Heinrich Thies

Ronny Rieken


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Hoffnungen zunichte machte. Doch sie kämpften dagegen an, weigerten sich, das Unabänderliche tatenlos auf sich zukommen zu lassen. Sie waren der Überzeugung, es Ulrike schuldig zu sein, alles Menschenmögliche tun zu müssen, um zu verhindern, dass die Polizei eines Tages die Aktendeckel über dem ungeklärten Vermisstenfall zuklappte. Undenkbar, unerträglich, sich das auszumalen! Die Vorstellung, dass ihr Kind womöglich von Menschenhändlern verschleppt und irgendwo erniedrigenden Sexualpraktiken ausgesetzt sein könnte – hilflos, verängstigt und allein –, brachte Marlene und Wubbo Everts fast um den Verstand. Die nervliche Daueranspannung machte sie reizbar und stellte auch die Ehe auf schwere Belastungsproben. Nichts war seit dem 11. Juni mehr wie zuvor.

      Keine 15 Kilometer von Jeddeloh II entfernt, spielte ein Mann mit seiner elektrischen Eisenbahn, der Marlene und Wubbo Everts hätte sagen können, was mit ihrer Tochter geschehen war. Doch der Mann hatte sich entschlossen, nicht mehr daran zu denken. Und es war ihm gelungen, die Erinnerung an jenen Junitag von sich abzustreifen wie Spinnengewebe, das einem am Kopf hängen bleibt, wenn man an einem Herbstmorgen durch den Wald spaziert. Er hatte ja auch seine Frau und seine beiden kleinen Kinder, die ihn beschäftigten. Und schon bald ging er wieder einer halbwegs geregelten Arbeit nach. Wenn es dennoch in ihm zu rumoren begann, dann zog er sich in seine Dachstube zurück, schaltete seine Stereo-Anlage ein und tauchte ab in seine Musik – in Lieder von Ronny oder auch in moderne Pop-Hits. Er ließ dabei seine elektrische Eisenbahn kreisen oder polierte seine Feuerzeugsammlung.

      Dass möglichst nichts von dem, was einen tief im Herzen bewegt, nach außen dringen darf, hatte er schon als Kind gelernt. Dass es notwendig sein konnte, Mauern um sich zu errichten oder anderen Menschen etwas vorzuspielen.

      Am 12. Februar 1968 war Ronny Rieken in einem Dorf am Jadebusen zur Welt gekommen. Er wurde auf den gleichen Namen getauft wie sein Bruder Ronny, der zwei Jahre zuvor unter ungeklärten Umständen gestorben war. Seine ersten drei Lebensjahre verbrachte Ronny II mit seinen beiden älteren Schwestern und seiner Mutter in dem Jader Ortsteil Jaderkreuzmoor, einer Siedlung von einem halben Dutzend Häusern. Später, nachdem auch Ronnys zwei Jahre jüngere Schwester Manuela geboren war, zog die Familie ein Dorf weiter nach Südbollenhagen und lebte hier in einem allein stehenden Haus am Rande von Birken- und Kiefernwäldchen.

      Für beide Elternteile war es bereits die zweite Ehe. Ronnys Mutter Margot Rieken, Jahrgang 1933, hatte ihre beiden Töchter aus ihrer ersten Ehe mit in die neu gegründete Familie gebracht. Auch Ronnys Vater, der Maurer Wilhelm Hyacinthus (»Willi«) Rieken, hatte bereits mehrere Kinder mit seiner ersten Frau. Aber die waren bei ihrer Mutter geblieben; Ronny hatte sie nie kennen gelernt.

      Als Ronny zur Welt kam, saß sein Vater hinter Gittern. Wegen Notzucht mit einem Kind, einem zehnjährigen Mädchen, war Willi Rieken am 21. Dezember 1967 vom Landgericht Oldenburg zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Er hatte das Mädchen in ein Auto gelockt, geschlagen, gewürgt und vergewaltigt. Nachdem Wilhelm Rieken Zweidrittel seiner Strafe in der Justizvollzugsanstalt Celle I verbüßt hatte, wurde er im November 1970 vorzeitig entlassen und kehrte zu seiner Familie zurück. So sah er erstmals seinen mittlerweile zweieinhalb Jahre alten Sohn Ronny.

      Zwiespältige Gefühle verbinden Ronny Rieken mit seinem Vater, der im Jahre 1995 verstorben ist.

       Wenn er gesoffen hatte, war er ein Scheusal, aber wenn er nüchtern war, konnte er auch sehr lieb sein. Dann sind wir manchmal abends weggefahren, haben im Auto zusammengesessen und Spaß gehabt. Manchmal hat er uns auch was mitgebracht: Schokolade, Bonbons und so. Aber dann, meistens wenn er besoffen war, konnte er auch wieder sehr brutal sein. Dann war er der brutalste Mensch, den man sich vorstellen kann.. Dann hat er mich wegen jedem Scheiß gehauen, meistens mit der flachen Hand ins Gesicht. Da hat er so richtig ausgeholt und voll zugeschlagen. Und manchmal hat er mir auch an den Ohren gezogen. Das war überhaupt das Schlimmste.

      Vieles ist verblasst, die schönen Dinge sind besser haften geblieben als die weniger schönen. Doch ziemlich genau erinnern kann sich Rieken an einen Sommertag des Jahres 1973, er war damals fünf Jahre alt. Grün und blau geschlagen habe seine Mutter ihn wieder einmal, weil er die Milch verschüttet hatte, die er gelegentlich vom Bauern in der Nachbarschaft holen musste, erzählt er viele Jahre später.

      Zum Trost für die Prügel habe ihm sein Vater Bonbons geschenkt. »Komm, wir hauen einfach ab«, habe sein »Alter« gesagt. »Abmarsch.« Und dann sei er mit seinem Vater in die Kneipe ins Nachbardorf gezogen.

       Das war das Größte für mich.

      Schon die Fahrt dorthin war für ihn ein Riesenspaß. Sein Vater nahm ihn auf den Schoß und überließ ihm das Steuer. Und Ronny liebte Autos. Die Schrottwagen, die üblicherweise im Garten standen, waren seine bevorzugten Spielplätze. Und wie andere Jungen Steine sammelten, sammelte er Autoschlüssel. Wie einen Schatz bewahrte er die Schlüssel in einem Schuhkarton auf.

      An diesem Tag aber kehrt der kleine Ronny mit seinem Vater im »Jabben« ein, der Kneipe in Bollenhagen. Er bekommt manche Groschen zugesteckt, so dass er sich am Kaugummi-Automaten bedienen kann und so viele belegte Brote essen und Limonade trinken darf, bis er zu platzen meint. Wie ein kleiner Prinz wird er verwöhnt, jeder gibt ihm etwas aus.

      Sein Vater spielt derweil mit seinen Trinkkumpanen Skat. Erst am Abend, als der Alkoholpegel wieder einmal bedenklich angestiegen ist, macht sich sein Vater mit ihm auf den Heimweg. Immerhin verfügt Wilhelm Hyazinthus Rieken noch über so viel Einsichtsvermögen, dass er sein Auto stehen lässt und die anderthalb Kilometer mit seinem Sohn zu Fuß geht – quer über die Weiden.

       Das hätte an sich ganz nett sein können. Aber je näher wir unserm Haus gekommen sind, desto mehr Schiss habe ich gekriegt. Meine Mutter hat bei solchen Gelegenheiten immer ’n mächtiges Theater veranstaltet …

      Die Befürchtungen sollten sich erfüllen: Zur Begrüßung habe sich ein gewaltiges Donnerwetter über ihn und seinen Vater entladen, erinnert sich Ronny Rieken. Dabei habe er noch Glück gehabt. Denn seine Mutter habe schnell von ihm abgelassen, weil sie in eine handgreifliche Auseinandersetzung mit ihrem Mann geraten sei. Für ihn sei es nichts Ungewöhnliches gewesen, Zeuge einer solchen Szene zu werden, sagt Rieken.

       Das kam öfter vor, dass sich die beiden geprügelt haben. Meistens haben sie sich in die Haare gekriegt, wenn sie beide gesoffen hatten. Vor allem nach Familienfeiern und so ging es immer hoch her.

      Wenn sein Vater nachts betrunken von der Arbeit nach Hause gekommen sei, habe auch er, der kleine Ronny, zittern müssen. Einmal, sagt er, habe sein Papa sich zu ihm ins Bett gelegt und ihm mit Gewalt sein erigiertes Glied in den Mund gesteckt.

       Das war dann nicht mehr so schön. Furchtbar war das, wahnsinnig weh getan hat das.

      Noch viele Jahre später erinnert sich Rieken daran, wie er einmal in seiner blutigen Schlafanzughose zum Frühstück gekommen sei. Auch seine Mutter habe sehen können, was geschehen war. Doch sie habe sich dafür entschieden, den Mantel des Schweigens über den Vorfall zu breiten – getreu ihrem Motto: »Was in der Familie passiert, bleibt auch in der Familie.«

      Oft habe sich harmlos angelassen, was grausam enden sollte. Viel Spaß habe er zum Beispiel gehabt, wenn sein Vater mit ihm in der Scheune auf den Heuballen saß und Steinewerfen mit ihm spielte, berichtet Rieken. Die Kunst habe darin bestanden, den Stein in einen zwei, drei Meter entfernten tellergroßen Kreis zu zielen. Wer den Kreis verfehlte, habe tun müssen, was der andere verlangte. Was dann aber sein Vater verlangt habe, sei kein Kinderspiel mehr gewesen. »Bisschen dran nuckeln ist gar nicht schlimm.« Mit Sprüchen dieser Art habe ihm sein Vater immer zugeredet, wenn er sich vor dem geforderten Schwanzlutschen ekelte. Dabei habe ihn »der Alte« auch unter Druck gesetzt, indem er seine Rolle als Beschützer ins Spiel brachte. So in dem Stil: »Wenn du das jetzt nicht machst, dann kann ich dir auch nicht mehr helfen, wenn Mama dich hauen will.«

      Oft, sehr oft habe er mit seinem Vater gespielt, sagt Ronny Rieken. Gut erinnere er sich vor allem an das Frage-und-Antwort-Spiel, bei dem man grundsätzlich mit »Nein« antworten musste. Auch hierbei habe der Verlierer tun müssen,