Handy klingelt. Christine. Ob sie noch Lust hat, auf einen Drink zu gehen, sie möchte ihr was erzählen. Andrea wundert sich. Warum hat sie vorhin nicht gefragt? Wobei, ist ja manchmal komisch im Großraumbüro, wenn jeder alles mitkriegt. Jetzt ist sie schon fast zu Hause. Egal. Sie verabreden sich im Maria Passagne in Haidhausen. Andrea zögert kurz. Dahin wollte sie mit Tom nach dem Schwimmbad und einem Abendessen in der Lisboa Bar noch auf einen Absacker. So der Plan. Bevor das ganze Chaos über sie hereinbrach. Aber man muss seinen Dämonen ins Gesicht blicken. Sie kann ja wegen der Sache in der U-Bahn nicht ewig einen Bogen um Haidhausen machen. Zumal es ja eh beim Michaelibad passiert ist. Da wird sie sich allerdings in absehbarer Zeit nicht mehr blicken lassen. Die Lust auf Hallenbad oder Eislaufen ist ihr gründlich vergangen.
Andrea steigt an der Hackerbrücke in die S-Bahn um und fährt bis zum Rosenheimer Platz. Folgt den Tramschienen die Steinstraße entlang in Richtung Max-Weber-Platz. Aus dem Plattenladen an der Ecke Kellerstraße dröhnt Musik durch die gekippten Fenster, Bierflaschen klirren. Monkey Island Records verkündet das selbst gemalte Schild über der Eingangstür – Insel der Glückseligen. Auf Höhe der Metzgerei Vogl wabert noch ein zarter Hauch Leberkäs und Wiener Würste übers Kopfsteinpflaster. Das italienische Lokal Mezzodi ist gut gefüllt. Gäste sitzen an groben Holztischen vor Aperol Sprizz und Weingläsern hinter der beschlagenen Fensterfront. Sie mag das Viertel. Hier hatte sie mal einen Freund. Peter, Fotograf. Ob der noch seinen Laden in der Sedanstraße hat? Nein, da wird sie jetzt nicht vorbeigehen.
Im Maria Passagne sind kaum Gäste. Es ist noch früh am Abend. Christine sitzt an einem kleinen Tisch in einer Ecke und streichelt ihr Handy.
„Liebesbotschaften?“, fragt Andrea.
„Nicht schlecht, Frau Kommissar.“
„Jetzt echt?“
„Jetzt echt. Deswegen wollte ich dich ja treffen.“
Der Barkeeper bringt unaufgefordert zwei Munich Mule.
„Hey?“, fragt Andrea.
„Geht auf mich“, sagt Christine. „Magst du doch?“
„Wenn’s sein muss.“ Sie grinst. „Jetzt erzähl. Was, wer, wo, wie und wie oft?“
Sie lachen und stoßen an. Dann berichtet Christine, was ihr gestern passiert ist, und dass es sie schier zerreißt vor Liebe, vor Zweifeln, vor Unsicherheit. Und überhaupt.
„Jetzt mal ganz langsam und der Reihe nach“, bremst Andrea sie ein und deutet dem Barkeeper an, noch zwei Drinks zu bringen. Die ersten sind irgendwie verdunstet.
„Endlich mal keiner von diesen Stromlinienheinis, die man bei Tinder oder Elitepartner findet“, schwärmt Christine. „Nein, ein echter Typ. Der absolute Hammer. Gutaussehend, intelligent und überhaupt.“
„Wo hast du ihn denn kennengelernt?“
„Im Zug von Augsburg. Ich war gestern Abend bei einer Freundin. Um elf Uhr bin ich zurück nach München gefahren. Und da sitzt mir auf der Heimfahrt dieser wahnsinnig attraktive Typ gegenüber.“
„Und da hast du ihn angesprochen?“
„Ja. Ich hatte schon einen Kleinen im Tee.“
„Und weiter?“
„Wir waren in München noch was trinken.“
„Und dann im Hotel.“
„Spinnst du? Nur ein unschuldiger Drink in einer Bar. Und nach dem Drink haben wir ganz keusch die Handynummern getauscht. Und – ich weiß auch nicht, ich bin total verknallt!“
„Was macht er denn beruflich?“
„Irgendwas mit Sicherheitssoftware.“
„Doch nicht etwa für eine große Sicherheitsfirma am Thomas-Wimmer-Ring?“
„Äh, keine Ahnung. Wie kommst du denn da drauf?“
„Da gibt’s einen Laden mit einem Chef, der ganz gut aussieht.“
„Aha?“
„Aber sonst ein Arschloch. Der Typ spielte eine Rolle in einem Fall, als du auf Reha warst. Interessanter Typ. Dachte ich zuerst. Aber irgendwie kriminell.“
„Naja, wo die Liebe hinfällt.“
Sie lachen und bestellen noch eine Runde.
PIA
Der folgende Arbeitstag verplätschert sich irgendwie. Andrea will es sich nicht eingestehen, aber die U-Bahn-Geschichte hat Spuren bei ihr hinterlassen. Mal ist sie grüblerisch, mal abgelenkt. Sie ist nicht fokussiert. Auf Josefs Drängen hin hat sie sich einen Termin bei der Polizeipsychologin geben lassen. Wenn ihn das beruhigt, dann macht sie das in Gottes Namen. Jedenfalls ist sie unzufrieden mit sich, als sie am frühen Abend zu Hause eintrifft.
Und kaum hat sie die Sachen fürs Abendessen auf den Küchentisch gestellt, da bekommt sie einen Anruf. Polizeiwache Altstadt. Sie soll Paul dort abholen. ‚Oh, Mann!‘, denkt sie. ‚Was hat er diesmal angestellt?‘ Der Beamte hat es ihr am Telefon nicht verraten. ‚Hoffentlich haben sie Paul nicht mit Hasch oder Pillen in der Tasche erwischt, das könnte unangenehm werden. Aus dem gemütlichen Abend zu Hause wird jedenfalls nichts.‘
Jetzt fällt ihr Tom ein. Den wollte sie ja eigentlich noch im Krankenhaus besuchen. Aber geschenkt – sie muss Paul von der Polizei abholen. Oder soll sie ihren kleinen Bruder ein bisschen schmoren lassen? So eine Nacht in der Zelle wirkt ja manchmal Wunder bei jugendlichen Straftätern. Da hat man Zeit zum Nachdenken. Würde Paul sicher nicht schaden. Nein, das bringt sie nicht übers Herz. Außerdem ist Paul kein Jugendlicher mehr.
Als sie um halb acht am Marienplatz aus der U-Bahn steigt, wird sie von den Menschen fast erschlagen. Wo wollen die alle hin? Dahineilende Mumien in dicken Wintermänteln und Anoraks mit lustigen bunten Mützen und Plastiktüten in schreienden Farben? So spät noch? Klar, Shopping bis zur letzten Minute. Countdown läuft. Ein gewaltiger Menschenstrom, der sich in die U-Bahn-Station hinein und aus ihr heraus ergießt. Die Innenstadt, speziell der Marienplatz, löst bei Andrea immer wieder Brechreiz aus. Der ganze Kommerzwahnsinn in der Fußgängerzone, die vielen immer gleichen Klamottenläden. Naja, neue Jeans und Stiefel könnte sie auch mal brauchen. Ihre fadenscheinige Jeans kommt schon etwas derangiert rüber. Löcher in den Hosen sind ja schon wieder out. Aber Mode ist ihr nicht wirklich wichtig. Auf die inneren Werte kommt es an. Und sie hasst Shopping.
Andrea fröstelt es auch beim Sound des Hofbräuhauses, das nur ein paar Meter von der Altstadtwache entfernt ist. Humtata hallt durch die Lederergasse. Das ganze Jahr Oktoberfest.
Sie betritt die Wache. Ein müder junger Beamter schaut sie fragend an. Andrea zeigt ihren Ausweis. „Guten Abend. Ich bin angerufen worden. Mein Bruder sitzt hier ein?“
Der Beamte mustert ihren Ausweis und schaut in den Computer. Er nickt. „Ja, Zelle 2.“
„Was hat er getan?“, fragt Andrea.
„Er hat eine Veranstaltung gestört.“
„Was für eine Veranstaltung?“
„Die Besorgten Münchner Bürger hatten eine Versammlung in einem der Säle im Hofbräuhaus. Ihr Bruder hat zusammen mit einem anderen linken Aktivisten die Tagung gestört. Und sich der Polizei widersetzt, als diese eingetroffen ist.“
„Hat er eine Torte geschmissen?“
„Nein, aber ein Transparent entrollt und lautstark Sprüche skandiert.“
„Da gibt es Schlimmeres.“
„Wie meinen Sie das?“
„Es gibt Schlimmeres, als gegen rechte Parteien zu demonstrieren. Man wird doch noch seine Meinung sagen dürfen?“
„Eben. Das gilt auch für die BMB.“
Andrea ist irritiert. Versteht sie das richtig? Findet der das okay?
„Das