Markus Saxer

Der Engel, der seine Flügel verbrannte


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ihn in den Käfig. »Mach wenigstens sauber hier!«, ermahnte sie Bianca, als sie mit dem kranken Tier das Haus verließ.

      Nachdem der Tierarzt Barbarossa von seinem Leiden erlöst hatte, kehrte Rosalie mit verweinten Augen nach Hause zurück. Als sie im Korridor den leeren Tiertransportbehälter abstellte, hört sie Biancas Singsang aus dem Bad: »Gestern rot und heute tot. Ich vermiss dich nie, du garstig Vieh …«

       Na warte, Katzenmörderin du!

      Rosalie schnappte sich das Tranchiermesser aus der Küche und ging geduckt in Richtung Badezimmer. Durch den weißen Duschvorhang erblickte sie die Silhouette ihrer verhassten Schwester, wie sie sich den Schaum vom Körper abbrauste. »Diesem scheißweißen Badezimmer fehlen einfach ein paar rote Akzente«, murmelte sie vor sich hin, und ihre Hand mit dem Messer schnellte vor. Die Klinge durchstieß den weißen Vorhang und bohrte sich in den Körper ihrer Schwester.

      Bianca schnappte nach Luft, die Duschbrause fiel ihr aus der Hand und polterte in die Wanne. »Rot…«, stammelte sie fassungslos, stöhnte, und sackte zusammen.

       Die Maske des Entführers

      Von völliger Finsternis umgeben kommt Sarah zu sich. Benommen hebt sie den Kopf, ein Schmerz durchzuckt sie, als ob ein Hammer gegen die Hirnschale schlagen und jemand gleichzeitig ihre Sehnerven durchschneiden würde. Die blonden Haarsträhnen kleben ihr an der verschwitzten Stirn. Stöhnend versucht sie sich in der Realität wiederzufinden, hört ihr Herz klopfen, ertastet mit den Fingerspitzen eine Matratze. Bruchstückhaft erinnert sie sich daran, wie sie in der schummrigen Tiefgarage nach dem Fitnesstraining ihre Sachen in den Kofferraum ihres Wagens lud, als sie … hinterrücks niedergeschlagen wurde? Sie bemüht sich, tief und gleichmäßig zu atmen. Hier drin stinkt es erbärmlich. Kellermoder und Mief. Hat man mich entführt? Warum? Lösegeld kann keine Rolle spielen, ich komme aus einfachen Verhältnissen. Was dann?

      Die Alternative zum Lösegeld bringt ihr Herz zum Rasen. Das Schlimmste aber ist, dass sie in den nächsten zehn Tagen niemand vermissen wird, da sie heute offiziell im Flieger nach Mauritius sitzt. Niemand weiß, wo sie sich dort genau aufhalten wird, nicht einmal ihr verheirateter Lover Serge, der momentan an einem mehrtägigen IT-Administrator-Training teilnimmt.

       Scheiße verfluchte!

      Sarah hat nicht die Kraft aufzustehen, ihr ist so schwindelig, und doch erkennt sie vor sich die schwach erhellten Umrisse einer Tür. Sie versucht, sich auf die in der Mitte leuchtende kleine Glasscheibe zu konzentrieren. Eisige Panik greift nach ihr, als eine weiße Vollmaske dahinter auftaucht. Minutenlang wird sie stumm beobachtet, ehe die Maske weggleitet. Das Licht hinter der Tür brennt weiter und macht Sarah, der alle Farbe aus dem Gesicht gewichen ist, die bedrückende Enge ihres Kellerverlieses nur allzu bewusst.

      Nach einer Weile hört sie eine Flüsterstimme: »Hallo? Wie heißt du?«

      Sarah rappelt sich hoch, merkt, dass sie ihre Sneakers nicht mehr anhat, und lauscht gebannt.

      »Komm rüber zur Wand. Komm …«

      Vorsichtig bewegt sich Sarah im Dunkeln auf die Stelle zu, von der sie die Stimme vermutet. Dort ertastet sie ein Loch in der Betonwand, etwas größer als ein Bierdeckel. »Wer ist da?«

      »Ich bin Chloé. Und du?«

      »Sarah … Wurdest du gekidnappt?«

      »Ja.« Ein Schniefen.

      »Wie …«, stockend holt Sarah Luft. »Wie lange bist du schon hier?«

      »Weiß nicht. Seit Tagen? Oder Wochen?« Chloés Stimme klingt rau.

      Sarah braucht ein paar Sekunden, um diese Information zu verdauen. »Weißt du, wer der Maskenmann ist? Was will er von uns?« Sie hat sich vor das Loch gesetzt.

      »Keine Ahnung, aber er muss ein Sadist sein. Manchmal quält er mich. Einmal stand die Zellentür offen, und als ich mich rausgeschlichen habe, hat er mir oben an der Treppe aufgelauert, um mich niederzuschlagen und mir eine Plastiktüte über den Kopf zu ziehen. Bin dabei fast erstickt. Dann … dann hat er mir mit einer Rasierklinge in die Oberarme geschnitten und Salz in die Wunden gerieben, ich war fast wahnsinnig vor Schmerz.« Es folgt ein Schluchzen. »Das Schwein sagt nie ein Wort und trägt immer eine weiße Maske.«

      Sarahs Augen weiten sich. »Denkst du er belauscht uns?« Sie senkt die Stimme. »Sicher ist hier alles verwanzt.«

      Erneutes Schniefen. »Und wenn schon. − Hast du Durst?«

      »Meine Kehle ist staubtrocken.«

      »Hier, ich geb dir Wasser rüber. Wenn ich schlafe, stellt mir das Schwein oft Wasser und Essen in die Zelle.« Sarah ertastet eine Plastikflasche. »Danke.« Kann ich dieser Chloé trauen? Sie schraubt den Deckel ab und riecht am Flaschenhals. Kein verdächtiger Geruch. Der Durst ist stärker als die Angst. Sie trinkt in großen Schlucken, benetzt Gesicht und Nacken und fühlt sich ein bisschen frischer. »Wenn du schon so lange hier gefangen bist, sucht man sicher nach dir.«

      »Ha.« Ein freudloser Lacher. »Etwa mein Zuhälter, dieser Wichser? Dragan rennt gewiss nicht zu den Bullen und meldet mich als vermisst.«

      »Du gehst auf den Strich?«

      »Ja, na und?«

      »Wie bist du entführt worden?«

      »Eine schwarze Limo hielt am Bordstein an und der Fahrer hat mir durchs offene Fenster einen großen Schein gezeigt. Gottverdammich, dass ich eingestiegen bin! Hab aber nicht viel von ihm gesehen, es war ja Nacht. Er trug Hut und Brille. Sofort hat er die Türen verriegelt und mir einen stinkenden Lappen ins Gesicht gedrückt. Ich wurde ohnmächtig.«

      Wie viele Jahre wird Sarah schon in diesem Keller gefangen gehalten? Dreckverkrustet über den Boden kriechend … Hungerqualen leidend, mit verfilztem Haar und stumpfem Blick zusehends dem Wahnsinn verfallend … Brüllend wie ein verwundetes Tier, sich immer wieder gegen die Türe werfend …

      Und nun ist der Maskenmann gekommen, um nach Chloé auch sie zu töten.

      Vom Korridorlicht erhellt, steht er wie ein Schattenriss unmittelbar vor ihr. Ein strenger Modergeruch geht von ihm aus. Er reißt sich die Maske ab und wirft sie achtlos weg. Sein Gesicht ist wie von der Lepra entstellt, die Lippen sind weggefressen. Namenlose Angst erfasst Sarah. Zitternd kauert sie sich noch mehr zusammen und hört sich schreien, als sie seine Finger auf der Haut spürt. Ein Meer von Angst und Grauen reißt sie mit sich fort … Schweißgebadet und um sich schlagend erwacht sie aus ihrem Alptraum. Ein dumpfer Kopfschmerz holt sie in die Realität zurück. Sie bemerkt, dass man ihr Wasser und etwas zu essen in die Zelle gebracht hat. Außerdem befindet sich in einer Ecke ein Eimer aus Metall, daneben liegt ein Stapel mit größeren Zeitungsfetzen − wohl für ihre Notdurft.

      Die Kälte des Kellerbodens dringt durch Sarahs Socken, als sie ein paar Tage später erneut Tür und Scharniere abtastet: Es gibt keine Klinke. Die Tür ihres Verlieses ist fest verankert. Die Scharniere sind aus Stahl. Verzweifelt schlägt sie mit geballten Fäusten gegen die Tür, schreit unter Tränen ihre Angst und Wut heraus: »Was willst du von mir, du Mistkerl!? Mach die verdammte Tür auf und lass mich raus! SOFORT!« Zitternd und erschöpft sinkt sie zu Boden und vergräbt das Gesicht in ihre Hände.

      Die Tage in Gefangenschaft sind ein einziges schwarzes Loch, lediglich aufgehellt durch die Gespräche mit Chloé. Sarah hat Angst hier zu sterben. Eine eiserne Faust drückt gegen ihre Brust, raubt ihr den Atem, nicht aber ihre düstere Gedankenkette: Verlies, verloren, verreckt, verscharrt, verrottet und vergessen …

      Sie hört Chloé nebenan schreien: »Lass mich in Ruhe! Sarah! Hilfe!«

      Sarah schreckt hoch und kniet sich vor das Loch in der Wand: »Lassen Sie sie in Ruhe! Sie hat Ihnen nichts getan!«

      Dies scheint den Maskenmann kaum zu beeindrucken, denn Chloé heult wiederholt auf. Und dann wird eine Tür zugeschlagen.

      Sarah weicht erschrocken zurück, als ihre Kellertür