chiropraktischen Credos. Es ist sehr interessant, dass viele der frühen Osteopathen ihre Ideen auf dieses ebenso simple wie unplausible Modell stützten und viele Patienten damit verprellten. Auch wenn es einfach zu verstehen und zu vermitteln ist, so ist es dennoch zum größten Teil falsch. Später werden wir uns die verbesserte Version dieses Konzeptes ansehen.

      6 Die strukturelle Integrität des Körpers, in dem die strukturelle Funktion des gesamten Körpers in Wechselwirkung steht: Struktur beeinflusst Struktur. Dies trifft zu, da unterschiedliche Aspekte des strukturellen Systems bzw. unterschiedliche Gewebe auf außergewöhnliche Art und Weise miteinander kommunizieren. Antworten Körperstrukturen auf veränderte Belastungen und Spannungsmuster und passen sie sich diesen an, können komplexe Kompensationsmuster entstehen. Die Systeme der spinalen Mechanik sind in diesem Zusammenhang seit jeher Grundlagen in der Lehre der Osteopathie, von Littlejohn über Fryette36, Hall37 und Wernham, bis hin zum Tensegrity-Modell38 (Buckminster Fuller, Donald Ingber, Stephen Levine) mit seiner Bedeutung für das Bindegewebe und den unterschiedlichen Theorien zur Biotypologie einschließlich ihrer Perspektiven in Bezug auf Diagnostik und Behandlung. Später mehr darüber.

      7 Das Bindegewebe des Körpers stellt eine Funktionseinheit dar, eine Matrix, die den mechanischen Tensegrity-Gesetzen unterliegt, und repräsentiert damit die unmittelbarste und bedeutendste Schnittstelle zwischen Struktur und Funktion, bis hinunter zur Zellebene. Das ist von zentraler Bedeutung; es bestätigt nicht nur Stills Betonung der Faszien und ihre primäre Unterstützung für eine gesunde Physiologie – „Durch ihre Aktion leben wir, durch ihr Versagen sterben wir.“39 –, sondern bezeichnet zudem jenen Bereich innerhalb unseres Studiengebietes, welcher sich im Wesentlichen auf die neuesten Forschungsarbeiten in der Biologie stützt. Dabei handelt es sich um das Konzept des Körpers als einer Matrix bioelektrischer Signale, die somit ein Kommunikationsnetzwerk zur Verfügung stellt, welches das Nerven- und das Kreislaufsystem ergänzt. Dies ermöglicht Informationsaustausch und Transport von jedem Körperteil aus in den gesamten Organismus aufgrund von Quantenmechanik, Piezoelektrik und der Halbleitereigenschaften des lebendigen Gewebes, der Kollagene und des Wassers.40

      8 Die energetische Matrix, die all diese Dinge widerspiegelt, neben ihrer Rolle als Behältnis für das mental-emotionale und subtilere Material im Bewussten und Unbewussten des Patienten und sogar seine spirituelle Ganzheit. (Einige empfinden das letztere vielleicht als etwas heikel; lassen wir es vorerst aber einmal einfach so stehen.) Die Kapazität des Körpers Aspekte des Seins des Patienten, seine Beziehung zu sich selbst und zu seiner Welt zu speichern, ist wahrlich außergewöhnlich, angefangen von der allgemein sichtbaren, introvertierten oder arrogant-extrovertierten Haltung und den damit verbundenen Bewegungsmustern, bis hin zur Speicherung emotionaler (und physischer) Traumata. Freud selbst tauchte in Neurologie und Physiologie ein und behauptete, „Das Ich ist zuallererst einmal ein Körper-Ich“. Auch wenn wir dazu neigen diesen Aspekt der Beobachtung zu nutzen und die Wahrnehmung dessen speziell in unserer Praxis zu verfeinern, so ist er natürlich Bestandteil des gesamten Alltags. Wir reagieren auf alle Arten von Hinweisen in der Interaktion mit anderen; unbewusst registrieren wir ihre Körpersprache, ihr Gebaren, sogar die Energie, die sie auf uns übertragen (oder uns abziehen). Wir wissen augenblicklich, ob wir jemanden mögen, uns zu jemandem hingezogen fühlen oder ob wir ihn als auslaugend oder abstoßend empfinden. Energetischer Austausch zwischen den Menschen ist ein Phänomen, dessen wir uns alle bewusst sind. Die Möglichkeiten dieses Potential in seiner komplexen Form zu verstehen und zu erforschen ist ein verführerischer Teil des Dialogs bzw. ‚Tanzes’ zwischen Patient und Behandler.

      9 Rhythmik: ein Konzept mit besonderer Bedeutung für Osteopathen, auch wenn es oftmals sehr unterschiedlich interpretiert wird. Sie ist offensichtlich in guten Behandlungen, in gesundem Gewebe und in der tidenartigen Fluktuation der zerebrospinalen und extrazellulären Flüssigkeiten. Sie repräsentiert einen essenziellen Teil im kranialen Konzept, welches das Lebensprinzip und dessen Übertragung in die gesunden Gewebe mit umfasst und in Sutherlands Formulierung Atem des Lebens41 seinen Ausdruck findet. Herbert Fröhlich schreibt über die Eigenschaft biologischer Systeme sich in kohärenter Oszillation auszudrücken42 und Alfred Pischinger spricht von der inhärenten Fähigkeit der Bindegewebsmatrix zur rhythmischen Oszillation.43 Auf unterschiedliche Art und Weise ist eine gute osteopathische Behandlung in der Lage Rhythmik in das lebendige Gewebe zu übertragen oder dieses positiv zu beeinflussen. Auch hierzu später mehr.

      Zusammengefasst: Das osteopathische Konzept stellt eine Art Landkarte zur Verfügung, mithilfe derer wir eine diagnostische und therapeutische Route ermitteln können. Dabei beziehen sich diese Prinzipien auf:

       ein Verständnis der mechanischen Interaktionen innerhalb des körperlichen Rahmens;

       eine Einschätzung, wie Funktion (physiologisch, emotional etc.) sich in der Struktur widerspiegelt;

       eine Ahnung des interaktiven Prozesses, der zum Teil neurologisch, zirkulatorisch und energetisch ist, einschließlich eines vielgestaltigen Informationsaustausches. Dazu kommt die Fähigkeit dies in Bezug auf Mobilität und Motilität44 zu beobachten, zu palpieren und zu interpretieren.

       Nun, natürlich ist Osteopathie nicht die erste Disziplin, die die Bedeutung von Flüssigkeiten und Informationsdynamik für die Gesundheit hervorhebt, und sie wird sicherlich auch nicht die letzte bleiben. Was sie jedoch tat und immer noch tut, ist zu betonen, wie häufig und relativ subtil Störungen und Veränderungen dieser zu einer Dysfunktion, zu Krankheit oder Pathologie führen kann, insofern nicht gehandelt wird (sei es nun durch Kompensationsprozesse, Anpassung oder Widerstand, oder durch therapeutische Hilfe). Zudem betont sie in diesem Zusammenhang die Rolle der Körperstruktur und seine diesbezüglich integrierten Handlungen.

      Nach nahezu einem Jahrhundert ‚chemischer’ Medizin, in dem Forschung und Praxis unsere Gesellschaft im Bereich der Krankenpflege revolutioniert haben, erscheinen Stills Gedanken über Medikamente für manch einen fehl am Platz. Er wurde niemals müde zu betonen, dass der Körper ein Meister der chemischen Selbstregulation sei, die einem Prozess struktureller Anpassung und Reintegration automatisch folgen werde. Dieses Prinzip wurde in der Osteopathie immer sehr hoch gehalten. Man sollte jedoch vorsichtig sein, wenn man en gros die Nutzung von Medikamenten ablehnt, die enorme Vorteile für die Patienten gebracht haben.45

      Gleichzeitig bietet die Vorstellung der Effektivität einer intrinsischen biochemischen Selbstregulation ein großes Gegengewicht zu dem übermäßigen Gebrauch von Medikamenten und den damit verbundenen, leider allzu häufig auftretenden iatrogenen Spätschäden. Stills Rede von Gottes eigener Apotheke und die Art und Weise, wie ihr Nutzen durch eine vollkommene Integration mithilfe der Osteopathie wieder aktiviert werden kann, bleibt so wichtig wie eh und je – was nicht heißt, dass man die umfassenden Leistungen der modernen Pharmakologie nicht anerkennen sollte, insbesondere wenn man sie mit der vergleichsweise naiven Medizin der damaligen Zeit vergleicht. Stills Vermächtnis war es, zumindest für Osteopathen, einen weniger invasiven Ansatz in Bezug auf eine chemische Regulation zu wählen, d. h. eine Stimulation der Selbstregulationsmechanismen durch den Einfluss einer strukturellen Reintegration und die damit verbundenen kraftvollen konstitutionellen Wirkungen. Diese Position beleuchtet zugleich eine der bedeutendsten Unterschiede zwischen allopathischem und osteopathischem Denken.

       Mehr über Struktur-Funktion-Zusammenhänge

      Als nächstes wollen wir einige dieser ominösen Struktur-Funktion-Zusammenhänge etwas genauer betrachten. Damit verbunden ist ein derartig natürlich anmutendes Modell, dass ich mich oft darüber wundere, warum das osteopathische Konzept so hart um Anerkennung kämpfen musste. Einige Aspekte werden durch bemerkenswerte