Reinhold Ruthe

Die Kunst, verantwortlich zu erziehen


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      Kapitel 2

      Was verantwortliche Elternschaft bedeutet

      Neben den Einflüssen, die durch Vererbung und Konstitution, durch Familie, Erziehung, Sozialisation und Umwelt charakterisiert sind, hängt es vom Kind ab, wie es diese Einflüsse interpretiert und bewertet. Das Kind reagiert nicht nur, sondern nimmt an seinen Erlebnissen aktiv Anteil. Es ist darum nicht wichtig, was ein Kind mit auf die Welt bringt, sondern was es damit anfängt.

      Viele Eltern leiden unter Glaubwürdigkeitsproblemen. Darum können Werte und Normen, Beziehungs- und Liebesfähigkeit im Familienleben nicht verwirklicht und gefördert werden. Wenn Eltern nicht verantwortlich denken und handeln, machen Kinder, was sie wollen. Die Eltern-Kind-Beziehung ist von fehlendem Vertrauen gekennzeichnet.

      Glaubwürdigkeit heißt:

       Leben und Reden müssen identisch sein,

       Eltern und Erzieher müssen vertrauenswürdig sein,

       Eltern und Erzieher müssen verlässlich sein,

       Eltern und Erzieher dürfen Kinder nicht hintergehen.

      Wehe, wenn Eltern anders leben als sie reden! Sie verunsichern und schenken keine Geborgenheit.

      Glaubwürdige Eltern sind verlässlich.

      Glaubwürdige Eltern machen den Kindern und anderen Menschen nichts vor.

      Glaubwürdige Eltern können ihre Fehler eingestehen. Sie können sich entschuldigen, wenn sie gelogen, unnötig geschimpft und sich ungerecht verhalten haben. Wer unglaubwürdig handelt, untergräbt die Werte, die er vermitteln will.

      Menschen, die verantwortlich denken, handeln gerecht. Wer verantwortlich denkt, verhält sich gerecht gegenüber gegensätzlichen Parteien. Er handelt unparteiisch und vermittelt zwischen rivalisierenden Gruppen. Die Justitia, die Gerechtigkeit, wird seit dem Mittelalter mit dem Symbol der Waage dargestellt.

      Das heißt:

       sie wägt ab,

       sie verkündet gerechte Urteile,

       sie hat eine Binde vor den Augen, um zu zeigen, dass sie alle Menschen gleich behandelt,

       sie sieht die Sache an, nicht die Person.

      Im christlichen Verständnis ist Gerechtigkeit der Maßstab für ein Verhältnis, und zwar für ein Verhältnis

       zwischen Mensch und Gott,

       zwischen Mensch und Mensch,

       zwischen Mensch und Tier.

      Wir kennen in unserem Sprachgebrauch die Wendung „jemandem gerecht werden.“ Sie kommt dem biblischen Begriff der Gerechtigkeit nahe. Gerechtigkeit ist hier eine Frage der Beziehung. Gerecht sein heißt in der Bibel: den Ansprüchen des jeweiligen Gemeinschaftsverhältnisses gerecht werden.

      In der 68er Bewegung wurde die Verantwortung stiefmütterlich behandelt. Der Begriff passte weitgehend nicht in die pädagogische Landschaft. Damals wurden Begriffe favorisiert wie Selbstbefreiung, Selbstverwirklichung, Erziehung zum Ungehorsam und Erziehung zur Selbstregulierung.

       Das eigene Glück,

       die eigene Lust,

       die eigene Befriedigung und

       der eigene Genuss standen im Vordergrund.

      Ganz zweifellos haben diese Erziehungsstile viele Eltern bis heute beeinflusst.

      Aber das Sein des Lebens ist Verantwortlich-sein, und zwar für mich und für andere. Viele Menschen handeln nicht verantwortungslos, weil sie krank sind, sondern sie sind krank, weil sie verantwortungslos handeln.

      Kinder und Heranwachsende müssen lernen, - konsequent ihren Anteil bei allen Problemen zu tragen, - ständig die Realität im Auge zu haben und nicht eine Illusion,

       keine Ausrede und die Flucht in die Verantwortungslosigkeit zu suchen,

       glücklich, zufrieden und voller Freude zu sein, wenn sie verantwortlich denken und handeln.

      Eltern und Erzieher müssen dem Kind unaufhörlich verdeutlichen, dass es nicht in erster Linie ein Opfer der Umstände ist, sondern ein Entscheidungen treffendes Wesen. Wer sich nicht verantwortlich fühlt,

       schiebt die Schuld auf andere,

       schiebt die Schuld auf die Eltern,

       schiebt die Schuld auf die Umstände,

       schiebt die Schuld auf Gott selbst.

      Das Neue Testament legt Wert darauf, dass wir Menschen geradestehen für das, was wir gedacht und getan haben. „Jeder von uns wird Gott für sein eigenes Tun Rechenschaft ablegen müssen. Wir wollen daher aufhören, uns gegenseitig zu verurteilen“ (Römer 14,12 - 13).

      Jeder Mensch ist zugleich ein Handelnder und ein Leidender. Er wird aktiv und trägt gleichzeitig die Folgen für sein Tun, und zwar die angenehmen wie auch die unangenehmen. Wie kommt es nun, dass Menschen ihren Kopf nicht hinhalten wollen? Es gibt viele Motive, versteckte Beweggründe, Ziele, bewusste und unbewusste Zwecke. Ein paar dieser Beweggründe will ich nennen.

       Beweggrund 1: Ich will keinen Fehler machen

      In der Regel sind es Perfektionisten, die die Fehlerlosigkeit anstreben. Fehler schädigen ihr Image. Sie möchten im Leben mit einer weißen Weste herumlaufen. Sie schieben auch die Verantwortung auf andere. Sie sind nicht bereit, Fehler und Schwächen einzugestehen. Oft handelt es sich um Menschen, die in der Gesellschaft, auf der Arbeitstelle und in der Öffentlichkeit nicht in den vordersten Reihen stehen.

       Beweggrund 2: Ich lasse mich gern führen

      Von Kindesbeinen an haben diese Menschen gelernt, dass Geschwister oder Eltern und Großeltern Entscheidungen treffen und die Verantwortung übernehmen. Auch später in der Partnerschaft oder am Arbeitsplatz sind es Menschen, die sich führen lassen, die Aufgaben zuverlässig erledigen, aber nicht selbst den Kopf hinhalten. Als Eheberater habe ich viele Frauen und Männer erlebt, die warten, bis der Partner oder die Partnerin Vorschläge gemacht oder eine Entscheidung getroffen hat.

      Manche Kinder und Heranwachsende verstehen es meisterhaft, sich hilflos zu geben, und es gibt immer wieder Erwachsene, die darauf hereinfallen und ihnen Aufgaben abnehmen.

       Beweggrund 3: Ich bin ein ängstlicher Mensch

      Angst steckt hinter vielen Verhaltensmustern und seelischen Störungen. Ängstliche Menschen gehen allen Risiken aus dem Wege. Viele sind ausgesprochen schüchtern und vorsichtig. An alle Lebensprobleme gehen sie übervorsichtig heran. Das Bedürfnis nach Sicherheit spielt in ihrem Leben eine große Rolle. Sie halten sich aus Konflikten und Auseinandersetzungen heraus. Sie wollen in Ruhe gelassen werden. Sie wollen darum auch nicht im Mittelpunkt stehen.

      Vertrauen beeinflusst die zwischenmenschlichen Beziehungen auf allen Ebenen. Misstrauen gefährdet