sich mit geistigen Dingen zu beschäftigen, sondern es ist auch möglich, von einer handwerklichen zu einer gelehrten Tätigkeit zu wechseln.
In seinem Hauptwerk Das Kapital hat Marx das erste, zeitkritische Buch der Utopia (im Zusammenhang mit der sogenannten ›ursprünglichen Akkumulation‹) rühmend erwähnt. In unserer Perspektive wichtiger aber ist die Tatsache, dass Marx auch in den spärlichen Splittern seiner Utopie auf der Linie des alten Humanisten liegt. Viele Einzelheiten Utopias wie die Arbeitsteilung der Geschlechter oder die Religion interessierten Marx nicht, und er hat sie sicher auch abgelehnt. Dass aber der Zweck einer klassenlosen Gesellschaft, wie bei Morus, darin liegt, den Menschen Bildung und individuelle Entfaltung zu ermöglichen, gehört ins Zentrum seiner Gedanken. Auf einer Basis notwendig zu verrichtender Arbeit, die sich »mit dem geringsten Kraftaufwand« und unter den der »menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn« wird, soll sich ein »Reich der Freiheit«2 erheben, in dem die Entwicklung der menschlichen Kräfte Selbstzweck ist. Beide Aspekte wurden zunächst mit dem Ausdruck einer »Aneignung der Produktivkräfte durch die vereinigten Individuen«3 bezeichnet. Die Entwicklung der menschlichen Kräfte erhält unter den Bedingungen des Privateigentums die Form der Kapitalakkumulation, welche dem als Warenbesitzer vereinzelten Einzelnen jene Kräfte als etwas Fremdes, ihn Beherrschendes gegenüberstellt. In Wahrheit sei der menschliche Reichtum jedoch nichts als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse und Fähigkeiten. Der Ton wird geradezu hymnisch: der wirkliche Reichtum sei das »absolute Herausarbeiten« der schöpferischen Anlagen«, »die völlige Herausarbeitung des menschlichen Innern«4. Auch Marx stellt sich die Utopie nicht als Schlaraffenland vor; reale Freiheit sei vielmehr travail attractif, »Selbstverwirklichung des Individuums«, nicht amusement, sondern »intensivste Anstrengung«5.
Es kann kaum ein Zweifel bestehen, dass die Marx’sche Utopie auch den Versuch darstellt, der humanistischen Bildungsutopie der allseitigen Entwicklung unter den Bedingungen der Industrialisierung Geltung zu verschaffen. Auch sein spezifischer Begriff der Entfremdung, der weit über das bei Humboldt und Hegel geläufige Konzept einer Entäußerung ans Objekt hinausgeht, ist ohne die Kontrastfolie der Bildungsutopie kaum denkbar. Umgekehrt hat der neuhumanistische Bildungsbegriff sozialphilosophische Implikationen, die auf die Marx’sche Kritik der modernen Produktionsverhältnisse vorausweisen. Bei niemandem wird das deutlicher als bei Wilhelm von Humboldt. Der wahre Zweck des Menschen ist nach Humboldt die verhältnismäßige Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Dazu bedarf es der Freiheit und der Mannigfaltigkeit der Situationen, ein Erfordernis, das bei John Stuart Mill, der sich auf Humboldt beruft, umgedeutet wird in die Notwendigkeit der Existenz verschiedener Klassen.6 Tatsächlich will Humboldt mit dieser Forderung verhindern, dass der Mensch in »einförmige Lagen« versetzt wird. Die bürgerliche Freiheit wird sinnlos, wenn man an eintönige Tätigkeiten gekettet ist. Humboldt weiß natürlich, dass ein Individuum nicht »alles können« kann und dass man sich auf die Tätigkeit, die man ausführt, konzentrieren muss, um eine bestimmte Fähigkeit auszubilden. Ein Mittel, dieser notwendigen Einseitigkeit zu begegnen, liegt nach Humboldt in der Verbindung der Menschen, in der sich einer den Reichtum des anderen aneignen kann. Notwendig sei eine »Vereinigung freier Menschen«7. Außerdem kann der Einzelne im Laufe der Zeit verschiedene Schwerpunkte setzen. Dazu bedarf es aber einer formalen Ausbildung, für die der Staat Sorge tragen muss. Bildung, so würden wir heute nach der UN-Erklärung vom Oktober 1948 sagen, ist ein Menschenrecht. Sie muss allen zugänglich sein, »denn der gemeinste Tagelöhner und der am feinsten Ausgebildete muss in seinem Gemüth ursprünglich gleich gestimmt werden, wenn jener nicht unter die Menschenwürde roh, und dieser nicht unter der Menschenkraft sentimental, chimärisch und verschroben werden soll.«8 Also meint Humboldt: »Auch Griechisch gelernt zu haben könnte auf diese Weise dem Tischler ebenso wenig unnütz sein, wie Tische zu machen dem Gelehrten.«9
Obwohl Humboldt hohe Ämter im preußischen Staatsapparat bekleidet hat, ist sein Bildungsideal niemals unverkürzt verwirklicht geworden. Wirksam wurden seine Vorstellungen durch die Gründung der Universität in Berlin (1809/1810) und durch jene Elemente des Bildungsbegriffs, die im Sinne sozialer Distinktion funktionieren konnten, nicht zuletzt in Form der Betonung einer inneren Geistigkeit.10 Es ist dieser traditionell gewordene Bildungsbegriff, dem Adorno in der Theorie der Halbbildung die Leichenrede hält. Bildung war gedacht als subjektive Aneignung der geistigen Kultur, in Abgrenzung gegen jene Elemente der Kultur, welche die Bewältigung der äußeren Natur und die Gestaltung der äußeren menschlichen Beziehungen betreffen, jene Elemente also, die man unter dem Begriff der Zivilisation fasste und in Deutschland bald auch aus dem Bereich der eigentlichen Kultur ausgeschlossen hat.11 In dieser Verselbständigung und Verhärtung gegen das äußere Leben geriet der Geist in Widerspruch zu sich selbst; er behauptet sich als das Reich der Versöhnung, das er bestenfalls bedeuten kann, indem er sich seiner Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Strukturen bewusst bleibt.
Wenn also der bürgerliche Bildungsbegriff im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer substanzlosen Hülle wurde, so wird an ihm ein Urteil vollstreckt, das er längst herausgefordert hatte. In der Dialektik der Aufklärung heißt es:
»Mit dem bürgerlichen Eigentum hatte auch die Bildung sich ausgebreitet. […] Da aber die reale Emanzipation der Menschen nicht zugleich mit der Aufklärung des Geistes folgte, erkrankte die Bildung selber. Je weniger das gebildete Bewußtsein von der gesellschaftlichen Wirklichkeit eingeholt wurde, desto mehr unterlag es selbst einem Prozeß der Verdinglichung. Kultur wurde vollends zur Ware, informatorisch verbreitet, ohne die noch zu durchdringen, die davon lernten. Das Denken wird kurzatmig, beschränkt sich auf die Elemente des Faktischen. Gedankliche Zusammenhänge werden als unbequeme und unnütze Anstrengung fortgewiesen.«12
In diesem Zitat ist die Theorie der Halbbildung in nuce enthalten. Halbbildung ist ein äußerliches Verhältnis zu den tradierten Bildungsgütern, ein Bescheidwissen, das den lebendigen Nachvollzug, die eigentliche Erfahrung, ersetzt. Im Gegensatz zur bloßen Unbildung hypostasiert sie das beschränkte Wissen, überzieht die Welt mit einem Netz von Projektionen. Sie tendiert zu wahnhaften Systemgebilden, zusammengesetzt aus Stücken wirklicher oder vermeintlicher Wissenschaft. Die Triebökonomie des Wahns, die Adorno mit Freud zu entschlüsseln sucht,13 ist die des unterdrückten eigenen Verlangens. Wer wahnhaft sich verfolgt fühlt, will verfolgen, und wen er verfolgt, der repräsentiert seine Wünsche, die er weder zu realisieren noch sich einzugestehen vermag.14 Projektive Mechanismen gehören zur menschlichen Erkenntnis – reflektiert etwa im Kant’schen Schematismus der Verstandesbegriffe – und sind tief in der Gattungsgeschichte verankert. Pathisch aber wird die Projektion durch den Ausfall der Reflexionsfähigkeit. Da der Wahn nur in der Abwesenheit von der Reflexion auf die eigenen projektiven Anteile gedeiht, sind ihm auch die gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus günstig. Man meint sich dem finsteren Mittelalter, den Vorstellungen der Wilden und den Spekulationen der Philosophen entronnen und überlegen, aber jene Verhältnisse unterminieren ein Denken, das nach Objektivität strebt, indem sie die Bildung selbst, die nur in der Muße gedeiht, zum ökonomischen Mittel erniedrigen. Der objektive Zusammenhang der Gesellschaft wiederum tritt dem Einzelnen als eine fremde Macht gegenüber, die das Verständnis an der Oberfläche abweist.15 Deshalb gedeihen »die fatalen Konventikel und Panazeen«16: Theosophie, Numerologie, Astrologie etc. und im heutigen akademischen Betrieb unter dem Namen ›Konstruktivismus‹ eine Erkenntnistheorie, die allen bestätigt, dass man gar nicht anders könne, als die Welt willkürlich mit Sinn zu belegen. Denkt man an Humboldts Bestimmung, Bildung sei Durchdringung von Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit, eine Einheit von Rezeptivität und Einbildungskraft, wird einem der Abstand schmerzlich bewusst.
Ökonomisierung der Bildung bedeutet für Adorno zunächst, dass die Kulturprodukte die Form von Waren annehmen und im Hinblick auf ihre Warenfunktion produziert werden. Kulturindustrie ist der korrespondierende Begriff zur Halbbildung, der sich keiner zu entziehen vermag. In den Bildungsinstitutionen selbst war das ökonomische Prinzip seit langem vertreten durch das Ziel der Ausbildung. Was man in der Ausbildung lernt, soll nützlich sein für einen späteren Beruf, für die Erwerbsarbeit. Seit Ende der 1960er Jahre hat sich in jenen Institutionen – ich spreche über deutsche Verhältnisse – eine Wandlung vollzogen, die für Adorno noch am Horizont gelegen hat. Ausbildung hat sich auf Kosten von Bildung ausgedehnt. Geisteswissenschaftliche Fächer verschwinden aus den