ist heiß an diesem 11. Juni 1996, 28 Grad im Schatten. Wie üblich ist Ulrike Everts gegen 13 Uhr von der Schule nach Hause gekommen, hat ihre Vögel, Fische und Zwergkaninchen gefüttert und dann mit ihren Eltern Mittag gegessen.
Nach dem Mittagessen lässt die dreizehn Jahre alte Realschülerin sich von ihrem Vater zur Ponyweide fahren, die nur zwei Kilometer vom Wohnhaus der Familie entfernt ist. Der Weg von Jeddeloh II, einem Dorf in der Nähe von Oldenburg, zum Wochenendgrundstück in Harbern führt über den Küstenkanal.
Dahinter warten zwei Shetlandponys auf Ulrike. Das Mädchen mit den blonden nackenlangen Haaren spannt Rex und Sonja vor ihre kleine Kutsche, ihr Vater verabschiedet sich. Wubbo Everts muss zurück in seine Firma, einen Handwerksbetrieb für Kältetechnik.
Gegen 15 Uhr setzt sich Ulrike mit ihrem kleinen Gefährt in Bewegung. Sie fährt ein kurzes Stück auf der Kanalstraße entlang und biegt dann in einen Sandweg ein, der auf beiden Seiten von Eichen und Birken gesäumt wird, den Dortmunder Moorweg. Anwohner beobachten, wie sie ihre Ponykutsche an Maisfeldern und Wiesen vorbeilenkt. Dann verlieren sie das Mädchen aus den Augen. Gut zwanzig Minuten später kehren die Ponys mit der leeren Kutsche zurück. Ulrike ist verschwunden. Spurlos.
2. Die Begegnung
Es war noch angenehm kühl, als Ronny Rieken an diesem Tag gegen halb sechs Uhr in der Frühe das Haus verließ. Jonas, sein anderthalb Jahre alter Sohn, die fünf Wochen alte Maren und Gerda, seine Frau, schliefen noch fest. Wie üblich hatte er sich Butterbrote geschmiert und seine Arbeitskluft angelegt, die blaue Latzhose und das karierte Flanellhemd. Alles sollte so aussehen, als fahre er wie gewohnt zur Arbeit. In Wirklichkeit war er der Arbeit schon seit fünf Tagen ferngeblieben. Das war die Rache. Die Rache dafür, dass sein Chef sich geweigert hatte, ihm eine Woche vor Monatsende einen Vorschuss zu zahlen. Dabei hätte er das Geld dringend gebraucht. Eine Autoreparatur hatte den Rest der Familienersparnisse aufgezehrt. Und die Vorräte im Haushalt waren aufgebraucht, so dass der monatliche Großeinkauf fällig geworden war.
O ja, die kategorische Weigerung seines Chefs, Entgegenkommen zu zeigen, hatte ihn geärgert. Furchtbar geärgert. Ohnehin hatte er das Gefühl, dass ihn die Leiharbeitsfirma, in deren Sold er stand, ausnutzte. Hinzu kam der weit entfernte Arbeitsplatz. Für die Fahrt von Elisabethfehn zur Ölraffinerie in Wilhelmshaven brauchte er gut anderthalb Stunden. Da ging ein Großteil des Lohns schon für den Sprit drauf – von der Zeitvergeudung durch die Fahrerei einmal ganz abgesehen. Die Arbeit an sich war nicht schlecht. Kühlwasserleitungen verlegen, Ventile reinigen, Rohre verschrauben. Alles mögliche. Was so an Bauschlosserabeiten anfiel. Denn obwohl er eigentlich Maschinenbauer war, hatte ihm die Leiharbeitsfirma einen Bauschlosserjob vermittelt. Kein Problem – wenn nicht diese verteufelt lange Fahrtstrecke gewesen wäre. Und dann eben die kleinliche Weigerung der Zeitarbeitsfirma, ihm den Vorschuss zu zahlen. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte.
Seiner Frau hatte er nichts von seinem Privatstreik erzählt. Die hätte ihm nur Vorhaltungen gemacht, dass er leichtfertig seinen Arbeitsplatz aufs Spiel setze und nicht an die Kinder denke, die versorgt werden wollten. Dieser Streiterei wollte er aus dem Wege gehen. Darum hatte er einfach so getan, als fahre er weiter brav zur Arbeit.
In Wirklichkeit fuhr er erst einmal zu seiner Mutter zum Frühstücken. Die wohnte im gleichen Dorf, nur ein paar Straßen weiter in einem Haus bei ihrem zweiten Mann Paul, Ronny Riekens Stiefvater – einem älteren Herrn, der mit ihm gern über die Metallverarbeitungsbranche fachsimpelte und somit ein recht gutes Verhältnis zu seinem Stiefsohn, dem gelernten Maschinenbauer, unterhielt.
Die beiden alten Herrschaften waren natürlich eingeweiht. Margot Rieken war stolz, mit ihrem Sohn ein Geheimnis zu teilen – stolz, dass ihr Ronny ihr mehr vertraute als seiner eigenen Frau.
Das kam ihr natürlich sehr entgegen. Für meine Mutter war immer schon klar, dass Gerda nichts taugt. Die hat doch jede Gelegenheit, genutzt, um mich zu warnen vor meiner Frau. Dass sie mich bloß ausnutzt, diese Schlampe. Ich konnte es schon nicht mehr hören, habe Gerda manchmal auch verteidigt. Aber letzten Ende ist wahrscheinlich immer irgend was hängen geblieben.
Dabei verstand sich Ronny Rieken im übrigen nicht schlecht mit Gerda. Er hatte sie schon gekannt, als sie noch zur Schule gegangen war. Nur über Fragen der Kindererziehung waren die beiden in jüngster Zeit gelegentlich aneinandergeraten – manchmal so heftig, dass sie nachts auch schon mal in getrennten Betten schliefen.
Ich konnte es einfach nicht mit ansehen, wenn sie den Kleinen geschlagen hat – und sei es auch nur auf die Finger. Ich hatte schließlich als Kind am eigenen Leibe erfahren, wie schlimm das ist, verprügelt zu werden.
Möglicherweise war er einmal sogar derart geschlagen worden, dass sein Nasenbein brach. Ein leichter Knick in der Nase blieb davon zurück, eine Missbildung, die ihm den Spottnamen »Krummnase« eingetragen hatte. Dabei hatte er ansonsten eigentlich keinen Grund, sich über sein Äußeres zu beklagen: schlank, sportlich dunkelblond – er musste sich nicht verstecken.
Doch die Heimlichtuerei mit der vorgetäuschten Fahrt zur Arbeit belastete ihn. »Ich werde es ihr heute Abend beichten«, sagte er darum an diesem Morgen seiner Mutter. »Irgendwann kriegt sie es sowieso spitz.«
»Unsinn, wie soll die das denn rauskriegen«, entgegnete seine Mutter.
»Die ist doch auch nicht blöd. Die muss sich doch bloß den Kilometerstand angucken.«
»Dann fährst du eben nach Wilhelmshaven, damit du auf die Kilometer kommst. Das Benzingeld will ich dir schon geben.«
Er war schon an den Tagen zuvor ziellos durch die Gegend gefahren, um Kilometer und Arbeitszeit vorzutäuschen. Auch an diesem Tag verließ er nach mehreren Tassen Tee gegen 10.30 Uhr das Haus seiner Mutter in Elisabethfehn und lenkte seinen mars-metallicroten Opel Omega mit der auffälligen Funkantenne am Heck in Richtung Oldenburg.
In Oldenburg steuerte er den Hafen an der Hunte an. Schiffe gucken. Auch mit den Matrosen plauderte er gern. Er war ja selbst noch vor einigen Jahren als Binnenschiffer die deutschen Wasserstraßen rauf und runter gefahren. Eine schöne Zeit, die aber natürlich der Vergangenheit angehörte – wie manches andere, was er in seinen 28 Lebensjahren schon so gemacht hatte.
Mit Blick auf die Schiffe und in Gedanken an Gerda verspeiste er an diesem Mittag auf einer Bank im Oldenburger Hafen geruhsam seine Butterbrote und beschloss schließlich, die Heimreise anzutreten. Da es noch zu früh war, wollte er aber nicht die Hauptstraße nehmen. Er entschied sich für die Nebenstrecke – immer am Küstenkanal entlang. Dabei hörte er Seemannslieder von Ronny. »Wo die Nordseewellen schlagen an den Strand …« Er kannte diese Schlager schon seit Kindheitstagen. Seine Mutter schwärmte für Ronny. Darum hatte sie auch ihren Sohn nach ihrem Lieblingssänger benannt. Genaugenommen ihre beiden Söhne. Denn bevor Ronny II geboren war, hatte es schon Ronny I gegeben, der bereits wenige Tage nach der Geburt gestorben war. Auf jeden Fall sah der Zweitgeborene keinerlei Grund, sich seines Namenspatrons zu schämen. Im Gegenteil. Auch ihm gefielen die Lieder. Und so hatte er neben aktuellen Pop-Hits immer auch etliche Kassetten mit Countryand-Western-Songs, Schlagern, Volksliedern oder Seemannsliedern von Ronny im Auto. Er konnte so schön abschalten dabei.
»Ick heff mol n Hamburger Veermaster sehn …«
Im Laufe des Tages war es immer heißer geworden. Um sich ein wenig Kühlung in seinem Opel Omega zu verschaffen, hatte er das Seitenfenster heruntergekurbelt. Das Funkgerät, das im Auto installiert war, war selbstverständlich abgeschaltet. Gerda hatte schließlich zu Hause auch eine Funkanlage, ebenso wie ihre Eltern, die ebenfalls in Elisabethfehn wohnten. Was, wenn sie ihn plötzlich auf dem Kanal hatten? Sein ganzes Lügengebäude wäre ja sofort eingestürzt.
Immer wieder musste er an das Gespräch denken, das er am Abend mit seiner Frau führen wollte. Er war es einfach leid, dauernd diese ausweichenden Antworten geben zu müssen, wenn sie ihn fragte, wie es bei der Arbeit gewesen war. »Ach, wie immer« oder »Heute war’s eigentlich ganz schön« hatte er immer herumgedruckst. Damit sollte Schluss sein. Aber wie konnte er Gerda schonend beibringen, dass er die Arbeit geschwänzt hatte?