ist freilich fraglich, ob Adornos Praxis als öffentlicher Intellektueller dem Utopiebegriff entspricht, den er etwa unter Beziehung auf den religiösen Begriff der Erlösung am Ende der Minima Moralia oder in dem Gespräch mit Ernst Bloch aus dem Jahr 1964 vertritt. Bezüglich der zweiten These befindet sich Adorno in guter Übereinstimmung mit Marx, der ein Vertrauen in die Arbeiterbewegung forderte, das uns freilich längst abhanden gekommen ist. Nach Marx verleugnet jede Ausmalung der Utopie, dass ihre Realisierung nur das Werk von Frauen und Männern sein kann, die sich für eine Konkretisierung jener Ziele einsetzen. Wenn es kein Vertrauen mehr in eine wirkliche Bewegung gibt, werden andere Argumente nötig, um das Verbot des Konstruierens utopischer Zustände zu begründen. Deshalb bezieht sich Adorno auf das alte jüdische Verbot, sich ein Bild von Gott zu machen.32 Denselben Versuch, die soziale Utopie in einen religiösen Kontext zu bringen, sehen wir in der dritten These über die »Abschaffung des Todes«. Sicher ist der Tod ein entscheidendes Problem der menschlichen Existenz und das Bewusstsein des Todes oder seine Unterdrückung ist ebenso ein Thema der Sozialphilosophie. Ferner kann das Sterben in vieler Hinsicht eine politische Frage sein, man denke etwa an die Diskussionen über Sterbehilfe oder assistierten Freitod. Jedoch ist die »Abschaffung des Todes« kein praktisches Ziel; wenn sie auch ein wesentliches Element der Sozialutopie ist, bleibt deren Verwirklichung definitiv unmöglich.33
Wenn wir uns erneut den Zielen der Erziehung zuwenden, entdecken wir bei Martha Nussbaum, einer der produktivsten Philosophen der Gegenwart, ähnliche Überlegungen wie bei Adorno. Auch für Nussbaum hat Erziehung eine politische Funktion, indem sie der Bereitschaft zum Freund-Feind-Denken, der Dehumanisierung und Verdinglichung anderer entgegenwirkt. Auch Nussbaum bedient sich psychologischer Einsichten, insbesondere der Psychologie der frühen Kindheit. Ihre Ziele – vornehmlich die Fähigkeiten zur Selbstprüfung und zur Empathie – decken sich weitgehend mit denen Adornos. Die Ähnlichkeiten sollten uns nicht allzu sehr wundern, denn obgleich die konkrete Situation heute sich von der der 1940er bis 1960er Jahre in wichtigen Punkten, nicht zuletzt im Grade der globalen wirtschaftlichen Durchdringung, unterscheidet, sind doch die Mechanismen, mit denen psychologisch zu rechnen ist, im Kern dieselben. Auch die Gruppen, auf die sich die Feindseligkeit bezieht, sind teilweise dieselben geblieben, wenngleich in europäischen Ländern die massenhafte Zuwanderung aus weniger entwickelten Ländern relativ neu ist. Die Struktur ethnozentrischer Phänomene, ob sie Juden oder Schwarze, Roma oder Araber betreffen, ist gleich, wie Adorno mehrfach betont.34 Die brutale Ablehnung Hilfsbedürftiger gehört in denselben Zusammenhang.
Gemeinsamkeiten von Adorno und Nussbaum finden wir zunächst in der Zielsetzung. Auch bei Nussbaum finden wir das Ziel der Selbstprüfung und das Bedürfnis, die Fähigkeit zur Empathie und zum Mitleid zu stärken. Gewiss ist der Begriff der Selbstreflexion bei Adorno psychoanalytisch geprägt, während Nussbaums »self-scrutiny« eine »socratic self examination« meint, die auf die Begründung und argumentative Verteidigung der eigenen Haltungen und Absichten im Hinblick auf das »common good« zielt.35 Aber es kann kein Zweifel bestehen, dass die ›Selbstreflexion‹ Adornos auch eine argumentative Selbstprüfung impliziert: den Weg von der Rationalisierung zur Rationalität. Umgekehrt ist die sokratische Überprüfung dessen, was wir für selbstverständlich halten, auch auf die kritische Betrachtung unserer eigenen Motive angewiesen. »Although logic will not get us to love one another, it may get us to stop pretending that we have rational arguments for our refusals of sympathy.«36 Auch wenn Adorno der Hochschätzung der formalen Logik durch Nussbaum und ihrer Ansicht, logisches Denken sei zentral für die Demokratie, gewiss so skeptisch gegenüber gestanden hätte wie einst Sokrates den Gewissheiten der athenischen Bürger und ihrer Führer37 – zwischen seinem Zentralbegriff der ›Selbstreflexion‹ und der sokratischen Pädagogik, für die Nussbaum plädiert, besteht nicht nur ein Ergänzungsverhältnis, sondern ein notwendiger Zusammenhang. Wenn der sokratischen Selbstprüfung im Sinne Martha Nussbaums die Aufgabe zugewiesen wird, gewohnte Denkweisen in Frage zu stellen und nach Alternativen zum Herkömmlichen zu suchen,38 so muss auch die Kritik der Denkformen des Marktes, die Adorno praktiziert, Teil einer solchen Infragestellung sein. Schließlich ist die Fähigkeit, in der öffentlichen Diskussion Fehlschlüsse zu erkennen und gegenüber dem öffentlichen Mainstream die Haltung kritischer Distanz zu wahren, nicht nur ein Ziel der sokratischen Pädagogik, für die Nussbaum plädiert, sondern auch ein wesentliches Merkmal dessen, was Adorno unter Mündigkeit versteht.
Wie die sokratische Pädagogik, muss auch die Förderung der Mitleidsfähigkeit sehr tief einsetzen, nämlich in der frühen Kindheit und der Interaktion zwischen Kind und ›caregiver‹. Dennoch sind auch in der späteren Erziehung Möglichkeiten zur Förderung jener Fähigkeit gegeben. Nussbaums Ausgangspunkt ist die Feststellung Rousseaus im Emile, dass es neben einem natürlichen Impuls des Widerwillens, andere leiden zu sehen, auch der Phantasie bedarf, um mitleidsfähig zu sein. Was aber könnte die Einbildungskraft besser fördern als die Literatur, sowohl in dramatischer als auch in epischer Form? »[C]olleges and universities […] must give a central role in the curriculum to the humanities and the arts, cultivating a participatory type of education that activates and refines the capacity to see the world through another person’s eyes.«39
Nussbaum knüpft an die Bestimmungen der Aristotelischen Poetik an und führt uns die großen Tragödien wie die Troerinnen des Euripides oder den Philoktet von Sophokles neben vielen Bespielen aus der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit vor Augen. Es ist kein Zufall, dass die Tragödie, die nach Aristoteles Furcht und Mitleid erregt, gerade in Athen gedieh, wo man stolz war auf die eigene Demokratie und ihr Gleichheitsgebot. Wie auch Rousseau erkannte, steckt im Mitleid ein Element der Egalität. Nussbaum schreibt: »In a compassionate response to the suffering of another, one comprehends that being prosperous or powerful does not remove one from the ranks of needy humanity. Such reminders […] are likely to lead to a more beneficent treatment of the weak.«40
Nun sind Sokratische Selbstprüfung und kritisches Argumentieren sowie das Sich-Hineinversetzen in andere, die wir bei der Produktion und Rezeption von literarischen Werken praktizieren, keine Erfindungen von vorgestern. Die Frage ist unvermeidlich, warum diese Fähigkeiten es durch die Geschichte von zweieinhalb Jahrtausenden nicht dazu gebracht haben, demokratische Verhältnisse zu fördern und den Rückfall in barbarische Verhaltensweisen, der sich bis in die jüngste Vergangenheit immer wieder ereignet hat, zu verhindern. Nach Nussbaum haben wir anthropologische Faktoren in Rechnung zu stellen: »The sources of irrationality in human life are many and profound.«41 Obwohl sie die Wirksamkeit politischer und rechtlicher Institutionen erwähnt,42 bleiben ihre Überlegungen an dieser Stelle reichlich allgemein. Natürlich dürfen wir nicht vergessen, dass auch Adorno, im Angesicht der faschistischen Gräuel, seine Konzeption des gesellschaftlichen Unheils sehr tief angelegt hat, nämlich in den Wurzeln von Kultur und Zivilisation überhaupt. Aber seine Konzeption, wie sie in der mit Horkheimer erarbeiteten Dialektik der Aufklärung begründet ist, bleibt eine sozialphilosophische und vor allem eine historisch reflektierte Konzeption, die um das Zentrum der Produktion des menschlichen Reichtums, d. h. um die sozialen Formen der Selbsterhaltung, gebildet ist. Während wir bei Nussbaum keinen Begriff von politischer Ökonomie und sozialer Herrschaft finden, hat Adorno entschieden auf die Grenzen der Erziehung hingewiesen. Diese Grenzen liegen vor allem in den ökonomischen Strukturen, in der Autorität der Verhältnisse, die den Gehorsam gegen ihre Repräsentanten einüben. Als vernünftig gilt »die möglichst vollständige Anpassung des Subjekts an die verdinglichte Autorität der Ökonomie«43. Folglich darf das Problem des Autoritarismus nicht beschränkt werden auf jene gewaltbereiten und hasserfüllten Charaktere, die das Produkt eines autoritären Erziehungsstils sind und die das Fußvolk der Verfolgung liefern.
Die Hauptursache des gesellschaftlichen Unheils liegt für Nussbaum in der psychologischen Situation des Kleinkinds, die eine anthropologische Konstante darstellt, bzw. in einer bestimmten Gestaltung dieser Situation. Nussbaum bezieht sich auf die Säuglingsforschung, auf Autoren wie Fairbairn, Winnicott und Daniel Stern, die Adorno nicht oder nur schwer kennen konnte. Feindseligkeit gegen bestimmte Gruppen (Fremde, Homosexuelle, Minderheiten, Behinderte oder sozial Deklassierte) verdankt sich, so die Analyse, einem Zusammenspiel von Narzissmus, Scham und Ekel. Die menschliche Situation ist zu Beginn charakterisiert durch eine einmalige Mischung von Hilflosigkeit, kognitiver Kompetenz und glückseliger Befriedigung. Das Kleinkind reagiert mit dem Wunsch, die Eltern in