schlimm. Aber ich hab gedacht, das geht irgendwann auch wieder vorbei, und dann ist es wieder meine kleine heile Welt.
Willi Rieken verging sich auch an seinen beiden Stieftöchtern Jutta und Ulla. Auch dies konnte seiner Frau nicht verborgen geblieben sein. Immer wieder muss Ronny Rieken zum Beispiel an diesen Sonntagmorgen denken. Seine Mutter sei gerade beim Essenkochen gewesen, erzählt er. Plötzlich sei lautes Weinen aus Ullas Schlafzimmer gedrungen. Kurz zuvor war sein Vater vom Frühschoppen zurückgekehrt, um sich gleich zielstrebig zum Bett der Elfjährigen zu schleichen. Als er Ullas Weinen gehört habe, sei er seinem Vater gefolgt, erzählt Rieken. Durch einen Türspalt habe er dann diese furchtbare Szene beobachtet.
Ulla hat gestrampelt und geweint. Mein Vater hatte sich auf sie geworfen und scheinbar versucht, in sie einzudringen. Aber meine Mutter hat so getan, als wenn sie nichts davon mitkriegt. Die hat einfach nur die Schlafzimmertür zugemacht, und das war’s dann. Ich selber habe mir auch gedacht, dass ich lieber nichts sage, bevor ich wieder ran muss bei ihm.
Erst als Willi Rieken wegen der Vergewaltigung eines anderen Mädchens angeklagt wurde, trat der häusliche Missbrauch zutage. Ronnys Onkel und Tante bezeugten vor Gericht, dass der Angeklagte auch seine beiden Stieftöchter missbrauchte. Der Missbrauch des Sohnes indessen blieb unerwähnt.
Ronny war noch keine sieben Jahre alt, als sein Vater verhaftet wurde. Von der Festnahme selbst bekam er allerdings nichts mit. »Der ist auswärts arbeiten«, erklärte seine Mutter ihm. »Der bleibt für längere Zeit weg.«
Vater Rieken blieb für mehrere Jahre weg. Er kehrte nie wieder zu seiner Familie zurück. Um der Peinlichkeit des Skandals zu entfliehen, verließ seine Frau gleich nach der Festnahme mit ihren vier Kindern – inzwischen war auch Ronnys jüngste Schwester Manuela geboren – Hals über Kopf das Dorf am Jadebusen und zog nach Oldenburg. Die Familie quartierte sich zunächst im Haus von Schwester und Schwager ein, später in eine eigene kleine Wohnung in der Stadtmitte.
Einige Monate nach der Festnahme sollte es noch einmal zu einer kurzen Begegnung zwischen Vater und Sohn kommen. Um Möbel und andere Einrichtungsgegenstände abzuholen, war Margot Rieken mit Ronny zum früheren Haus der Familie gefahren. Um eine ordnungsgemäße Aufteilung des Hausstandes sicherzustellen, war es auch ihrem inhaftierten Mann gestattet worden, für diesen Lokaltermin das Gefängnis in Begleitung von Polizeibeamten zu verlassen. Er sei froh und traurig zugleich gewesen, seinen Vater wiederzusehen, sagt Ronny Rieken. Er habe von seinem »Erzeuger« einen alten Autoschlüssel geschenkt bekommen, verbunden jedoch mit einer Drohung: »Erzähl bloß keinem, was wir beide früher so zusammen gemacht haben. Sonst passiert dir was.«
Zum Abschied habe ihn sein Vater dann aber noch einmal auf den Arm genommen und ihm übers Haar gestreichelt. »Irgendwann sehen wir uns wieder, Junge. Und dann kommst du ganz zu mir«, habe sein Vater zu ihm gesagt.
Das waren seine letzten Worte. Die habe ich nie vergessen.
Trotz allem vermisste Ronny seinen Vater. Nun sei ja niemand mehr da gewesen, der sich schützend vor ihn gestellt habe, sagt er. Wenn seine Mutter ihn zum Beispiel wieder einmal geschlagen habe – mit dem Kleiderbügel, mit Gürteln oder der Hundeleine, was ihr gerade so in die Hände gekommen sei. Einmal habe sie ihn so lange mit einem Holzschuh auf den Kopf gehauen, bis das Blut gespritzt sei.
Gleichzeitig sei er von seiner Mutter aber auch mit Geschenken überhäuft und verwöhnt worden, erzählt er. Dennoch habe er sich immer nach seinem Vater gesehnt – umso mehr, je länger er von ihm getrennt gewesen sei.
Ronnys Mutter setzte alles daran, den Kontakt zwischen Vater und Sohn zu unterbinden. Nun war ja für alle Welt offenbar geworden, was ihr Mann gemacht hatte. Und das Mindeste, was sie jetzt noch tun konnte, um den Schaden zu begrenzen, war, ihren Sohn, vor dem schlechten Einfluss zu bewahren – zu verhindern, dass Ronny dem Vorbild des Vaters folgte. Mit aller Macht und Härte. Die Katholikin selbst besuchte ihren Mann anfangs noch in der Justizvollzugsanstalt Celle, schrieb Briefe und erhielt Briefe. Doch der Kontakt erlahmte, als sie die alte Bekanntschaft mit Heini auffrischte, einem alleinstehenden Bauern, von dem die Familie einst das Haus in Südbollenhagen gemietet hatte. Schon damals war der Bauer gelegentlich heimlich »zu Besuch« gekommen. Nun in Oldenburg bestand zur Heimlichkeit keine Veranlassung mehr. Und Onkel Heini, wie ihn die Kinder zu nennen hatten, stellte sich immer häufiger ein.
5. Der Prügelknabe
Ronny hasste Onkel Heini.
Der hat uns regelrecht gekauft, damit wir ihn akzeptieren. Immer hat er Süßigkeiten mitgebracht, und Weihnachten hat er unserer Mutter viel Geld gegeben, dass sie uns in seinem Namen beschenken konnte. Das teure Spielzeug, das ich gekriegt habe, hätte sie von der Sozialhilfe allein natürlich sonst nie bezahlen können.
Der Bauer besaß in Bollenhagen einen Hof mit Wäldern und Wiesen, Kühen, Schweinen und Pferden, dachte aber offenbar nicht ernsthaft daran, seine Geliebte mit ihren vier Kindern auf sein Gehöft zu holen. Auch Margot Rieken fand keinen Gefallen an dieser Idee. Denn Heini ließ sich auf seinem Hof von einer Haushälterin versorgen, die nicht eben begeistert war, Margot Rieken als Bauersfrau aufzunehmen.
Ronny war froh, dass sich die Beziehung in Grenzen hielt. Denn nur sehr selten hatte Onkel Heini ein gutes Wort für ihn, wenn der in Oldenburg zu Besuch kam. Er scheute auch nicht davor zurück, dem widerspenstigen Knaben hin und wieder eine kräftige Abreibung zu verpassen.
Dieses kleine brutale Miststück. Der hat mich geschlagen, gekniffen, gewürgt und an den Haaren gezogen – schlimmer als meine Mutter. Einmal hat er mir so die Eier zusammengequetscht, dass ich mich mehrere Tage lang nicht rühren konnte.
Für Onkel Heini stand fest, dass der Junge nur mit harter Hand auf den Weg der Tugend geführt werden konnte. Wenn überhaupt. Immer deutlicher nämlich meinte der Landwirt zu erkennen, dass Ronny durch seinen Vater erblich vorbelastet war.
Tatsächlich entwickelte sich der Junge auch nicht gerade zu einem Musterknaben. Weil er im Unterricht störte, musste er schon in den ersten Klassen oft nachsitzen – was allerdings gar nicht so schlimm für ihn war, weil er dann unter der Aufsicht seiner eigentlich ganz netten Klassenlehrerin immerhin ungestört Hausaufgaben machen konnte. Nein, er war kein schlechter Schüler, hatte keine Probleme mit dem Lernen. Doch er langweilte sich in der Schule. Und er geriet in Konflikt mit seinen Mitschülern, fühlte sich verspottet und verhöhnt.
Das ging vor allem los, als die spitz gekriegt hatten, dass wir Stütze vom Sozialamt kriegen und uns nicht die Klamotten leisten können wie die andern. Außerdem haben sie mich natürlich auch wegen meiner Krummnase ausgelacht, aber das war man ja schon fast gewohnt.
Peinlich sei es ihm auch gewesen, wenn seine Mitschüler beim Sportunterricht die blauen Flecken gesehen hätten, die von den häuslichen Schlägen herrührten. Furchtbar geschämt habe er sich vor allem beim Duschen, wenn sich seine Klassenkameraden über seinen kleinen Penis amüsiert hätten.
Zwei Zentimeter kürzer, und ich wär’ ne Prinzessin, haben sie gesagt. Die haben mich regelrecht fertig gemacht mit diesen Sprüchen.
Schlimmer sei es noch nach dem Wechsel zur Hauptschule geworden. Mitschüler hätten seine Schultasche ausgekippt und die Sachen auf dem Schulhof verteilt oder die Luft aus seinem Fahrrad gelassen. Immer wieder hätten sie ihn verprügelt, einmal sogar seinen Kopf in eine Kloschüssel gesteckt. So habe er immer öfter die Schule geschwänzt, allmählich aber auch gelernt, sich zur Wehr zu setzen – und notfalls auch mal etwas kräftiger zuzuschlagen und zu treten.
Gelegentlich muss Ronny sich regelrecht in seine Kontrahenten verbissen haben. Natürlich bleiben solche Schlägereien auch der Schulleitung nicht verborgen. Schließlich muss er die Schule wechseln und die achte Klasse wiederholen.
Von vorübergehenden Freundschaften abgesehen, entwickelt sich Ronny zu einem Einzelgänger. Und so manche Freizeitbeschäftigung bewegt sich am Rande der Legalität.
Ich bin öfter auf Baustellen rumgeturnt und hab Warnleuchten eingesammelt Aber meistens