Reinhold Ruthe

Die Kunst, verantwortlich zu erziehen


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Vertrauen ist eine Erwartungshaltung, dass der Mensch sich auf Worte, auf Versprechen und Zusagen verlassen kann.

      Menschen, die oft enttäuscht wurden, die sich auf Eltern und andere Erwachsene nicht verlassen konnten, werden einsam, ziehen sich zurück und misstrauen den Menschen. Sie wagen nicht, auf andere zuzugehen, um nicht frustriert zu werden.

      Wer als Kind die Verlässlichkeit seiner Eltern erfahren hat,

       vertraut den Menschen,

       vertraut dem Leben,

       vertraut allen Einrichtungen,

       vertraut seinen Gaben,

       vertraut dem lebendigen Gott.

      Diese Menschen gehen Risiken ein, wagen sich an die ihnen gestellten Aufgaben heran und haben das sichere Gefühl, dass alles gut wird.

      Menschen mit Vertrauen haben eine positive Ausstrahlung. Weil sie anderen entgegenkommen, erleben sie, dass die anderen ihnen gern begegnen. Wer anderen Menschen vertraut, gilt selbst als zuverlässig und ehrlich. Es ist interessant, dass Menschen, die anderen vertrauen, von anderen als vertrauenswürdig eingeschätzt werden. Wissenschaftler betonen, dass misstrauische Menschen von anderen als weniger vertrauenswürdig angesehen werden. Tatsächlich sei es auch so, dass sie stärker zum Lügen und Betrügen neigten.

      Eltern und Erzieher, bei denen Verantwortung, Kooperation und Gleichwertigkeit großgeschrieben werden, schenken Vertrauen und handeln nicht von oben herab. Bei ihnen wachsen Kinder und Jugendliche mit einem Urvertrauen auf, das sich im weiteren Leben bezahlt macht.

      Das Gewissen ist eine Realität. Aber der Begriff ist unklar und umstritten.

      Ist das Gewissen der innere Gerichtshof?

      Ist es die Stimme der jeweiligen Gesellschaft? Ist es die Stimme Gottes?

      Ist es meine Stimme, die mir gute oder schlechte Ratschläge gibt, die meine Wünsche rechtfertigt und mir Ausreden liefert?

      Man spricht von zahlreichen Gewissen. Es gibt ein christliches, ein pädagogisches, ein wissenschaftliches, ein ästhetisches, ein künstlerisches, ein sektiererisches, ein öffentliches und ein privates Gewissen.

      Das Gewissen kann schlecht, es kann schlafend, weit, eng, träge, hart und zart sein. Für Christen gilt: Nicht das Gewissen ist die letzte Instanz, sondern der lebendige Gott. Es gibt Menschen, die haben ein Gewissen wie eine Briefwaage, die feinsten Fehler und Sünden werden registriert, und es gibt Menschern, die haben ein Gewissen wie eine Viehwaage. Nur wenn dicke Brocken und Schwerstvergehen darauf landen, schlägt die Waage aus.

      Nur der hat ein feines und zartes Gewissen, der sich an Jesus Christus und seine Maßstäbe gebunden hat. Der Geist Gottes ist der Lenker unseres Gewissens.

      Der Geist Gottes ist der Maßstab unseres Gewissens.

      Der Geist Gottes ist der Wächter für unser Gewissen.

      Verantwortliche Eltern und Erzieher, verantwortliche Leiter in Wirtschaft und Gesellschaft und verantwortliche Eheleute sind dann Vorbilder und glaubwürdig, wenn sie selbst vor dem lebendigen Gott ihr Tun und Lassen prüfen.

      Kapitel 3

      Verantwortung und Autorität

      Verantwortliche Menschen, die dieser Berufung gerecht werden, haben auch Autorität. Leider wird dieser Begriff bis heute häufig falsch verstanden.

      Das Wort „Autorität“ ist nach dem Zweiten Weltkrieg in ein Begriffschaos geraten. Die Studentenbewegung in den 60er Jahren und die Außerparlamentarische Opposition (APO) haben der Autorität übel mitgespielt. Autoritäre Verhaltensmuster, Macht, Gewaltmissbrauch und Manipulation wurden mit dem ehrbaren Begriff der Autorität in einen Sack gesteckt und auf den Müll der Geschichte gekippt. Die Autorität wurde zu Unrecht als Begriff diffamiert.

      Das geht so weit, dass heute ein Durchschnittsabiturient nicht in der Lage ist, das wichtige Eigenschaftswort von Autorität zu benennen. Wenn ich vor Kindergarteneltern, in Gemeindeveranstaltungen und auf Fortbildungsseminaren über Erziehungsprobleme spreche und wir die Begriffe Autorität und autoritative Einstellungsmuster definieren wollen, gibt es regelmäßig heiße Diskussionen, und die Teilnehmer geraten aneinander. Die 60er Jahre haben ihre Spuren hinterlassen.

      Wahre Autorität ist unbekannt.

      Wahre Autorität wirft Fragen, aber keine Antworten auf.

      Wahre Autorität muss neu definiert werden.

       Nicht autoritär, sondern autoritativ!

      Auf Vorträgen und Seminaren erlebe ich häufig eine böse Überraschung. Bei Themen über Erziehung, Strafe und Belohnung, bei Fragen über „erlaubte und unerlaubte“ pädagogische Methoden kommen wir immer wieder auf autoritäre Erziehungsmuster zu sprechen. Ich versuche genau zu unterscheiden zwischen autoritären Mustern und Verhaltensstrategien, die auf echter Autorität beruhen. Ich frage nach dem Eigenschaftswort von Autorität und erhalte in der Regel die falsche Antwort autoritär.

      Es ist einige Jahre her. Ich besuchte die große städtische Bibliothek und lieh mir Erziehungsbücher aus. Mit einem Packen Bücher unter dem Arm stand ich in der Reihe von Kunden, die alle Bücher ausgeliehen hatten.

      Als ich an der Reihe war und ein Exemplar zur Registrierung auf den Tisch legte, schaute eine junge Dame interessiert an mir vorbei auf meine ausgesuchten Titel. Fragend und lächelnd sagte sie: „Sieh mal da. Alles Erziehung. Ist das denn noch in?“

      Ich fragte zurück: „Halten Sie denn Erziehung nicht mehr für notwendig?“

      Sie sagte etwas schnippisch: „Ich halte alles Autoritäre für überflüssig.“

      Ich fragte: „Und die Autorität, was halten Sie davon?“ Sie sagte: „Ich sehe zwischen den beiden keinen Unterschied, Sie etwa?“

      Die junge Dame bemerkte mein Erstaunen und ich reagierte so: „Darf ich Sie fragen, wie heißt denn das Eigenschaftswort von Autorität?“

      Spontan kam es von ihr: „Autoritär.“

      Und ich entgegnete: „Leider stimmt das nicht. Das Eigenschaftswort von Autorität heißt autoritativ.“ Die junge Dame zog die Stirn kraus und schüttelte ihren Kopf.

      Als wir hinausgingen, fragte ich sie nach ihrem Beruf, und sie sagte: „Ich studiere Soziologie im 5. Semester.“ Das ist kein Einzelfall. Aus Neugier stelle ich heute gern die Frage nach dem Eigenschaftswort von Autorität vor jungen Erwachsenen und älteren Menschen. Das Ergebnis ist häufig das gleiche. Sie glauben, dass das richtige Eigenschaftswort von Autorität autoritär lautet. Es unterliegt keinem Zweifel, die antiautoritäre Bewegung, die in den 60er Jahren begann, hat den positiven Begriff von Autorität zum Verschwinden gebracht. Ist es ein Wunder, wenn unsere Erziehung bei vielen orientierungslos verläuft?

      Das Wort „Autorität“ stammt aus der römischen Antike. Ihre Kultur lebte aus der Überlieferung. Die Alten mit ihrem Brauchtum, ihrer Sitte und ihrem Ethos bestimmten den Alltag. Der Träger der Autorität war in erster Linie der Senat. Er bestand vorwiegend aus Männern über 60 Jahren. Sie hatten weithin ein vorbildliches Leben hinter sich und wurden zu Garanten der Zukunft. Sie hatten sich bewährt und wurden daher geachtet. Alte, die sich nicht bewährten, und Versager konnten abgewählt werden. Der Senat, der Rat der Alten, nahm zu allen