Robert Lever

Die Kunst und Philosophie der Osteopathie


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Theorie der vertebralen osteopathischen Läsion sowie jener fehlpositionierter Wirbel, die Druck auf die Nerven ausüben und physiologische Reaktionen bewirken, kann man eigentlich nur in zwei Fällen bestätigen: erstens im Fall einer echten positionellen Läsion, die vornehmlich als Folge eines physikalischen Traumas auftritt und fast stets nur in den atypischen spinalen Regionen (den oberen zervikalen und den lumbosakralen Gelenken) vorkommt; und zweitens, in Fällen einer massiven spinalen Pathologie, entweder traumatisch, angeboren oder degenerativ. Die meisten spinalen Läsionen, zu deren Behandlung wir aufgefordert werden, sind anomale Bewegungen und deren begleitende Irritationen. Letzteres ist von erheblicher Bedeutung und wesentlicher Bestandteil der physiologischen Geschichte der Läsion in all ihrer Komplexität, bezüglich dessen, was sie aufrechterhält und was sie verursacht hat.

       Irvin Korr 55

      Das Verständnis der Mechanismen einer Läsion wurde vor allem von Professor Irvin Korr in den 1940 ern und 1950 ern vorangebracht. Gemeinsam mit Dr. J. S. Denslow und anderen erforschte und erweiterte er unser Wissen auf beiden wesentlichen Gebieten des osteopathischen Ansatz. Ein Bemühen, welches er über einen Zeitraum von 30 Jahren entwickelte und erweiterte. Für Osteopathen ist es hilfreich die Ansicht der Läsion als Ursache für Druck zu ersetzen durch jene Vorstellung, die ihren Fokus auf einen Anstieg der physiologischen Sensibilität oder Irritabilität setzt. Damit ist ein veränderter physiologischer Zustand gemeint, der möglicherweise eine Überstimulierung der dazugehörigen neurologischen Leitungsbahn hervorruft; ein Phänomen, das als erhöhte Fazilitation bekannt ist. Darüber hinaus beschrieb Korr detailliert die Art und Weise, mit der diese erhöhte Irritabilität alle dazugehörigen Nerven und deren inervierte Gewebe, ob Muskeln, Blutgefäße oder Viszera, via autonomer Leitungsbahnen über somato-viszerale oder viszero-somatische Reflexe beeinflusse. Dieser neue Ansatz passte wunderbar zu Littlejohns Ansatz, bei dem die Betonung physiologischer Effekte struktureller Fehlfunktionen von größter Bedeutung ist. Der rein mechanistische Blick auf spinale Funktionen wurde dadurch überholt und auf neurophysiologische und biochemische Phänomene ausgeweitet. Des Weiteren wurde gezeigt, dass neurologische Prozesse, die zu einer Dysfunktion führen können, selbst multi-direktional in ihrer Abhängigkeit oder Unabhängigkeit gegenüber Impulsen sind. Hier spielen beispielsweise Prozesse, die von der Leitungsfähigkeit der Nervenimpulse bestimmt werden, das Phänomen des axonalen Transports und die Verteilung axonaler Proteine in Bezug auf die Versorgung viszeraler oder muskuloskelettaler Gewebe eine Rolle.56

      Die Mechanismen, durch die eine Läsion erzeugt und unterhalten wird, wurden von Korr in seinen Arbeiten über Propriozeption und die Rolle der Muskeln und Sehnenrezeptoren ebenfalls ausgearbeitet. Hier zeigt er die Folgen einer Bombardierung von Rückenmarkssegmenten durch ‚inkompatible’ Daten aus Gelenken, Muskeln und Sehnenrezeptoren.57 Zusammen mit Richard Van Buskirks Schriften über die Rolle der Nozizeptoren58 kam es dadurch zu einem besseren Verständnis der Läsion und ihren Auswirkungen. Die Ziele einer manipulativen Behandlung (egal welcher Art) wurden damit verständlicher.

      Wie bereits im Kapitel Wechselwirkungen beschrieben, kann die Bedeutung der Einheit der Körperfunktion niemals genug betont werden. Die neuromuskuläre Information, die durch eine Läsionsstellung erzeugt wird (und auf die ich mich beziehe), schafft und unterhält aufgrund der vielen Mechanismen von Kompensation, Synergie und Adaptation eine allgemeine Veränderung auch im Muster der muskuloskelettalen Funktionen. Der somatische dysfunktionale Zustand erscheint dann in unterschiedlichen strukturellen Ausprägungen, aus deren Bestandteilen entsprechend der diagnostischen Systeme oder Vorgehensweisen eine Auswahl getroffen wird. Dies ist jedoch nur die halbe Geschichte, denn das alles lebendige Gewebe durchdringende komplexe Netz bioelektrischer Signale hängt zudem von der Funktion der Bindegewebsmatrix ab, in die es eingebettet ist und die sowohl für die Körperfunktionen, aber auch innerhalb der osteopathischen Theorie eine überragende Rolle spielt. Dieser Aspekt verbindet alle strukturellen Muster. Aber erst aus dem Verständnis beider Aspekte erschließt sich die umfassende Bedeutung der Matrix an sich und die Möglichkeit diese therapeutisch zu nutzen, so wie dies beim kranialen Ansatz der Fall ist.

       Die Bindegewebsmatrix

      Was genau ist eigentlich Bindegewebe? Zunächst ist es eine Gewebeart, die man in viele weitere Untergruppen oder Kategorien aufteilen kann, wobei so gut wie jeder Teil, den wir als Körperstruktur oder Rahmen bezeichnen, darin enthalten ist: Knochen, Knorpel, Membranen, Sehnen, Ligamente, Fasern, Zellen etc., und sogar die Grundsubstanz, die wir mit der extrazellulären Matrix in Verbindung bringen. Reich an Kollagenen und Wassermolekülen ist es mit vielen außergewöhnlichen Eigenschaften ausstattet, welche durch die Arbeiten des Physiologen Albert Szent-Györgyi, der Ärzte Dr. Herbert Fröhlich und Dr. Alfred Pischinger, neben vielen anderen, beschrieben wurden. All diese Arbeiten spielen in der Erforschung des osteopathischen Konzepts immer wieder eine Rolle und viele dieser Charakteristika zeigen beispielhaft, was Szent-Györgyi als ein Versäumnis der biologischen Naturwissenschaft betrachtet: die bioelektrische Halbleiter-Eigenschaften des lebendigen Gewebes (in erster Linie Kollagene und Wasser), seine piezoelektrischen Eigenschaften und seine Rolle als schnelles Kommunikationssystem, das das neuronale und das zirkulatorische System ergänzt. Er behauptet, dass Proteine Halbleiter seien, die folglich reguliert werden könnten, um damit die Steuerung des Elektronenflusses zu beeinflussen. In der Tat ist dies eine Eigenschaft, die von sämtlichen Molekülen der extrazellulären Matrix geteilt wird.

      Das Bindegewebe ist in seiner Ganzheit in gewissem Sinne demnach sowohl architektonisch wie auch energetisch und sogar informationell. Von Oschman wird es als lebendige Matrix bezeichnet, wobei hierbei v. a. das Zellskelett in seiner Beziehung zum Zellkern und seiner DNA gemeint ist. Die in der Matrix enthaltenen Informationen beeinflussen somit auch das genetische Material der Zelle auf zweierlei Weise.59 Dies führt uns zu der Vorstellung, dass die zelluläre DNA nicht vorrangig die Gewebefunktionen reguliert, sondern zugleich selbst durch die Funktion der Bindegewebsmatrix in seiner kommunikativen, transportiven, energetischen und informativen Aufgabe moduliert wird.60

      Die energetische und informative Dimension ist in diesem Zusammenhang an sich schon bemerkenswert. Wie sie die Vorstellung der genetischen Vormachtstellung in der Betrachtungsweise der lebendigen Systemen herausfordert, ist für uns von herausragender Bedeutung. Die Art und Weise, wie lebendige Systeme oder Lebensformen sich organisieren, um ihre einzigartigen Charakteristika zu entwickeln, mit anderen Worten, das, was Leben an sich ist, bleibt dennoch ein Mysterium. 1968 präsentierte Herbert Fröhlich die Überlegung, dass lebendige Wesen informative Felder in Form elektromagnetischer Wellen hervorbringen. Viele Forscher (darunter auch der namhafte Rupert Sheldrake61 und sein Arbeit über morphogenetische Felder) haben seither dieses Thema weiter ausgearbeitet, während Fröhlichs Arbeit selbst auch einen Blick auf die Ideen anderer Forscher, wie etwa Harold Saxton Burr, wirft, der bereits in den 1930ern mit seiner Arbeit über Lebensfelder begann.62 Es scheint inzwischen, dass Ausprägung, Muster und Funktionsweise des lebendigen Gewebes anscheinend eine gewisse Organisation elektrischer Felder widerspiegeln; ein Gedanke, der von etlichen Forschern über viele Jahrzehnte hinweg immer wieder auf unterschiedliche Weise konzipiert wurde. Und auch wenn alle Ablehnung erfahren haben oder in den Hintergrund gedrängt wurden, so sind sie doch immer noch unter uns – und weigern sich zu gehen! Der Biologe und vielseitige Gelehrte Stuart Kauffman geht das Mysterium des Lebens an, indem er sagt: „Organismen sind nicht nur einfach zusammengebastelte Vorrichtungen, sondern Ausdruck tiefergehender Naturgesetze.“63 Weiter behauptet er, dass die Art, wie Energie, die mittels eines Ionenflusses, welcher durch Elektrolyte in Plasma und Gewebeflüssigkeiten entsteht, kommuniziert, als An- und Ausschalter für viele biologisch aktive Stoffe wirke.64 Interessanterweise sprachen Still und Sutherland in ihrer eigenen Begriffswelt über derartige Dynamiken, noch lange bevor Biologen Details darüber ausgearbeitet hatten.

       Zusammenfassung

      Die Struktur des Körpers als ein Informationsnetzwerk ist weitaus komplexer, als man beim bisherigen Modell angenommen hatte, welches lediglich auf neuromuskulären Reflexmustern und der Rolle des Kreislaufsystems beruhte. Und wie Still bereits vor mehr als 100 Jahren beteuerte, schließt es ebenso die fasziale wie die Bindegewebsmatrix auf viel grundlegendere Weise mit ein:

       Intrazelluläre Physiologie basiert auf einer