mal an? Liebt sie mich? Banale Frage. Ist das banal? Nein. Die wichtigsten Dinge im Leben sind banal. Liebt sie mich? Natürlich liebt sie mich! Natürlich?‘
Boh, er kann hier nicht nur tatenlos rumliegen. Er muss dringend an die frische Luft. Nur ein bisschen. Morgen hat ihn Professor Zauner wieder als Anschauungsobjekt für seine Studenten zur Verfügung. Jetzt muss er raus. Sonst dreht er durch. Der Vollmond wirft genug Licht ins Zimmer, dass er kein Licht anmachen muss. Er schlüpft in Trainingsanzug und Turnschuhe, öffnet die Tür und späht in den Gang. Die Stationsschwester verschwindet gerade in einem der Krankenzimmer. Er huscht hinaus auf den Flur und am Glaskasten der Schwester vorbei. Treppenhaus, dann endlose Gänge. Er begegnet ein paar müden Pflegern und Ärzten, die ihm keinerlei Beachtung schenken. Er marschiert durch den Haupteingang und ist draußen.
Der Himmel ist unendlich hoch und unendlich schwarz. Ein paar Sterne. Der Mond ist gerade hinter eine Wolkenbank getaucht und lässt deren Ränder glühen. Ein einzelnes Taxi wartet an der Straße. Einfach einsteigen und damit zu Andrea fahren? Nein. Kann er nicht bringen. Am Ende passt ihr das gar nicht. Außerdem hat er keinen Cent Geld dabei.
Er geht die Englschalkinger Straße stadteinwärts, erreicht den Busbahnhof, die U-Bahn-Station Arabellapark. Auch hier ist nichts los. Er geht in die U-Bahn runter. Sieht auf die Uhr. Halb eins. Das Einfahren des Zugs erschreckt ihn. Keine gute Erinnerung. Egal. Er steigt ein. Ohne Ticket. Um die Uhrzeit kein Thema. Hoffentlich. Sein Abteil ist leer. Böhmerwaldplatz, Prinzregentenplatz – menschenleere Geisterbahnhöfe. Am Max-Weber-Platz steigen ein paar Nachtschwärmer ein. Dann Lehel. Zwei Sicherheitstypen mustern ihn. Aber sie sind am Ende ihrer Schicht. Seine Gedanken schweifen ab, er fühlt sich plötzlich furchtbar müde. Theresienwiese. Endstation. Hier? Klar, nach 20 Uhr muss man in die U5 umsteigen, wenn man nach Laim weiter will. Aber wer will schon nach Laim? Er will zur Schwanthalerhöhe, in Andreas Nähe, zumindest von der Straße aus zu ihrem Fenster hochschauen. Will er das wirklich? Das kommt ihm jetzt ziemlich blöd vor. Er ist kein Stalker.
Tom ist der einzige am Bahnsteig, geht zum Ausgang. Die Rolltreppe spuckt ihn auf die Theresienwiese. Wow, der Himmel voller Sterne. Viel mehr, viel näher als über dem Krankenhaus. So kommt es ihm vor. Auf dem Asphalt kommt ihm ein Licht entgegen, in Schlangenlinien, ein singender Radfahrer. Tom sieht zur Bavaria. Mattglänzend im Scheinwerferlicht. Stolze Herrscherin über ihr dunkles Reich. Er sieht die steifen Schatten der Beduinenzelte. Kein Betrieb mehr. Zeltplanen glänzen silbrig. Der Bauzaun um das Tollwood-Gelände attraktiv wie eine Zahnspange. „Gitterfresse“, wie sie damals auf der Schule sagten.
Die Stadt summt leise. Tom friert in seinem dünnen Jogginganzug. Jetzt wäre der richtige Moment für eine Zigarette – würde er rauchen. Aber er raucht nicht. Andrea schon. Nicht der einzige Unterschied. Ist er ein Langweiler? Vielleicht. Nein, ist er nicht. Und jetzt? Zu Fuß. So weit ist das nicht. Nein, er kann nicht einfach so mitten in der Nacht bei ihr auftauchen. Unmöglich. Ihm ist kalt. Bewegung!
Er geht los. Gelenke knirschen, schmerzen ein wenig. Hat er schon vorhin auf dem Weg zur U-Bahn gemerkt, aber ignoriert. Bestimmt nur eingerostet. Er hat sich kaum bewegt in den letzten Tagen. Es strengt ihn an, aber es tut ihm auch gut. Er geht schneller, verfällt in lockeren Trab. Nicht die Geschwindigkeit, mit der er sonst joggt, aber schneller als Gehen. Definitiv. Er findet seinen Rhythmus, stößt weiße Schwaden aus, kalt ist ihm nicht mehr, sein Herz pocht, seine Lungenflügel fiepen. Er schwebt über die Theresienwiese, von einer Laternenlichtinsel zur anderen, durch dunkle Straßen. Schlachthofviertel, Dreimühlenviertel, an der Isar entlang, am Friedensengel den Berg hoch, die Prinzregentenstraße raus, am Ring nach links.
Schließlich sieht er das blaue U-Bahnschild am Arabellapark. Ein paar Meter noch. Locker läuft er aus. Geht doch. Er ist besser in Form als gedacht. Tom sieht zum Haupteingang der Klinik. Dort stehen zwei rauchende Pfleger. Er wartet, bis sie ausgeraucht haben, und huscht mit ihnen zusammen am Pförtner vorbei. Oben auf seinem Stockwerk ist keine Schwester zu sehen. In seinem Zimmer merkt er, dass der Trainingsanzug komplett durchgeschwitzt ist. Er zieht ihn aus und hängt ihn auf den Balkon. Duscht heiß. Legt sich ins Bett. Fühlt sich wie neugeboren. Wahrscheinlich hat er morgen eine Monstererkältung. Oder gerade nicht. Er schläft sofort ein.
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