Grundlage der Welterfahrung aufgekündigt hat, um nunmehr die Sprache, ihre Weltdarstellungsfunktion als letztbegründende Bedingung für Welterkenntnis vorauszusetzen. Adorno hat die sprachtheoretische Wende, diesen epistemologischen Wechsel von der Bewusstseins- zur Sprachphilosophie, nicht mitvollzogen. Gleichwohl hat er sich gegen jeden nachidealistischen Vorrang einer erkenntniskonstitutiven Subjektivität starkgemacht, weil sie »vom Einheitsprinzip und der Allherrschaft des übergeordneten Begriffs«4 ausgeht. Er ist niemals einem Sprachdenken gefolgt, das einer freien, der Autonomie und Spontaneität des Subjekts folgenden signifizierenden Zuordnung von Sprachzeichen zu ihren realen Sachverhalten das Wort geredet hat. Was er als eine Form der philosophischen Sprache entworfen hat, ist vielmehr eine nichtrepräsentative, auf sprachlich erzeugte Konfigurationen zielende Ausdruckssprache, die man als eine kritisch-sprachproduktive Neuanordnung philosophischer Termini bezeichnen kann, um deren tradierte »trügende Ontologie«5 zu entlarven.
Zum Zweiten der Radikale Konstruktivismus, der alle Welterfahrung als konstruktive Leistung aus einer vorausgesetzten Beobachterperspektive begründet. Erkenntnisse sind danach nichts anderes als wahrnehmungszentrierte Konstruktionen eines Welttatsachen erst konstruierenden Beobachters. Dass diesen konstruktiven Leistungen begriffliche Operationen zugrundeliegen, die nicht aus der konstruktiven Schöpfung des Beobachters resultieren, sondern ihrerseits ein begriffsgeschichtliches Sediment besitzen, wäre für Adorno sicherlich der begriffskritische Einwand gewesen.
Zum Dritten der Dekonstruktivismus, der sich im Sinne Derridas als ›penser autrement‹ versteht, um etablierte, das heißt bereits kanonisierte Philosopheme der Philosophie aus den Angeln zu heben. Dort geht es gewissermaßen um eine Neuschöpfung auf dem Gebiet der Philosophiegeschichte, die nicht bei deren verschwiegener Intertextualität ansetzt, sondern die Identität philosophischer Begriffe destruierend entgrenzt. In der Zerstörung der fraglosen Identität überkommener philosophischer Termini liegt die bis heute nicht ausgelotete Übereinstimmung des Dekonstruktivismus mit der Begriffskritik Adornos.6
Zum Vierten der Neonaturalismus, der – John Searle zufolge – Bewusstseinsphänomene auf neuronale Verursachungen zurückführt; also »den biologischen Charakter mentaler Zustände betont«7. Das Substrat lebensweltlicher Erfahrungen philosophisch so zu erklären ist jenseits dessen, was Adorno als »den Primat inhaltlichen Denkens« einforderte, um so zu konkretem Philosophieren »bündig zu gelangen«8. Adorno hätte vermutlich gegen diese neue Geistphilosophie eingewandt, was er dem Empirismus ins Stammbuch geschrieben hat: »ein konsequenzloser Zusammenhang bloßer Dies-da-Bestimmungen«, der »keinerlei kritisches Maß mehr hergibt«9. Und mit Blick auf das, was philosophisches Denken über ein reduktionistisches Erklären hinaus sein will, sagt er: »Die Denkformen wollen weiter als das, was bloß vorhanden, ›gegeben ist‹«10. Die philosophische Reflexion inhaltlicher Welterfahrung ist nicht das Spiegelbild, das die neuronale Matrix als Abbild auf den ›Monitor‹ des Geistes wirft; sie ist eine gedanklich-figurative Übersetzung von Welterfahrungen im Darstellungsmedium philosophischer Sprache – mehr nicht, aber auch nicht weniger.
Aufs Ganze gesehen kann man folgern, dass Adorno »zum Kronzeugen dieser neuesten Paradigmenwechsel kaum […] geeignet«11 ist. Ausgehend von der Nicht-mehr-Aktualität der Schriften Adornos muss die Frage beantwortet werden: Warum noch Adorno lesen, speziell seinen philosophischen Schlüsseltext, die Negative Dialektik? Eine erste Antwort kann nur lauten: weil sie, die Negative Dialektik, »den scheinbar fest gefügten ›frame of reference‹ philosophischer Debatten [immer noch, T. J.] in Frage zu stellen«12 vermag; weil die gedankliche Subversivität dieses Werkes unweigerlich »eine kritische Denkbewegung« inauguriert, »die eingespielte Begriffsverwendungen untergräbt«13; und weil sie – gegen den gegenwärtigen Mainstream, Adornos Denkens zu vergessen – zu den philosophischen Klassikern des 20. Jahrhunderts zählt. Ein philosophischer Klassiker zu sein stellt keine posthume Nobilitierung des Autors dar. Klassisch ist dann ein Werk, wenn es zum »Wiederlesen« auffordert, wenn es »die Macht hat, einen Samen [des Nachdenkens] zu hinterlassen« und schließlich, wenn es sich derart »als unvergesslich behaupten« kann, sodass es »unablässig eine Staubwolke kritischer Reden über sich selbst hervorruft«14. Die bis heute ungebrochene Rezeptionsgeschichte der Negativen Dialektik beweist, dass dieses Werk zweifelsfrei ein philosophischer Klassiker ist.
Die nachfolgenden Überlegungen konzentrieren sich auf eine Kernfrage, die sich auf einen Leitgedanken der Negativen Dialektik bezieht: Wie kann konstellatives Denken sprachtheoretisch, genauer begriffstheoretisch, begründet werden? Konkreter gefragt: Wie ist der rätselhafte Satz in der Negativen Dialektik: »An ihr ist die Anstrengung, über den Begriff durch den Begriff hinauszulangen«, aufzulösen? Zielt diese Formulierung nur auf ein methodologisches Verfahrensmodell? Oder ist sein kryptisch wie paradox klingender Satz vielleicht dadurch aufzuhellen, dass man sich auf eine andere, ebenso rätselhafte Formulierung Adornos stützt, die da lautet: »Sprache als Organon des Denkens wäre der Versuch, das rhetorische Moment kritisch zu retten«15? Es geht darum, diese zwei Stellen aus der Negativen Dialektik systematisch so aufeinander zu beziehen, dass sie das Begriffslose, das Adorno als das Nichtidentische gekennzeichnet hat, begreifbar machen. Positiv gefragt: Ist das semantische »Mehr«16, das nicht in prädikativen Urteilssätzen aufgeht, vielleicht nur in Form semantischer Konfigurationsbildungen, ergo durch rhetorische Begriffsfigurationen einholbar?
Der Weg zur Beantwortung dieser Frage wird folgender sein: Zunächst soll ein Kerngedanke, ein Grundmotiv der Negativen Dialektik dargestellt werden, damit die Grundidee der Begriffskritik Adornos deutlich wird. Um den philosophiegeschichtlichen Hintergrund der Argumentationsstruktur Adornos zu verdeutlichen, werden die philosophischen Referenzen benannt, von denen sich die Negative Dialektik kritisch abstößt, indem sie diese verarbeitet. Diese sollen nur umrissen, angezeigt bzw. skizziert werden, um die bezeichnete Kernfrage angehen zu können. Diese wird in drei Argumentationsschritten aufgelöst: Erstens sollen die Lesarten des Begriffs ›Nichtidentisches‹ bzw. ›Begriffsloses‹ rekonstruiert und befragt werden, zweitens soll der Terminus ›Nichtidentisches‹ im Hinblick auf die Kategorie Sprachtranszendenz bezogen werden, und drittens soll einer der zentralen Begriffe der Negativen Dialektik, die Konstellationsbildung, als ein begriffstranszendierendes Verfahren auf der Basis rhetorischer Kategorien ausgelegt werden. Diese rhetorischen Kategorien sind solche des figuralen und nicht des persuasiven Sinngehalts. Das Verfahren selbst stützt sich auf den Terminus Begriffstranszendenz, der vom Begriff der Sprachtranszendenz abgehoben wird. Mit dieser Auslegung bzw. Interpretation einer Schlüsselkategorie Adornos wird abgesehen von Rezeptionsweisen, die die Negative Dialektik bisher traktiert haben: etwa die gesellschaftskritischen, die erkenntniskritischen, die messianischen, die praxisorientierten und letztlich die philosophiegeschichtlichen Lesarten. Der Impuls, sich nochmals des Konstellationsbegriffs anzunehmen, diesen im Lichte einer sprach- wie begriffskritischen Argumentation zu interpretieren, vermutet etwas Ungedachtes im Werk der Negativen Dialektik. Für dieses Ungedachte gilt die Anweisung Heideggers: »Je größer das Denkwerk eines Denkers ist, das sich keineswegs mit dem Umfang und der Anzahl seiner Schriften deckt, um so reicher ist das in diesem Denkwerk Ungedachte«17. Diese Unabgeschlossenheit, diese potenziell unbegrenzte Deutbarkeit liegt im Werk Adornos vor; sie ist es auch, die eine Reaktualisierung der Negativen Dialektik immer wieder antreibt.
2. Die Grundidee der Begriffskritik
Aufs Ganze gesehen ist die Negative Dialektik ein Schwarzbuch des tradierten philosophischen Denkens – weil sie dessen Zwang zum System aufkündigt, aber auch, weil sie dem katastrophalen Ereignis des 20. Jahrhunderts philosophisch Rechnung trägt. Wie? Indem sie der Willkür des begrifflichen Identifizierens, dem Identifikationszwang im Denken das widerständige Motiv des Nichtidentischen entgegensetzt. Entgegen jeder philosophischen Ontologisierung des Seienden insistiert sie auf der Singularität des Seienden, bevor es im identifizierenden Begriff seine Eigenart, seine Individualität verliert. Epistemologisch gesehen ist die Negative Dialektik eine radikale Erkenntniskritik: Sie will die begriffliche Subsumtion des Einzelnen, seine Singularität unter ein Erkenntnisschema, aufgehoben wissen. Mit anderen Worten: »Adorno will zeigen, daß Erkenntnis, die diesen Namen verdient, mehr ist als nur regelgeleitete Unterordnung von Sinnen- und Gedankenmaterial unter die logische Systematik«18. Im argumentativen Zentrum dieser radikalen Erkenntniskritik steht zwar eine Kritik des identifizierenden