Der Maskenmann fällt hin. Die Frau − Chloé? − fuchtelt mit einer Pistole herum: »Ich hab das Schwein, Sarah, ich hab ihn!«, ruft sie triumphierend.
Sarah ist perplex: »Aber … wie hast du ihn überwältigt?« »Hab ihm die Haarnadel ins Ohr gerammt, die ich von Anfang an in der Matratze versteckt hatte. Dann habe ich ihm in die Eier getreten und ihm die Knarre abgenommen.«
Sarahs Blick fliegt zwischen den beiden hin und her.
»Und was machen wir jetzt mit ihm?«
»Erschießen!«
»Nein, wir müssen die Polizei …«
Chloés wütendes Schnauben unterbricht sie. »Damit er auf Bewährung wieder freikommt und sich die Nächste schnappen kann?« Sie schüttelt entschieden den Kopf. »Hier, nimm!« Chloé hält ihr, den Lauf nach unten gerichtet, die Pistole hin. »Halt ihn damit in Schach, während ich seine Fesseln überprüfe.«
Sarah starrt auf die mattschwarz glänzende Waffe in ihren Händen. Zitternd zielt sie auf den Maskenmann, der sie mit einem gequälten Blick ansieht und ein kehliges Geräusch von sich gibt.
»Die Fesseln sind okay. Erschieß ihn!«
Sarah schüttelt den Kopf. »Ich … ich kann nicht.« Der Mann bewegt hektisch den Kopf und stöhnt. Die starre weiße Maske verrutscht ein wenig. »Woher kennst du dich so gut mit Waffen aus, Chloé?«, fragt Sarah misstrauisch.
»Einer meiner Freier hat mich ab und zu in den Schießstand mitgenommen. Und jetzt gib schon her!« befiehlt Chloé mit scharfer Stimme. Sie nimmt Sarah die Waffe aus der Hand, kniet sich hinter den Maskierten und schießt ohne ein weiteres Wort in sein Genick. Von den Kellerwänden hallt die Detonation um ein Vielfaches zurück.
Sarah presst die Hände an die Ohren und schreit hysterisch.
Der gefesselte Mann ist zusammengesackt. Sein Kopf liegt in einer sich rasch ausbreitenden Blutlache.
Chloé verpasst ihm einen Tritt. Als er sich nicht rührt, sichert sie die Waffe, steckt sie sich in den Hosenbund und nimmt dem Mann die Maske ab. »Mal sehen, wen wir hier haben.« Sie schaut in sein Gesicht und schüttelt den Kopf. »Ich kenne diese Visage nicht. Du vielleicht?« Sie legt den Kopf schief und mustert Sarah ausgiebig.
»Wohl kaum«, flüstert diese, nähert sich aber vorsichtig dem Toten. Als Erstes bemerkt sie den Klebestreifen auf seinem Mund. Dann nehmen ihre Augen einen ungläubigen Ausdruck an und sie verzieht schmerzlich das Gesicht. Schaudernd hält sie sich die Hand vor den Mund: Der Tote ist ihr Geliebter Serge! Panisch schaut sie zu Chloé hoch, ihre Stimme überschlägt sich: »Was wird hier gespielt?«
Chloé zuckt mit den Achseln und grinst. »Serge, mein lieber Gatte, ist gerade von einem IT-Seminar zurückgekommen und hat gemeint, ich spiele mit ihm zur Begrüßung mal wieder eins unserer Latexspielchen im Keller. Hat wie immer schön brav mitgemacht.« Langsam geht sie auf Sarah zu und schlägt ihr ins Gesicht. Ihre Augen funkeln hart. »Du Schlampe hast mir meinen Mann weggenommen.« Sie sticht mit dem Finger in die Luft.
»Deshalb habe ich mir diesen kleinen Racheakt ausgedacht, deshalb habe ich dich entführt und dir ein bisschen Theater vorgespielt. Der Maskenmann bin ich. Und ich heiße nicht Chloé.« Sie zieht die blutige Maske ihres toten Mannes an und baut sich bedrohlich vor ihrer Rivalin auf − wie eine Rachegöttin.
Sarah steht unter Schock, ihre Körperhaltung ist die des Kaninchens vor der Schlange: »Du bist komplett irre. Was machst du jetzt mit mir?« Sie betastet ihre blutende Lippe und fixiert ihre Widersacherin voller Abscheu, während ihr Tränen über die Wangen laufen.
»Vielleicht auch erschießen?« Serges Frau kratzt sich nachdenklich am Nacken. »Nein, ich rufe wohl besser die Polizei. Auf der Waffe befinden sich ja ausschließlich deine Fingerabdrücke.« Sie betrachtet ihre Hände, die in transparenten Latexhandschuhen stecken, was Sarah bisher nicht aufgefallen ist, und tippt sich mit dem Zeigefinger ein paar Mal nachdenklich an den Maskenmund. »Hm. Es gäbe da vielleicht eine Alternative zum Gefängnis …« Sie entsichert die Pistole. »Einen erweiterten Suizid zum Beispiel. Man wird denken, du bist deinem Geliebten in den Tod gefolgt, weil er sich trotz seiner Beteuerungen partout nicht von seiner Frau scheiden lassen wollte.«
»Das könnte dir so passen.« Sarahs Stimme klingt schrill. Abwehrend erhebt sie ihre Hand.
»Übrigens, viele Selbstmörder scheitern, weil sie sich Schläfenschüsse verpassen, die eine recht hohe Überlebensquote garantieren, doch meistens wird man dann zum Pflegefall. Manch einem fehlt danach bloß ein Stück Hirnschale oder ein Auge, aber er überlebt und ist gaga bis an sein Lebensende. Wenn du also auf Nummer sicher gehen willst, Schätzchen, dann steck dir den Lauf in den Mund und umschließ ihn mit den Lippen, bevor du abdrückst.« Behutsam legt sie die Waffe neben sich auf den Boden. »Ich mache mir nicht die Finger an dir schmutzig. Du kannst entweder hier verhungern oder dich selbst richten, ganz wie du möchtest.« Mit diesen Worten lässt sie ihre Rivalin mit der Leiche und der Waffe allein, verriegelt die Tür von außen und betrachtet Sarah einen Moment lang durch die Glasscheibe. Sie sieht, wie diese sich zitternd über Serge beugt und weint. Dann schleicht die Frau sich in den benachbarten Keller, kauert sich vor das Loch in der Wand und späht vorsichtig hinüber. Als der Schuss fällt, zuckt sie mit keiner Wimper, wartet nur ab. Nach einer Weile glimmt ein Funken der Erheiterung in ihren Augen. Sie erhebt sich und geht wieder in den anderen Keller.
Sarah liegt reglos neben Serge, die Waffe in der Hand. Ihre rechte Gesichtshälfte ist voller Blut. Plötzlich richtet sie sich auf, zielt mit der Waffe auf die andere und drückt ab.
»Klick«, sagt Serges Frau und geht mit einem triumphierenden Lächeln in die Hocke. »Du bist einerseits clever, Sarah, andererseits aber auch sehr dumm. Clever, weil du versucht hast, das Kellerschloss aufzuschießen, und als es nicht klappte, Serges Blut an dein Gesicht geschmiert hast und dich so lange totstellen wolltest, bis ich wiederkomme und du mich töten kannst. Dumm deshalb, weil du nicht bedacht hast, dass sich nur zwei Patronen in der Waffe befinden könnten. Du hättest dich besser selbst erschossen.« Hasserfüllt sieht sie Sarah an und knallt ihr die Faust ins Gesicht. Als ihr Opfer bereits am Boden liegt, prügelt sie weiter auf sie ein, bis sich nichts mehr unter ihr regt. Danach holt sie ein Seil von nebenan und sinniert darüber, wie lange Sarah wohl überleben wird, ohne Wasser, ohne Nahrung, stets den immer penetranter werdenden Leichengeruch in der Nase, während sie unlösbar an den eiskalten und starren Körper ihres Geliebten gefesselt ist.
Herbst des Schreckens
Wie ein zweiter Umhang hatten sich Finsternis und der Londoner Nebel um die Gestalt gehüllt, die sich in der Hanbury Street Annie Chapman von vorn näherte. Im schwarzen Mantel und schwarzem Rock stand sich Dark Annie, wie sie von ihren Freunden genannt wurde, bereits die halbe Nacht lang die Beine in den Leib und wartete auf Freier. Bisher leider vergeblich. Ab und zu trank die kleine, korpulente Frau einen Schluck Schnaps, um die Kälte zu vertreiben. Zuerst erschrak sie, als sich die Gestalt vor ihr aus dem Nebel schälte, doch als sie deren Gesicht erkannte, lächelte sie, versprach sie sich doch ein wenig Abwechslung und Konversation − und vielleicht ein paar Pence-Münzen für ein Bett in der Notunterkunft. »Na, wieder die ganze Nacht auf den Beinen gewesen, was?«, fragte Dark Annie zur Begrüßung.
Die Gestalt nickte. »Ja, es gab wieder sehr viel zu tun.«
Als Annie der Gestalt die Schnapsflasche reichte, schüttelte diese den Kopf. Annie zuckte mit den Achseln und nahm einen tiefen Schluck.
»Und wie läuft's bei dir?«, erkundigte sich die Gestalt, stellte ihren kleinen Koffer ab und legte der Frau die Hand auf die Schulter.
»Nicht viel los heute. Die Kerle haben erst nächste Woche Zahltag, und wenn sie nicht gleich alles versaufen, bleibt vielleicht noch was für uns Dirnen übrig.« Annie lehnte ihren Kopf an die Schulter der Gestalt, sah und roch das Blut auf deren Kleidung. »Aber wie wär's mit uns beiden? Was meinst du?« Ihre Stimme klang wie ein Gurren.
Die Gestalt lächelte nachsichtig. »Das fragst du mich nicht